Freitag, 3. November 2023

Bücherliste Oktober 2023

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: 19. Jahrhundert, TV, Faschismus

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -

Bücher

Alan Sepinwall/Matt Zoller Seitz - TV (the Book). Two Experts Pick the Greatest American Shows of All Time (Hörbuch)

 Die Frage nach der größten Serie aller Zeiten ist eine, die einschlägige Kreise beständig beschäftigt. Wie die beiden Autoren des vorliegenden Buches bereits in ihrem Vorwort deutlich machen, gibt es dieselbe Debatte für Filme bereits sehr viel länger, genauso wie es für Filme auch einen wesentlich größeren Fundus an Analysen, Rezensionen und Debatten gibt. Alan Sepinwall und Matt Zoller Seitz sind vermutlich die beiden bekanntesten TV-Kritiker überhaupt und haben sich zusammengetan, um eine Art Kanon der 100 besten Serien zu schreiben. Das ist natürlich ein reichlich vermessenes Unterfangen, weswegen die beiden es auch als eine Einladung zur Debatte verstanden haben wollen.

Zu Beginn stellen Sie ihre Metrik vor. In sechs Kategorien haben beide Autoren jeweils maximal 10 Punkte vergeben, so dass jede Serie maximal 120 Punkte haben kann. Beide diskutieren auch die Problematik von Punktewertungen für Kunst, entscheiden sich aber letztlich dafür, weil es einerseits aus ihrer Perspektive heraus nur bestehende Gefühle quantifiziert und andererseits die einzige Möglichkeit ist, die lästige Frage zu klären, welche denn nun die größte Serie aller Zeiten ist. Berücksichtigt wurden nur amerikanische Serien (weil die Autoren sich für andere nicht kompetent genug fühlen), solche die abgeschlossen sind (mit wenigen Ausnahmen wie den Simpsons oder South Park, die lange genug laufen) und nur solche, die fiktional sind. Die verwendeten Kategorien sind Innovation, Einfluss, Konsistenz, Performance (der Schauspieler*innen), Erzählung (Qualität der Drehbücher) und „Peak“ (wie gut war die jeweilige Serie verglichen mit dem Rest).

Die Autoren laufen direkt in ein Problem: Platz 1 hat 5 Titel mit insgesamt 112 Punkten. Das 1. Kapitel ist daher eine verschriftlichte Debatte zwischen den beiden, die zwischen den Simpsons, The Wire, The Sopranos, Cheers und Breaking Bad entscheiden muss. Breaking Bad und Cheers Scheiben vor allem im Vergleich mit den Sopranos und den Simpsons aus, weil beiden Autoren klar ist, dass sie hier nicht gewinnen können. Wesentlich schwieriger ist die Frage nach dem Spitzenpunkt: für eine Weile läuft die Debatte zwischen den Sopranos und The Wire, die beide ihre Argumente haben (die Sopranos vor allem wegen des Peaks, also der Höhepunkte und der Überraschungen, The Wire wegen seiner epische Breite), doch dann gelingt es Sepinwall, Seitz davon zu überzeugen, das den Simpsons der erste Platz gebührt, weil es so viele unterschiedliche Dinge ausprobiert und so wegweisend war. Allein wegen des kontroversen Endes bekommen dann die Sopranos den zweiten Platz.

Im Folgenden erhalten die meisten Serien ihr eigenes Mini-Essay; einige werden allerdings, wenn es sich thematisch anbietet, zusammengelegt. Die Essays werden zudem grob in mehrere Kategorien sortiert: so finden sich etwa die ersten zehn Plätze in einer eigenen Ranggruppe, die folgenden zwanzig als zeitlose Klassiker definiert und so weiter. Als Auflockerung finden sich immer wieder kleine Listen, etwa die Frage, wer den besten Schnurrbart hatte, die beste Frisur, den coolsten Namen und so weiter. Diese Listen empfand ich als eher nutzlos, weil mir zum einen in vielen Fällen der Kontext fehlte und zum anderen keinerlei Erklärung für die Einordnung gegeben wird. Ihren humoristischen Wert verloren sie daher für mich.

Die Essays selbst sind qualitativ sehr hochwertig. Auf vergleichsweise kleinem Raum versuchen die Autoren, stets das Besondere und Bahnbrechende an der jeweiligen Serie hervorzuheben und gleichzeitig ein Gefühl dafür zu geben, um was es sich eigentlich handelt. Hierzu werden auch immer wieder ikonische Zitate eingestreut oder auf ebenso ikonische visuelle oder strukturelle Merkmale verwiesen. Die Autoren haben dabei eine schwierige Gratwanderung zu bestehen: einerseits müssen die Essays einen Wert für jemanden haben, der die fragliche Serie sehr gut kennt, andererseits aber auch zugänglich genug sein, um dem Anspruch gerecht zu werden, für alle einen Kanon zu definieren. Zudem können sie natürlich nicht auch nur ansatzweise Vollständigkeit erreichen, weil über jede Serie grundsätzlich ein eigenes Buch geschrieben werden könnte (und von beiden Autoren in diversen Fällen ja auch wurde).

Insgesamt gelingt dieser Spagat den Umständen entsprechend halbwegs gut. In manchen Fällen fiel es mir deutlich leichter zu verstehen, was die Anziehungskraft der jeweiligen Serie während ihrer Laufzeit ausmachte, obwohl ich sie nicht gesehen habe; in anderen Fällen bekam ich ein warmes Gefühl des Wiedererkennens im Bauch und nickte zustimmend. Es gibt allerdings auch die Fälle, in denen man den jeweiligen Essay liest und sich danach genauso schlau wie vorher fühlt. Ob das daran liegt, dass mir jeglicher Kontext für die jeweilige Serie fehlt oder dass das Essay einfach anders geschrieben ist, ist nicht leicht zu beantworten.

Ich gehe allerdings davon aus, dass meine spezifischen Vorlieben hier eine gewisse Rolle spielen. Wo ich mit dem jeweiligen Gegenstand oder dem Genre eine Serie nicht viel anfangen kann, sind die Begeisterungsstürme der Autoren an mich verschwendet. Nur ein Beispiel: die Auflistung der verschiedenen Todesarten von Kenny in der Serie South Park mögen Fans der Serie allein schon ein Lachen abringen. Ich konnte mit South Park nie viel anfangen, weswegen wir entsprechend diese Sektion auch nichts gibt. Die rein inhaltlichen Erkenntnisse, etwa die Surrealität oder die primitiven Zeichnungen sowie die absolute Rücksichtslosigkeit im Humor waren mir ja bereits vorher bekannt.

Mein größtes Problem allerdings dürfte sein, dass ich mit einem kompletten Genre nichts anfangen kann: ich bin einfach kein Fan von Comedy. Ich habe es immer wieder versucht: ob How I Met Your Mother, Community, Big Bang Theory oder andere - nie hat es für mich geklickt. Das Macht für mich die Hälfte des Buches auf eine gewisse Art problematisch, weil ich die grundsätzliche Prämisse der Autoren von der Gleichrangigkeit von Comedy und Drama schlicht nicht teilen kann. Letztlich sind all diese Trennungen ja auch arbiträr: die Autoren ließen schließlich Talkshows oder Dokumentarserien aus ihrer Auflistung heraus, obwohl man sicher in einem Pantheon großartige Serien Charles Sagans „Kosmos“ mit auflisten könnte. Das ist natürlich eine rein persönliche Vorliebe, aber ich hätte es bevorzugt, einen Kanon ausschließlich von Dramaserien zu lesen, schlicht, weil dies meinen persönlichen Präferenzen entspricht.

Ebenfalls bedenkenswert ist das Alter des Buchs. Es entstammt dem Jahr 2015 und ist daher auf vielerlei Art und Weise veraltet. Dies betrifft nicht nur offensichtlich solche Serien, die damals noch nicht abgeschlossen waren oder noch in ferner Zukunft lagen (es ist irgendwie unterhaltsam, die Autoren über eine mögliche 3. Staffel von Twin Peaks sprechen zu hören). Es betrifft auch bestimmte Themenbereiche. So thematisieren die beiden bei dem Eintrag über die Bill Cosby Show ausführlich, inwieweit es überhaupt noch möglich ist, deren kulturelle Errungenschaften zu loben, da Crosby zum damaligen Zeitpunkt bereits als zigfacher Sexualstraftäter entlarvt war. Diese Problematik hat sich mittlerweile noch auf viele andere Bereiche ausgeweitet; man denke nur an House of Cards (Kevin Spacey) oder Buffy the Vampire Slayer (Joss Whedon).

Die beiden können diese Frage natürlich auch nicht abschließend klären. Aber der Umgang mit geänderten Informationen ist hier nur ein Teil dieser Problematik. Ein anderer betrifft veränderte gesellschaftliche Vorstellungen. Gerade bei älteren Serien thematisieren die Autoren immer wieder, dass zwar sexistische oder rassistische Topoi vorkommen, die aus heutiger Sicht mehr als problematisch sind, erklären dann aber, halb entschuldigend, dass eine Spur von Traurigkeit oder unterschwellige Kritik dabei gewesen sei. Das mag natürlich sein; trotz allem ist ein davon unberührter Genuss natürlich genauso wenig möglich wie bei den alten James-Bond-Filmen.

Dies führt aber zu einer kulturellen Problematik, die in der Struktur des Buches angelegt ist. Jedes Werk, das auf diese Art und Weise einen Kanon zu erstellen versucht, sieht sich dem Problem ausgesetzt, dass ist einerseits würdigen muss, wenn irgendwo neue Maßstäbe geschaffen und gänzlich Neues ausprobiert wurde, wenn also ein Werk stilbildend war. Gleichzeitig bedeutet das allerdings nicht, dass ist aus heutiger Perspektive noch unseren Ansprüchen genügt. So sind etwa Citizen Kane oder Sunset Boulevard sicherlich für die Entwicklung des Films ebenso entscheidende Wegmarken wie Spartacus oder Dirty Harry. Sie sind allerdings deswegen nicht zwingend gleichwertig mit heutigen Zuschauerfahrungen. So war „I love Lucy“ sicherlich für das Genre der Comedy ein entscheidender Wegstein; ob man es schon allein aus technischen Gründen heute noch mit Genuss ansehen kann, darf indessen bezweifelt werden. Auch hier frage ich mich, ob eine Unterteilung in historisch relevante Wegmarken und für ein heutiges Publikum immer noch herausragender Werke nicht sinnvoller wäre. Mir ist natürlich bewusst, dass jedem echten Cineasten allein bei dieser Vorstellung der Hut hochgeht.

Das Buch ist an dieser Stelle allerdings noch nicht zu Ende. Die Autoren schließen eine Aufstellung von „Works in Progress“ an, also Serien, die 2016 noch nicht abgeschlossen waren, aber ein gewisses Potential zeigten. Die Trefferquote der Autoren ist hier durchaus beachtlich, wenngleich ich die Abfertigung von „Halt and Catch Fire“ in nur einem Satz beinahe kriminell finde.

Nein diese Betrachtung schließt sich ein kürzerer Teil an, der die so genannten Miniserien behandelt. Darunter fallen solche Klassiker wie Roots, Band of Brothers oder Find Me A Hero. Die Miniserie hat eine wechselhafte Geschichte durchgemacht. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren war sie auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit, kann aber durch ihre geringen Produktionswerte heute üblicherweise nicht mehr konkurrieren. Auffällig sind vor allem die frühen 2000er Jahre, in denen HBO gigantische Budgets in Prestigeprojekte wie „John Adams“ oder eben „Band of Brothers“ steckte, die wie eine Art Vorbote des Goldenen Zeitalters der Fernsehserie erscheinen müssen.

Den Abschluss des Buches macht eine Betrachtung von für das Fernsehen adaptierten Theaterstücken - allen voran natürlich „Die 12 Geschworenen“ - sowie eine Reihe von TV-Filmen, also solchen Filmen, die wie Steven Spielbergs Erstlingswerk „The Duel“ die im Kino bei einem geringeren Budget Konkurrenz machen sollten. Die Autoren thematisieren dies zwar nicht, aber dies ist eine Art der Unterscheidung, die seit 2016 durch den kometenhaften Aufstieg der Streamingdienste ebenso arbiträr wie überflüssig geworden ist.

Insgesamt leidet das Buch unter seinem mittlerweile etwas fortgeschrittenen Alter: gerade in einem Bereich wie TV-Serien, indem die letzten Jahre massive Verwerfungen gesehen haben, ist der Schlusspunkt 2016 ein inhärentes Problem. Meine Probleme mit der Struktur des Buches habe ich ja bereits beschrieben. Trotzdem lohnt die Lektüre schon allein deswegen, weil der Markt noch relativ dünn ist und eine Kanonisierung und Strukturierung der Debatte nur helfen kann. Eine letzte Anmerkung: ich habe das Hörbuch gehört, das von den beiden Autoren selbst gelesen wird. Es ist wie immer Geschmackssache, aber ich finde Sepinwall keinen sonderlich angenehmen Erzähler, im Gegensatz zu Seitz.

John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Hörbuch)

Besonders unter amerikanischen Linken ist es derzeit leider Mode geworden, den Faschismusbegriff inflationär gegen politische Gegner einzusetzen. Gleichzeitig sind Mächte im Aufstieg, die nur noch als protofaschistisch zu beschreiben sind, während in Italien eine Regierung fleißig an der Rehabilitation Mussolinis arbeitet. Es macht daher Sinn, sich mit dem historischen realen Phänomen des Faschismus auseinanderzusetzen und es besser zu verstehen. Den Anspruch, hierzu beizutragen, hat das vorliegende Werk von John Foot. Er möchte die Realität des Faschismus im Alltag der Italiener*innen begreiflich machen, statt eine Art verkappte Biografie Mussolinis zu schreiben. Dieser Anspruch gefällt, weil die systemischen Ursachen deutlich relevanter sind als die in der Person liegenden.

Die Erzählung beginnt 1911 mit einem Anschlag. Als italienischen Soldaten befohlen wird, sich nach Libyen aus zu Schiffen um dort für Italien ein Kolonialreich zu erobern, weigerte sich ein Soldat auf die spektakulärstmögliche Weise, indem er sein Gewehr von der Schulter nahm und einen Schuss auf seinen Oberst abgab. Das Militär versucht die Peinlichkeit später zu vertuschen, indem es den Attentäter als geisteskrank abqualifizierte, anstatt ihn zu exekutieren, während die Linke in einem Märtyrer für die gerechte Sache machte. die Episode wirft in jedem Fall ihre Schatten auf die Zukunft voraus.

Nach dieser gefühligen Einstimmung wendet sich Foot dem Thema der Gewalt zu. Im Juni 1914 brach eine Rebellion in weiten Teilen Italiens aus, die aus einem Generalstreik herrührte und für eine Woche das Leben im Land praktisch lahmlegte bevor die Gewerkschaften schlicht den Sieg deklarierten und die Arbeiter nach Hause schicken. Für die Linke bewies dass die Schlagkraft des Instruments Generalstreik, die sich in der Realität nie wiederholen ließ, für den gesamten Rest die eklatante Gefährlichkeit der Linken.

Der Erste Weltkrieg war ein unglaublich polarisierendes Ereignis für die italienische Gesellschaft. Er rief viel Widerstand hervor, viel mehr als etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Deswegen war die Militärdisziplin innerhalb der italienischen Armee auch wesentlich harscher als in praktisch jeder anderen beteiligten, mit deutlich mehr Todesurteilen, Strafbataillonen und ähnlichem. Auch die Durchsetzung militärischer Disziplin basierte auf wesentlich drakonischeren und deutlich schneller angewendeten Strafen als in vielen anderen Armeen. Dass die italienische Armee im Ersten Weltkrieg zudem eine furchtbare Performance ablieferte und selbst gegen die österreichische Armee nicht bestehen konnte, half in dieser Situation wenig.

Sowohl die Sozialisten als auch die Rechtsradikalen zogen aus dem Krieg ihrer eigenen Helden. Für die Sozialisten waren dies aufrechte Pazifisten, die den Kriegsdienst verweigerten oder protestmaßnahmen organisierten, wä rend auf Seiten der Rechten auf der einen Seite die elitären Sturmtruppen und auf der anderen Seite solche Offiziere besonders hervorgehoben wurden, die mit harschen Maßnahmen - in der italienischen Armee kamen offizielle Dezimierungen systematisch vor! - die Disziplin aufrechterhielten. Diese Polarisierung führte einerseits zu einer Klärung von politischen Lagern, andererseits aber auch zu politischen Wechseln. Der folgenreichste dieser Wechsel war der von Mussolini von einem erklärten Gegner zu einem fanatischen Unterstützer des Krieges, der zu seinem Ausschluss zuerst aus der sozialistischen Zeitung Avanti und dann aus der Partei führte und ihn von ganz links nach ganz rechts zu der frühen faschistischen Bewegung führte. Was diesen Wandel in Mussolini auslöste, wird von Foot allerdings nicht erklärt.

Der Krieg endete zwar mit einem Sieg Italiens, aber bei weitem nicht mit dem Erreichen der gesteckten Kriegsziele. Dieser „verstümmelte Sieg“ (vittoria mutilate) bestätigte beide Seiten in ihrer jeweiligen Haltung: die Sozialisten waren noch überzeugter, dass ihr Widerstand gegen einen sinnlosen Krieg gerechtfertigt war, während für die Rechten in genau diesem Widerstand der Grund für die Niederlage lag. Direkt nach dem Krieg war es die Linke, die sich durchsetzen konnte. Bei den Wahlen 1919 fuhr sie einen großen Sieg ein und die weite Unzufriedenheit brach sich in Streiks und Demonstrationen bahn. Immer wieder kam es zu vereinzelten Aufständen, vorher exilierte Berufsrevolutionäre kehrten unter großem Medienecho zurück und die Arbeiter erreichten ähnliche Erfolge wie in anderen Ländern auch, vor allem Lohnsteigerungen und die Einführung des Achtstundentages.

Die Stimmung schwankte beständig zwischen der Erwartung einer Revolution und einer permanenten Bereitschaft zu Protesten auf der Straße und einem Zurückschrecken vor dem Ernstmachen der eigenen revolutionären Rhetorik. Immer wieder entschlossen sich linke Führer, ihre eigenen Anhänger zurückzuhalten und eine Revolution doch nicht durchzuführen. In einer besonderen Farce gab es sogar an einem Punkt eine offizielle Abstimmung, ob man eine Revolution durchführen wolle oder nicht, die mit einer Entscheidung dagegen endete. Die „Roten Jahre“ 1919/20 Endeten mit einem deutlichen Verlust von Initiative und Schwung auf Seiten der Linken. Doch entscheidend war, dass vor allem das Bürgertum zu dieser Analyse völlig unfähig war und sich in eine Art kollektive Hysterie steigerte, in der es eine absurde Furcht vor den Linken und vor linker Gewalt hatte, die sich zwar real seltenst manifestierte, aber in der Imagination sowohl der Linken selbst als auch der Bürgerlichen permanent präsent war. Aus dieser hysterischen Dauerfurcht er wuchs ein brennender Wunsch nach „Ordnung“ in irgendeiner Form.

Das Jahr 1919 sah auch die offizielle Gründung der faschistischen Bewegung. Sie bestand hauptsächlich aus Schlägertrupps, die sich als squadristi bezeichneten, eine bewusste Anlehnung an die elitären Sturmtruppen des Ersten Weltkrieges. Sie enthielten auch viele Veteranen des Krieges, wie die deutschen Freikorps allerdings auch diverse Cosplayer. Im Gegensatz zu den linken „Revolutionären“ machten die Faschisten von Anfang an ernst mit ihrer gewaltsamen Rhetorik: sie attackierten vor allem Gewerkschaftseinrichtungen und bekannte Linke. Ihre Rhetorik war allerdings nicht revolutionär, sondern behauptete ständig, man wolle „die Ordnung wiederherstellen“. Besonders im Süden fiel ihnen dies sehr leicht, weil sie personell und strukturell mit den Mazzieri verschmolzen, Schlägertrupps der Landbesitzer (bewaffnet mit einem eisenbeschlagenen Knüppel, der mazza), mit denen diese traditionell die Landbevölkerung terrorisierten und damit die Machtverhältnisse stabil hielten. Gewalt war im italienischen Gesellschaftssystem ein integraler Bestandteil, weswegen anders als etwa in Deutschland der Faschismus diese nicht zuerst etablieren musste.

Die Gewalt gegen die Linken war dabei meistens nicht tödlich, sondern zielte auf deren Einschüchterung und Demütigung ab. Neben der Rhetorik von Ordnung Relativierten die Faschisten ihre Gewalt daher permanent, indem sie sie als eine Art Streich oder Scherz darstellten. Sie sprachen über Ihren Terror, als wäre alles nur ein großer Spaß und inszenierten ihn auch entsprechend. Dies erlaubte dem Staat und dem Bürgertum, die massive real existierende Gewalt anders als die überwiegend rhetorische seitens der Linken auszublenden. Die Faschisten dokumentierten ihre Gewalt auch fotografisch, indem sie Gruppenfotos vor und nach der Tat aufnahmen und so das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Diese Gewalt nahm ab 1920 massiv zu und löste so die „Roten Jahre“ mit den „Schwarzen Jahren“ 1920/21 ab.

In diesen Jahren systematisierten die Faschisten ihre Gewalt gegen linke Amtsträger und Gewerkschafter mit dem Ziel, diese aus ihren Machtpositionen zu vertreiben. Immer wieder schlugen linke Gruppen zurück und versuchten ihrerseits Gewalt gegen die Faschisten auszuüben, aber ohne übergeordnete Organisation blieben dies stets vereinzelte Maßnahmen, die stets einen großen Backlash hervorriefen, weil die Staatsmacht sie im Gegensatz zur rechten Gewalt unnachgiebig verfolgte und weil sie die Legitimation der Faschisten zu bestätigen schienen: wann immer die Linken zurückschlugen, war dies ein Beweis für die Rechtmäßigkeit der faschistischen Gewalt, die sich als Verteidiger der Ordnung inszenierte. Die Faschisten inszenierten ihre Gewalt zudem als eine offene und ehrliche, ehrenhafte Gewalt, die direkt mit dem Krieg assoziiert wurde, während sie linke Gewalt als hinterhältig charakterisierten und die Linken selbst als Deserteure bezeichneten, die ihr Vaterland verraten hätten.

In diesen „Schwarzen Jahren“ (nach der offiziellen Uniform der Faschisten, dem schwarzen Hemd) verschmolzen die Squadristi, die Polizei (Carabinieri) und das Militär immer mehr miteinander. Eine Art Auslöser hierfür war ein linker Anschlag auf zwei Militärlastwagen, die Matrosen zu einer Niederschlagung eines Streiks befördern sollten. Diese Militärlastwagen wurden von den Faschisten bei ihren eigenen Gewaltoperationen permanent verwendet, weswegen die Linken der Überzeugung waren, es mit Faschisten zu tun zu haben. Die ermordeten jungen Matrosen schienen alle Vorurteile gegenüber den Linken zu bestätigen und gaben erstklassige Märtyrer für den Faschismus ab, der nun endgültig mit den exekutiven Kräften verschmolz: immer öfter beteiligten sich Polizei und Militär an den Terroraktionen der Faschisten.

Auf diese Art und Weise „säuberten“ die Faschisten ganze Landstriche: in der Nacht umstellten sie das Haus eines Gewerkschaftsfunktionärs oder linken Amtsträgers, ermordeten oder entführten ihn, folterten ihn und zwangen ihn zur Aufgabe seines Mandats. Durch diese methodische „Säuberung“ existierte in vielen Regionen bald keinerlei demokratisch gewählte Regierung mehr. Die Faschisten ihrerseits inszenierten sich als legitime Regierung, indem sie ihre Terrorakte durch offizielle Proklamationen legitimierten, die seitens der Regierung stellen schlicht akzeptiert wurden.

Der Höhepunkt dieser Taktik wurde 1921 erreicht. Trotz massiver Einschüchterung und Unterdrückung gewannen die Sozialisten den größten Anteil der Mandate. Zum ersten Mal waren die Faschisten mit einigen Abgeordneten offiziell im Parlament vertreten. Sie brachten die Gewalt direkt ins Parlament: gewaltsam warfen sie einen Wortführer der Linken heraus und verwehrten ihm und anderen den Zutritt. Die Polizei unterstützte sie dabei und die Liberalen im Parlament gaben der Operation ihren Segen und akzeptierten die faschistische Argumentation, dass der Amtsträger durch seinen Widerstand gegen den Krieg als Vaterlandsverräter gesehen werden müsse. Dieser krasse Verstoß gegen die Ergebnisse einer demokratischen Wahl, die parlamentarische Immunität und jegliche verfassungsmäßige Ordnung war der wohl größte Sündenfall, der die italienische Demokratie de facto tötete.

Der reale Tod folgte kurz darauf. Die Faschisten machten sich daran, ermutigt durch ihre Erfolge und den geringen Widerstand, die Zentren der Sozialisten auszuschalten. Besonders Ravenna hat es Ihnen hier angetan, schon allein, weil die Stadt der Ort der „Roten Woche“ 1914 mit ihrer Gegnerschaft gegen den Krieg war. In einer „Schwarzen Woche“ tilgten die Faschisten in die Erinnerung an das Ereignis genauso aus wie die sozialistischen Machtstrukturen.

Was soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, von den Linken sei keine Gewalt ausgegangen. Die in Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten gespaltene und sich gegenseitig erbittert bekämpfende Linke agierte nur weder so planmäßig noch so propagandistisch geschickt wie ihre Gegner. Ein Beispiel hierfür ist ein anarchistischer Terroranschlag auf ein bourgeoises Theater. Das Ziel war symbolisch und richtete sich gegen den Klassenfeind, sodass sicher davon ausgegangen werden kann, den kompletten Start und die maximal mögliche Breite der Gesellschaft gegen sich zu mobilisieren. Im Prozess inszenierten sich die Täter desinteressiert, während die Familien der Opfer ihre Leidensgeschichten zum Besten gaben, und hielten große Reden von der kommenden Revolution. Die Faschisten indes erklärten die Opfer zu Märtyrern und schworen Rache im Namen der Liberalen Gesellschaft, die sie in Wirklichkeit genauso verachteten.

1922 erfolgte dann die Abschlussaktion der Faschisten. Sie vernichteten planmäßig weitere linke Zentren, wobei sie immer offener Hand in Hand mit Polizei, Justiz und Militär arbeiteten. In den Orten, in denen sie die Linke zerschlagen hatten, übernahmen sie danach direkt selbst die Macht und zerschlugen so auch die liberale Demokratie. Widerstand seitens des Bürgertums gab es keinen. Die eigentliche Machtübernahme, der „Marsch auf Rom“, war dann in Wirklichkeit kein Marsch, sondern ein Trip per Eisenbahn, während Mussolini von einem Hotel in Milan aus Befehle per Telegraph erteilte. Ein letztes Mal versuchte ein Liberaler, Widerstand zu leisten: er legte dem König einen Befehl zur Erklärung des Ausnahmezustands vor, so dass das Militär die Faschisten aufhalten würde. Die Militärs selbst erklärten, dass sie dies selbstverständlich tun könnten, die Regierung allerdings nicht das Risiko einer Meuterei auf sich nehmen solle. Der König lehnte die Erklärung ohne ihn ab.

Daraufhin war der Weg für Mussolini frei. Die Faschisten fielen in Rom ein und nahmen furchtbare Rache an ihren Gegnern. Wie immer wurden Häuser angezündet Besitztümer geplündert und Personen schwer verletzt oder ermordet. Wieso häufig stand die Polizei daneben und tat nichts oder beteiligte sich gleich an dem Terror. Mussolini wurde zum Premierminister erklärt und hielt seine erste Rede im Parlament: es war eine unverhohlene Drohung. Wer sich ihm in den Weg stellte, würde totgeprügelt.

Die Squadristi indes wurden, sofern sie bisher belangt worden waren, in einer Generalamnesie freigesprochen. Diese definierte sämtliche faschistischen Gewalttaten als patriotisch, während sämtliche linke Gewalttaten als anti-italienisch definiert wurden. Damit war auch jede weitere Gewalt der Faschisten legitimiert. Die Squadraisti wurden legalisiert und entweder in bestehende Verbände eingegliedert oder direkt in die neuen Parallelorganisationen, eine staatliche Miliz, überführt. Solche Parallelorganisationen wurden um die neue faschistische Partei herum auf allen Ebenen aufgebaut und stellten die Basis für Mussolinis Machtübernahme dar.

1923 zeigte sich, dass die Demokratie auch im offiziellen Wahlprozess erledigt war: die Faschisten gewannen die letzten Kommunal- und Regionalwahlen bis 1945 schon allein, weil ihre Gegner durch die massive Terrorkampagne gar keine Kandidaten mehr aufstellten. Nach den letzten Wahlen überhaupt - 1924 - wurden sie allerdings übermütig: ein bekanntes Mordkommando ergriff auf offener Straße den sozialistischen Abgeordneten Matteoti und ermordete ihn, was zu einem Proteststurm führte, der die letzte große innenpolitische Krise des Regimes bis zur Wende im Krieg darstellte.

Mussolini selbst nutzte sie, um seine Macht zu sichern. Er übernahm die volle politische Verantwortung für den Mord, was ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr schaden konnte, und er ist damit die Macht innerhalb der faschistischen Bewegung komplett an sich. Danach überzog eine Welle von Schauprozessen Italien. Zu Hunderten wurden Systemgegner oder irgendwelche anderen Leute, die in irgendeiner Art und Weise unerwünscht waren, vor Tribunalen abgeurteilt, die mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts mehr zu tun hatten.

Gleichzeitig schrieb der faschistische Staat seine eigene Geschichte neu um. Gehörten aufwendige Bestattungen früher schon zu Ikonographie des Faschismus, wurden nun Bücher herausgegeben, die die Märtyrer der Bewegung offiziell adelten und gleichzeitig eine Art hagiographische Geschichtsschreibung darstellten, in der alle Gewalt von Linken ausging und Faschisten nur als ihre Opfer dastanden - während die Rhetorik gleichzeitig unnachgiebig gewalttätig blieb.

Die Verfolgung von Systemgegnern ging weit über die Zerstörung deren Fähigkeit zur Opposition hinaus. So wurden am Jahrestag des Marsch auf Rom politische Gefangene in den Gefängnissen rituell verprügelt und selbst exilierten Systemgegnern, die zur Unterwerfung bereit waren, häufig genug keine Möglichkeit zur Rückkehr geboten. Wo die Faschisten dies zuließen, war es nur durch öffentliche Demütigung möglich, indem die Betroffenen in der Sprache der Faschisten ihren Irrtum eingestanden und um Gnade baten.

Dadurch existierte in den späteren 1920er Jahren keine interne Opposition mehr. Da der Faschismus aber vom beständigen Kampf gegen andere lebte, suchte er neue Ziele. In den frühen 1930er Jahren fand er diese in den Juden, für die nun eigene Rassengesetzgebung eingeführt wurde, die genauso inkonsistent und albern und dennoch für die Betroffenen zerstörerisch wie in Deutschland war. Es gibt zahlreiche Mythen um diese antisemitische Verfolgungspolitik, etwa dass der italienische Faschismus gar nicht rassistisch gewesen sei oder dass Italo Balbo irgendwie versucht hätte, sie aufzuhalten. All das ist Unfug. Zwar war der italienische Antisemitismus nicht so mörderisch wie der deutsche, aber die Juden wurden auch in Italien verfolgt, weit bevor die Deutschen die Kontrolle übernahmen.

Die Manie der Faschisten mit der Eroberung eines Imperiums fand ihren Niederschlag auch in der Geschichtsschreibung, die eine direkte Linie vom Krieg in Libyen 1912 über den Ersten Weltkrieg zur faschistischen Gewalt und in die Zukunft zog, in der Mussolini Italien ein Imperium zu erobern gedachte. Das erste Ziel war Äthiopien, das 1896 der italienischen Armee eine schmerzliche Niederlage zugefügt hatte, die es nun auszumerzen galt. Mit brutaler Gewalt, Giftgas und Genozid marodierte die italienische Armee durch Äthiopien und eroberte das Land.

Eine rassistische Ideologie bot die Grundlage für die Unterdrückung der dortigen Bevölkerung (selbstverständlich garniert mit der üblichen kolonialistischen Rhetorik von der segensreichen aufgeklärten Regierung fortgeschrittener Europäer über hinterwäldlerische Barbaren) und den Squadristi ein neues Aktionsfeld.

Die Faschisten schafften es hervorragend, die italienische Bourgeoisie und den Papst sowie den König für sich zu gewinnen. Letzterer, der durch seine Verweigerung der Unterschrift unter den Befehlen, sie aufzuhalten, den Marsch auf Rom überhaupt erst möglich gemacht hatte, setzte dieselbe Unterschrift bereitwillig unter sämtliche Dekrete Mussolinis, die die Juden und andere Gruppen diskriminierten, verfolgten und bedrohten. Innerhalb der faschistischen Bewegung selbst gab es keinerlei Opposition oder Widerstand, und auch aus dem Bürgertum war nichts zu erwarten.

Auffallend war, das ist den Faschisten nicht gelang, die Arbeiterklasse für sich einzunehmen. Foot Erklärt, dass das Regime 1939 bereits auf dem absteigenden Ast gewesen sei: die Dauermobilisierung war unbeliebt und die Arbeiterklasse immer noch feindlich gegenüber der Bewegung. Als Mussolini 1940, seiner außenpolitischen Souveränität mittlerweile durch seine eigene verfehlte Politik praktisch beraubt, Hitler in den Krieg folgte, war die italienische Bevölkerung innerlich bereits auf dem Weg weg vom Faschismus.

Dies zeigte sich vor allem beim Arbeiteraufstand von Turin 1943. Es war der erste große Streik seit den Niederschlagungen 1922. Die offene Ablehnungsbekundung seitens Hunderter von Menschen war wie eine Art Dammbruch. Mussolinis Fall kam dann allerdings aus völlig unerwarteter Ecke: ausgerechnet die ihm hörige Parallelinstitutionen des Faschistischen Rats verweigerte ihm den Gehorsam, seine Paladine lockten ihn in die Falle und der König ließ ihn verhaften. Dass der einstig schier gottgleiche Diktator wie ein gewöhnlicher Krimineller von der Polizei abgeführt werden konnte, zerstörte seinen Mythos nachhaltig. Italien er erklärte einen Waffenstillstand gegenüber den Alliierten und schied offiziell aus dem Krieg aus.

Für die Italiener begann der wahre Horror jetzt erst: die deutsche Wehrmacht marschierte in Italien ein und ein langer, zäher und blutiger Krieg begann. Dieser wandelte sich auch gleich in eine Art Bürgerkrieg: antifaschistische Widerstandsgruppen organisierten sich und kämpften gegen ihre einstigen Feinde, die einmarschierenden alliierten Truppen nahmen besonders im Fall der französischen Armee Rache für frühere italienische Gräueltaten, die Wehrmacht beging zahlreiche Kriegsverbrechen und die offiziellen italienischen Stellen steckten mittendrin und führten ihren eigenen Parallelkrieg. Dazu kam die Operettenrepublik des von den Deutschen befreiten Mussolini, die im Norden Italiens ein eigenes faschistisches Terrorregime aufrechterhielt.

Ein größeres Drama aber stellte der italienische Holocaust dar. 1943 wurde auf Grundlage der in den 1930er Jahren erlassenen Rassegesetze begonnen, die Juden zu deportieren und zu ermorden. Wie in so vielen Ländern Europas gelang dies vor allem wegen der Kooperation der einheimischen Institutionen und Bevölkerung. Die Italiener pflegten nach dem Krieg den Mythos zahlreicher Helden, die Juden das Leben retteten, auch hier wieder ähnlich zu vielen anderen europäischen Ländern. Ein sehr großer Teil dieser Mythen hat sich allerdings genau als das erwiesen: Mythen. Historische Forschungen in den letzten 20 Jahren haben allzu oft ergeben, dass entweder viel weniger oder gar keine Rettungen stattgefunden hatten. Stattdessen hatte es viel Kollaboration und Bereicherung gegeben. Alles in allem kein Ruhmesblatt für die Italiener.

Der Fall des faschistischen Systems brachte eine Welle der Gegengewalt mit sich: die Partisanen und ehemaligen Widerstandskämpfer, die unterdrückten Sozialisten und in wenigen Fällen einige der überlebenden Juden nahmen grausame Rache an den Faschisten. Das Ende des Faschismus brachte natürlich nicht das Ende der Faschisten. Der Umgang mit ihnen stellte die italienische Gesellschaft vor dieselben Probleme, die auch die Deutsche mit den Nazis hatte. Der Seitenwechsel Italiens auf die Seite der Alliierten erschwerte die Sache zusätzlich; ein Äquivalent zu den Nürnberger Prozessen gab es nicht. In den seltenen Fällen, in denen ehemalige Faschisten tatsächlich für ihre Schandtaten verurteilt wurden, kamen sie üblicherweise schnell wieder frei; in den meisten Fällen wurden sie mangels Beweisen oder durch Intervention des italienischen Staates gar nicht erst verurteilt.

Ich empfand die Lektüre des Buchs in großen Teilen als frustrierend. Das liegt vor allem an seiner Struktur: einerseits löst Foot sein Versprechen, den Faschismus aus Perspektive der Menschen zu zeigen, nicht wirklich ein; andererseits ist die Schwerpunktsetzung eine sehr merkwürdige, die -  allerdings im Einklang mit dem Titel - praktisch ausschließlich den Aufstieg und den Fall des Faschismus bespricht und die Zeit dazwischen weitgehend auslässt. Da der Einstieg des Buches allerdings explizit mit einer familiären Anekdote gemacht wurde, in der die Großmutter des Autors den Faschismus als eine „großartige Sache“ bezeichnete, hätte man durchaus erwarten können, dass gezeigt wird, woher diese Ansicht kommt. Foot beschäftigt sich aber ausschließlich mit den Proponenten und Gegnern des Systems und nicht mit der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die unter ihm lebten und letztlich keine spezifische Position dazu einnahmen.

Dazu kommt, dass der gewählte Ansatz dazu führt, dass das Buch vor allem aus einer Pastiche biographischer Notizen besteht. Das führt dazu, dass das Ganze weniger ist als die Summe seiner Teile: ich habe in dieser Rezension die Analyse und Schlussfolgerungen weitgehend selbst getroffen; Foot begnügt sich überwiegend damit, (ordentlich recherchierte) Geschichten zu erzählen und aneinanderzureihen. Dieser Ansatz der Personalisierung, der in der angelsächsischen Geschichtsschreibung leider sehr verbreitet ist, wird hier ins Extreme getrieben.

Besonders extrem ist mir dieses Deskriptive aufgefallen, als es um den Fall Mussolinis ging, der ausschließlich als Abfolge von Ereignissen geschildert wird, ohne dass mir klar werden würde, warum Mussolini eigentlich fällt. Zudem fallen einige merkwürdige Leerstellen auf: Graf Ciano etwa wird nur einmal ganz am Rande im Kontext von Mussolinis Fall erwähnt und spielt ansonsten überhaupt keine Rolle. Auch der Kult um Italo Balbo und sein Tod kommen effektiv nicht vor.

Immerhin war die Lektüre insoweit aufschlussreich, als dass sie mir selbst die Bildung von Schlussfolgerungen und Parallelen erlaubte. Ich möchte einige dieser Überlegungen im Folgenden teilen, aber vorher noch einmal klar aussprechen, dass sich davon nichts im Buch findet.

Der Aufstieg des Faschismus erforderte die Kooperation der Liberalen und Konservativen. Dies gilt grundsätzlich für den Aufstieg praktisch aller rechtsradikaler Bewegungen. Ohne diese Kooperation oder doch zumindest das leise Beiseitetreten diese Gruppen wäre es für die Faschisten unmöglich gewesen, die Macht zu ergreifen. Dasselbe gilt für die Sicherheitsapparate: die Faschisten konnten stets darauf vertrauen, dass Geheimdienste, Polizei und Militär auf ihrer Seite waren und sich nicht in den Weg stellen würden, ganz anders als bei den Gewerkschaftlern und den Linksradikalen, die beständig Repression der Staatsapparate ausgesetzt waren.

Es ist auch offenkundig, wie unglaublich bescheuert und kontraproduktiv die Linksradikalen waren: ihre beständigen Bekenntnisse zur Gewalt, ihre Versuche, die Faschisten durch Gewalt zu bekämpfen und ihre revolutionäre Rhetorik waren maßgebliche Faktoren für diese Kooperation. Sie weckten im Bürgertum die Furcht vor einer Revolution nach sowjetischem Vorbild und legitimierten das Messen mit zweierlei Maß durch die Sicherheitsdienste.  Ich bekomme jedes Mal die Krise, ich heutige Linksradikale wie die Antifa für gewaltsamen Widerstand gegen Rechtsextremisten argumentieren sehe. Es hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren.

Hierin findet sich auch die wichtigste Lehre für den Umgang mit dem Rechtsextremismus heute: solange die vielzitierte „Brandmauer“ nach rechts steht, solange die Institutionen treu zu Demokratie und Rechtsstaat stehen, so lange sind wir weitgehend sicher. In dem Moment, indem Liberale und konservative Demokrat*innen mit den Rechtsextremen kooperieren oder ihren Aufstieg zumindest hinnehmen und in denen die Institutionen sich demokratie- und rechtsstaatsfeindlich verhalten, haben wir ein ernsthaftes Problem.

Historisch gesehen ist auffällig, wie stark sich Hitler am Vorbild Mussolinis orientiert hat. Der gescheiterte „Marsch auf Berlin“ 1923 ist hierfür nur das augenscheinlichste Beispiel; auch in den Mechanismen der Herrschaftsausübung, der Koalitionsbildung mit den konservativen Eliten und vielem mehr orientierte sich der Nationalsozialismus sehr deutlich am Faschismus (ohne natürlich seine spezifischen Eigenheiten zu verlieren). Dieses System kommunizierende Röhren führte dann auch zur Übernahme des mörderischen Antisemitismus durch den Faschismus ab 1938.

Auch zum totalitären Stalinismus gibt es Parallelen. Auffällig fand ich hier vor allem das System, das in der kommunistischen Diktatur den Namen der „Selbstkritik“ trägt: die rituelle Demütigung von Systemgegnern in der Öffentlichkeit und die Durchführung von Schauprozessen. Dies sind merkwürdigerweise Elemente, die der Nationalsozialismus so nicht übernommen hat.

Eine letzte Kleinigkeit: die alliierten Bombenangriffe auf italienische Städte hatten zumindest in der Erzählung Foots den erwünschten Effekt, die Moral zu zerstören: die Bombardierungen und ihre Folgen zerstörten die Glaubwürdigkeit und Beliebtheit Mussolini ist nachhaltig und wurden nicht den Alliierten, sondern dem Regime zur Last gelegt. Generell ist auffällig, wie unbeliebt der Krieg in Italien war und wie maßgeblich eher für Mussolinis Sturz ist. Hier ist die Lage völlig anders als in Deutschland oder Japan.

Insgesamt war die Lektüre daher zwar für mich dank der Querbezüge, die ich ziehen konnte, einigermaßen gewinnbringend; auf eine umfassende Darstellung des italienischen Faschismus‘warte ich allerdings noch immer.

Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Als Christopher Bayly 2004 sein Mammutwerk "Die Geburt der Modernen Welt: Eine Globalgeschichte von 1790 bis 1914" vorlegte, rief er damit ein großes Echo hervor. Die Idee einer Globalgeschichte selbst war für viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft außer Mode gekommen und in einer unseriösen Ecke verschwunden, nicht ganz bei kontrafaktischer Geschichtsschreibung, aber doch sehr nahe dran. Bayly allerdings ging mit solcher Sachkenntnis und methodischer Qualität vor, dass sein Werk kaum ignoriert werden konnte und viel diskutiert wurde. Ich habe es seinerzeit gelesen, aber ich muss zugeben, dass es mich damals überforderte. Seither steht es bei mir im Regal und verlangt vorwurfsvoll, noch einmal gelesen zu werden. Dieses Unterfangen ist mit dem Erscheinen von Jürgen Osterhammels ebenfalls nicht unbedingt schlanken Wälzer "Die Verwandlung der Welt" nicht eben nähergerückt. Denn Osterhammel hat 2020 sozusagen seine persönliche Antwort auf Bayly vorgelegt.

Von diesem grenzt er sich im Vorwort auch ab, in dem er auch die Unternehmung der Globalgeschichte selbst verteidigt. Jeder Historiker, jede Historikerin muss zwangsläufig an Grenzen stoßen, wenn ein solch umfrangreiches Werk unternommen wird. Keine Person kann je in einer solchen Tiefe Fachkenntnisse für alle Weltbereiche haben, um spezialisierteren Historiker*innen das Wasser reichen zu können; solche Werke werden daher immer eine Synthese bleiben müssen, deren Qualität in der Fähigkeit der jeweiligen Geschichtswissenschaftler*innen liegt, die Wissensbestände zusammenzuführen und zu vergleichen. In seinem Vorwort grenzt sich Osterhammel vor allem im Fokus von Bayly ab: er sieht sich als klassischer, da er die Rolle für Europas für das 19. Jahrhundert mehr betont als Bayly, und stellt bei außereuropäischen Schauplätzen China mehr ins Zentrum als Bayly, der vor allem von Indien ausging. Das ist hauptsächlich Produkt der jeweiligen Spezialgebiete. Zudem sieht Osterhammel den Ersten Weltkrieg weniger als sein Vorgänger als harten Bruch.

Mit diesem Vorwort beginnt Osterhammel in Kapitel 1 seine Betrachtung des 19. Jahrhunderts, indem er den Blick darauf wendet, wie es sich selbst sieht. So zeigt er etwa auf, dass die Oper - eine Kunstform, die in der Neuzeit in Europa wie in Asien (Pekinger Oper) gleichzeitig erfunden wurde - im 19. Jahrhundert ihre absolute Blüte erlebt. Bereits hier zeigt sich der Fokus auf China. Dieses empfindet das 19. Jahrhundert (nicht zu Unrecht) als Jahrhundert der Schmach und des Niedergangs; die Pekinger Oper ist deswegen heute praktisch verschwunden, während die westlichen Staaten diese Kunstform weiterhin großzügig subventionieren und am Leben halten (die etwas despektierliche Beschreibung dieses Subventionsvorgangs ist meine, nicht Osterhammels).

Auch das Erinnern in historiographischen Dimensionen selbst begann Anfang des 19. Jahrhunderts, indem die europäischen Staaten begannen, Archive einzurichten - etwas, das China bis in die 1930er Jahre nicht tun würde, weswegen die Quellenlage dort auch wesentlich schlechter ist. Dasselbe gilt für die Einrichtung von Bibliotheken, für die es etwa in Asien auch keinerlei Tradition gab und die in Europa und den USA vor allem als privat finanzierte Initiative mit hohen Repräsentationsansprüchen begannen, und ebenso für Museen. All diese Formen der Verewigung und Erinnerung wurden im 19. Jahrhundert in Europa und den USA begründet.

Besonders relevant war auch die Einführung der Statistik: beginnend von Europa, von den Kolonisierern aber auch in andere Erdteile getragen, wurde alles mögliche vermessen und wurden erstmals brauchbare Volkszählungen durchgeführt. Die Zählung hatte allerlei Nebeneffekte, denn das Zählen schuf einerseits staatliche Zugriffsgebiete, die vorher unbekannt gewesen waren, und schuf Klassen, wo vorher keine existierten (das indische Kastenwesen ist das augenfälligste Beispiel dafür). Auch andere Kategorien entstanden erst durch die staatliche Zählung; Osterhammel nennt "Armut", die überhaupt erst durch die Messung bekannt wurde und dann als moralische Kategorie Handlungsdruck erzeugte.

Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Zeitungen. Das Musterland waren hier die USA, wo die Pressefreiheit bereits das ganze Jahrhundert hindurch einen beständigen Siegeszug antrat. Demgegenüber hing Großbritannien deutlich hinterher, während für Deutschland oder Frankreich erst ab den 1890er Jahren eine Pressefreiheit, die ihren Namen wert war, begann, während  Russland nie eine hatte. Osterhammel verwahrt sich daher gegenüber der Idee, dass die Pressefreiheit ein europäisches Charakteristikum sei. In Asien und Afrika indessen gelangten Druckerpresse und Zeitungen häufig zeitgleich ins Land und lösten dort unter den gebildeten Eliten eine Revolution aus, wo es nicht bereits eine Tradition von Druckerzeugnissen gab, wie etwa in China oder Indien. Im späteren 19. Jahrhundert begann auch der Aufstieg der billigen Massenblätter, mitsamt der Erfindung des Boulevards (in Großbritannien ironischerweise sehr spät, dafür dann aber mit umso mehr Wucht).

Eine gänzlich neue Technologie war die Fotografie. Sie trat im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug an; erstaunlicherweise, wie Osterhammel feststellt, vor allem in den USA und Europa. Der Rest der Welt, geführt vom Osmanischen Reich, adaptierte die neue Technik erst sehr viel später. Fotos veränderten den kompletten Blick auf die Welt. Nicht nur ermöglichten sie akkurate Selbstdarstellungen - zunehmend auch für die Mittel- und später die Unterschicht -, sie schufen auch neue Wahrnehmungen. So entzauberten Darstellungen des Elends den "Orient" oder schufen überhaupt erst ein Bewusstsein für die "soziale Frage", das ohne Fotos kaum denkbar wäre. Eine Randnotiz dagegen ist der Film. Überraschend ist vor allem, dass er von Anfang an "serienreif" und anders als die Fotografie nicht Jahrzehnte zur Durchsetzun brauchte, sondern quasi ab Erfindung zu Kinos führte.

In Kapitel 2 unternimmt Osterhammel eine historiograpghische Verortung des 19. Jahrhunderts. Denn eine Epoche an Jahreszahlen festzumachen, ist ja kein natürlicher Prozess, es ist eine intellektuelle Konstruktion, die erst vor kurzer Zeit begann und vor allem außerhalb Europas häufig erst im 20. Jahrhundert vorgenommen wurde - was unsere Quellenlage bis heute maßgeblich beeinflusst. Osterhammel wendet sich gegen eine genaue Datierung des 19. Jahrhunderts und versucht, Dynamiken nachzuzeichnen - je nach Themengebiet beginnt oder endet das 19. Jahrhundert demnach früher oder später, und so oder so handelt es sich mehr um Übergänge als um Brüche, selbst bei Revolutionen und Erstem Weltkrieg. Deswegen fällt es auch schwer, eine Art politischen Beginn zu markieren: die französische Revolution etwa berührt die wenigsten Weltgegenden.

Osterhammel legt besonderes Augenmerk auf den "fin de siecle", jene Epoche kurz vor Ende des 19. und nach Beginn des 20. Jahrhunderts, für die er exemplarisch einige Beispiele bringt. Anhand dieser Beispiele spricht er von Überlappungen von Brüchen: dort, wo viele Brüche auf vielen Themenfeldern sich konzentrieren, kann man sinnvoll von einem Epochenbruch sprechen; das Jahrhundert selbst ist nur eine ziemlich schlechte Krücke.

Ebenso spannend ist die Frage der Zeitmessung. Im 19. Jahrhundert wurde einerseits durch Anwendungspraxis - etwa bei den Eisenbahngesellschaften - und andererseits durch internationale Abkommen die Einteilung der Welt in Zeitzonen vorgenommen. Es dauerte zwar Jahrzehnte, bis sich der neue Standard durchsetzte (Frankreich etwa weigerte sich lange, Greenwich anzuerkennen), was Osterhammel in einen gleichzeitigen Prozess der Nationalisierung - bis spät ins 19. Jahrhundert galten in Städten noch unterschiedliche Zeiten - und der Globalisierung - der Anpassung der Zeiten in Zeitzonen - beschreibt. Diese Prozesse liefen nicht parallel. So nationalisierte Frankreich zwar seine Zeit (und richtete sie, natürlich, an Paris aus), aber globalisierte sie nicht, so dass die Uhren in Frankreich immer ca. neun Minuten hinter der restlichen Zeitzone liefen, bis das Land sich 1911 endlich zur Angleichung an den GMT-Standard durchrang.

Doch Zeiten spielen nur eine Rolle, wenn man sie auch messen kann. Entsprechend fand das 19. Jahrhundert auch eine Verbreitung von immer genaueren und, vor allem, billigeren Uhren. Diese Erfindung breitete sich weltweit aus, viel stärker als viele industrielle Produkte. Osterhammel erklärt, dass zahlreiche Weltregionen nie eine Dampfmaschine sahen, wohl aber Uhren, weswegen man behaupten kann, dass es in globalem Maßstab die einschneidenste Erfindung der Industriellen Revolution war.

In Kapitel 3 verortet Osterhammel das 19. Jahrhundert dann im Raum. Auf den ersten Blick mag es ein wenig widersinnig erscheinen, die Frage zu stellen, wo das 19. Jahrhundert stattfand. Aber bereits seine anfängliche Diskussion der Tatsache, dass Raum außerhalb der Mathematik nicht abstrakt denkbar ist, zeigt, in welche Richtung er geht. Das 19. Jahrhundert war auch eine Zeit der Raummessung: die Geografie entstand als eigene Wissenschaft, und ihre europäische Prägung bedeutete die Benennung und Beansprachung großer Räume durch die europäischen Geografen.

Europa selbst wurde im 19. Jahrhundert vor allem als konkurrierende Großmächte gesehen. Kleine Staaten waren eher Unruheherde oder "im Weg". Ein gemeinsames Europagefühl will Osterhammel nicht erkennen. Umtritten war auch - damals wie heute - die Frage, wer dazugehört. Das betrifft besonders Russland, das im 19. Jahrhundert durch den Autoritarismus Nikolaus I. und seine Wendung nach Sibirien eher eine Absetzbewegung von Europa vollführte, als auch der "Türkei in Europa" in Frage ihrer Balkanbesitzungen.

Die Flut von Vermessungen war ein europäisches Phänomen. Japan wie China taten sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr schwer mit der Kartografie und wussten nur sehr wenig über die Welt - und oft genug selbst über ihr unmittelbares Umfeld. Demgegenüber war der "Mittelmeerraum" einer, der immerhin integriert genug war, um sich selbst als übergreifende Einheit zu begreifen; seine Bedeutung nahm besonders mit der Vollendung des Suez-Kanals massiv zu. Anders gelagert war der Pazifik: er wandelte sich erst im 19. Jahrhundert zu einem wirklich aktiven Raum. Der Atlantik dagegen war seit mehreren Jahrhunderten viel befahren und vermessen und verband Europa und Nordamerika auf eine Weise, die der Pazifik für die USA und Ostasien bis weit ins 20. Jahrhundert nicht erreichte.

Diese Fortschritte in der Landvermessung ermöglichten auch eine staatliche Beanspruchung des Raumes (über Kataster), die vorher undenkbar war (allerdings auch wegen der feudalen Regierungssysteme). Nur für China und die USA sieht Osterhammel eine vergleichbare Landnahme (in den Provinzen beziehungsweise dem Gridsystem) auch schon vorher. Generell hebt Osterhammel in diesem Kapitel die Bedeutung der Vermessung der Welt für die staatliche Kontrolle hervor, sowohl in den eigenen Gebieten als auch in den Bereichen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu Kolonien werden würden.

Damit geht Osterhammel in seinen nächsten großen Teil in Kapitel 4 über und schaut von den Räumen und Zeiten auf die Menschen. Als erstes beschäftigt er sich mit der Frage der Demografie. Das 19. Jahrhundert war in dieser Hinsicht eine ungewöhnliche Epoche. Auf der einen Seite erreichte die Bevölkerung Asiens mit 55% einen historischen Tiefstand am Anteil der Weltbevölkerung (normalerweise waren und sind es 60-65%; der mörderische chinesische Bürgerkrieg trug seinen Teil dazu bei), auf der anderen Seite erreichte Europa ein vorher und nachher nie gekanntes Bevölkerungswachstum.

Die Gründe dieses Bevölkerungswachstums liegen in den Verwerfungen der Industriellen Revolution; ihr Ablauf hat sich für die Entwicklung von Ländern anhand ihrer Linien seither als exemplarisch erweisen: die Sterberate fällt rapide, und die Geburtenrate folgt mit einer Verzögerung. Dadurch entstand in Europa ein demografischer Überschuss, den die Reiche des Kontinents nutzen konnten, um ihre ebenfalls einmalige Eroberungs- und Expansionszüge zu fundieren. Eine Ausnahme stellte in Europa allein Irland dar, dessen Bevölkerung (auch dank einer genozidalen britischen Politik) um die Hälfte abnahm.

Diese Expansion hatte Folgen. Einerseits wurden die Großreiche nun dominierend. Deren autochthone Bevölkerung lag zwischen 95% (Japan) und 16% (Niederlande), wobei die meisten Reiche eine autochthone Bevölkerung zwischen 50% und 80% aufwiesen. Diese Großreiche waren aber gerade keine Nationalstaaten, was die Idee des 19. Jahrhunderts als Zeitalter der Nationen durchaus in Zweifel zieht. Gleichzeitig sorgte die Sklaverei weiterhin für gewaltige Bevölkerungsverschiebungen; Millionen von Menschen wurden aus Afrika nach Lateinamerika verschleppt, besonders nach Brasilien, und sorgten dort für demografische Verwerfungen.

Diese gestalteten sich je nach Region unterschiedlich. In den USA etwa reproduzierte sich die schwarze Bevölkerung bei Einstellung des transkontinentalen Sklavenhandels 1808 bereits (wenngleich unter grauenhaften Bedingungen) selbst, während dies in der Karibik nie der Fall war, die bis weit ins 19. Jahrhundert auf Importe weiterer Sklav*innen angewiesen blieb und stagnierte. Ähnlich sah es in Lateinamerika aus, wo in Mexiko die Sklaverei nie Fuß fasste und zu einer demografisch insularen Entwicklung führte, während in Südamerika ebenfalls lange Sklav*innen weiter eingeführt wurden, gleichzeitig aber eine recht verbreitete Befreiungspraxis dafür sorgte, dass eine eigene, sich selbst tragende Schicht freier Schwarzer und Mischlinge entstand.

Ein Sonderphänomen des 19. Jahrhunderts, zumindest aus europäischer Sicht, waren die massiven Gefangenenverschickungen. In Australien, Neu-Kaledonien und Sibirien etwa sorgten diese für eine starke Änderung der demografischen Verhältnisse. Die Chinesen andererseits betrieben das zeitweise Exil im unerschlossenen Westen des Landes seit Längerem. Dagegen war das 19. Jahrhundert die Hochzeit des Exils. Zahlreiche politische Flüchtlinge - dank der Revolutionen und deren Unterdrückung - suchten Zuflucht im Ausland, organisierten von dort Umstürze, agitierten oder fanden eine neue Heimat. Leider begann im 19. Jahrhundert auch die Tradition der großen Flüchtlingsbewegungen. Zwar blieben die richtig großen Ströme dem 20. (und, vermutlich, 21.) Jahrhundert vorbehalten. Aber etwa auf dem Balkan, der Hochkaukasus- und Krimregion kam es zu großen Flüchtlingsbewegungen. Wesentlich größer dagegen waren Binnenbewegungen.

Eine wesentlich dunklere Wanderepisode war der Sklavenhandel, der im 19. Jahrhundert einen traurigen Höhepunkt erreichte. Zwar begannen Maßnahmen vor allem Großbritanniens, ihn für illegal zu erklären, doch das wurde kaum durchgesetzt. Millionen von Menschen aus Afrika wurden nach Lateinamerika und in die Karibik "exportiert". Und selbst als dieser Handel langsam abnahm, erreichte der Bedarf aus dem arabischen Raum, vor allem dem Osmanischen Reich, neue Höchststände, der vor allem aus Ostafrika gedeckt wurde.

Eher freiwilliger Natur war die große Arbeitsmigration vor allem aus dem asiatischen Raum. Einerseits verließen im 19. Jahrhundert hunderttausende Inder*innen das Land, um in einem Zwangssystem (indentured servitude) als halbfreie Arbeiter*innen ihre "Migrationskosten" abzuarbeiten. Ihre Ziele lagen vor allem auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Andererseits betraf es Chines*innen, die als sogenannte Kuhlis teils schlicht verschleppt und als Zwangsarbeiter*innen eingesetzt, teils als halbfreiwillige Arbeitskräfte ähnlich den Inder*innen nach Amerika oder Südafrika, aber auch in den südostasiatischen Raum vordrangen. Beiden Kulturen war eine Aversion gegen Migration gemein; einmal religiös (Indien), einmal staatlich (China) induziert.

Im fünften Kapitel wendet sich Osterhammel der Frage des Lebensstandards zu. Er unterscheidet zwischen Armut und Elend - das eine mag dennoch ein glückliches Leben erlauben, das andere nicht - und macht die wichtige Frage der Gesundheit auf: mit Wohlstand kommt nicht automatisch größere Gesundheit, jedenfalls nicht im 19. Jahrhundert. Er vergleicht die westlichen Gesellschaften mit dem ärmeren Japan, dessen Bevölkerung (übrigens bis heute) dennoch sehr gesund lebt.

Im Westen war das 19. Jahrhundert entgegen der landläufigen Vorstellung keine Zeit ungebrochen steigender Lebenserwartung; viel mehr sank diese in den meisten Ländern (außer Frankreich, kurioserweise) mit Einführung der Industrialisierung erst einmal, besonders, weil die Städte solche Brutherde von Infektionen und die Kombination aus Bevölkerungswachstum und schlechter Nahrung so schädlich waren. Erst gegen Ende des 19. und vor allem zu Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Lebenserwartung rapide zu steigen. Maßgeblich trugen dazu Erkenntnisse zur Hygiene bei: Osterhammel stellt fest, dass die große Kanalisation von London, die die Gesundheit der Metropole gerade im Vergleich zu anderen Städten wie München massiv steigerte, technisch gesehen auch schon 100 Jahre vorher hätte gebaut werden können, wenn das Problembewusstsein und der politische Wille dagewesen wären (und klingt das in Zeiten der Klimakrise nicht vertraut...).

Ebenfalls neu waren die Erkenntnisse der Bakteriologie und die sich verbreitenden Impfungen. Geimpft wurde seit dem späten 18. Jahrhundert, aber es brauchte die Durchsetzungskraft des modernen Staates, der flächendeckend und verpflichtend impfte, um echte Wirksamkeit zu erzielen (die Corona-Pandemie stellt in der Beziehung in meinen Augen einen echten Rückschritt dar). Gleichwohl waren Epidemien auch im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. In Europa machte vor allem Tuberkulose, DIE Modekrankheit des Jahrhunderts, einen großen Anteil aus. Sie wurde von der bürgerlichen Moral aber verschwiegen, weswegen sich kaum öffentliche Debatten darüber finden. Auch Choleraausbrüche waren bis zur Verbesserung der Hygiene gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch sehr häufig.

Der Großteil der Epidemien aber fand außerhalb Europas statt und war häufig eine Folge wirtschaftlicher Entwicklung. Ob in Indien oder China, riesige Pandemien, die von westlichen Augen unbemerkt stattfanden, waren die Folge wirtschaftlicher Erschließung neuer Ressourcen. Die große Armut in weiten Teilen der Welt bei gleichzeitiger Konzentration der Bevölkerung in neuen Bevölkerungszentren UND deren Anschluss an ein globales Verkehrsnetz schufen im 19. Jahrhundert einzigartige Pandemiebedingungen, so dass gerade die erwähnte Cholera einen Siegeszug von Bengal bis nach Europa und Amerika antreten konnte - interessanterweise unter weitgehender Auslassung Chinas, dessen autokratische Hygienemaßnahmen hier wirkungsvoller für Schutz sorgten als in weiten Teilen der "westlichen" Welt.

Die Bekämpfung der Seuchen machte im 19. Jahrhundert auf wissenschaftlichem Gebiet relativ kleine Fortschritte: zwar gelang die Bekämpfung von Malaria - DIE unterschätzte Ursache für den Imperialismusschub in Afrika Ende des 19. Jahrhunderts -, aber die Forschung an Krankheitsursachen im Labor, vor allem in der Bakteriologie, stand noch am Anfang und war sehr umstritten. Wesentlich größere Erfolge wurden dort erzielt, wo der Staat mit social engineering die öffentliche Hygiene verbesserte, was die Mortalitätsrate massiv absenkte.

Neben der Bekämpfung von Seuchen machte das 19. Jahrhundert auch bei der Bekämpfung von Naturkastrophen große Fortschritte. Nicht nur wurden zahlreiche Naturphänomene eingehegt (etwa die Bändigung von Flüssen); die mit wesentlich mehr Autorität und Bürokratie ausgestatteten Staaten waren erstmals in der Lage, effektive Hilfe für die Betroffenen zu leisten und so etwas wie Warnsysteme zu installieren. Entsprechend sanken die Todeszahlen durch Naturkatastrophen massiv ab; die Fälle, in denen dies wie beim Erdbeben von San Francisco nicht geschah, waren nun die hervorhebenswerten.

Nicht zu vergessen in dieser Aufzählung ist das Ende des Hungers (Osterhammel schreibt pessimistisch ein "vorläufig" in Klammern in die Überschrift). Darin findet sich die wohl größte Änderung der menschlichen Existenz, denn der Hunger hatte immer zu ihr gehört. Doch die technologischen Fortschritte einerseits und die massiv zunehmenden staatlichen Kapazitäten andererseits sorgten dafür, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts Hunger zu einer furchtbaren Erinnerung früherer Zeiten wurde; Ausnahmen wie Irland in den 1840er Jahren bestätigten da eher die Regel. Wesentlich schlimmer war die Lage in Afrika, wo sie sich erst im späteren 20. Jahrhundert grundsätzlich ändern sollte, und in Indien und China. Japan erlebte in den 1830er Jahren seine (vorläufig) letzte Hungersnot; Nordamerika (inklusive Mexiko!) keine einzige.

Die Ursachen dieser Hungersnöte sind vielfältig. Im Fall Indiens etwa trägt die Kolonialmacht Großbritannien wie auch in Irland eine große Mitschuld, weil die Freihandelsideologie, gepaart mit technologischem Fortschritt, die Nahrungsmittelproduktion umfassend dem Export zuführte und gleichzeitig eine Weigerung bedingte, als Katastrophenhilfe zu intervenieren. In China war eher das Gegenteil der Fall: der Zusammenbruch der staatlichen Kapazitäten (bis ins 18. Jahrhundert hinein besaß China mit seinen Getreidespeichern das weltweit beste Interventionssystem, siehe dazu auch Geoffrey Parker) sorgten für Hungerkrisen. Ausgelöst wurden diese Krisen aber vermutlich in allen Fällen durch El-Nino-Ereignisse und Ähnliches; Osterhammel verweist hier aber auf weiteren Forschungsbedarf.

Mit dem Thema "Hunger" unmittelbar verknüpft ist die Landwirtschaft, die noch bis Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika und im Rest der Welt bis weit ins 20. Jahrhundert die bestimmtende Form war. Das 19. Jahrhundert war im Westen von einer gewaltigen, aber ungleichmäßigen Produktivitätsexplosion der Landwirtschaft gekennzeichnet. Führend war hier einmal mehr Großbritannien, aber Deutschland kam recht dicht dahinter, während ausgerechnet das Agrarland Frankreich wesentlich schlechter abschnitt. Die größten Gewinne aber wurden in Nordamerika und Russland erzielt, wo zahlreiche neue Flächen für die Landwirtschaft erschlossen wurden. Dadurch entstand ein großer internationaler Markt für Nahrungsmittel, der es etwa den Alliierten im Ersten Weltkrieg erlaubte, die Unzulänglichkeit der eigenen Produktion zu kompensieren - anders als die Mittelmächte, für die das nicht möglich war und die mit entsprechenden Problemen zu kämpfen hatten.

Für das Thema der Lebensstandards relevant ist auch die Frage der Armut. Relativ betrachtet waren alle Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert arme Gesellschaften. Die industrielle Revolution erlaubte eine Zunahme an Lebensstandard, wie sie vor 1800 praktisch unvorstellbar war. Erst 1790 erklärten die ersten Theoretiker Armut als ein moralisches Skandalon, anstatt sie als gottgegeben zu akzeptieren. Auch Superreichtum war eine "Erfindung" des 19. Jahrhunderts. Sie war ohnegleichen in den USA, wo die Abstände zwischen den Supervermögen und dem Rest auf ein nie gekanntes Level wuchsen, das auch in Europa nicht erreicht wurde. In Asien dagegen wie auch in anderen Teilen der Welt war Reichtum weit weniger umfrangreich und konnte häufig auch nicht über mehrere Generationen transportiert werden, wie das im westlichen Teil der Welt der Fall war.

Die Nahrungsaufnahme veränderte sich im 19. Jahrhundert aber auch jenseits des Verschwindens von Hungersnot. Während manche Einflüsse bereits abgeschlossen waren – etwa die Verbreitung von Erdnuss und Maniok in Afrika, der Kartoffel in Europa oder weißen Reis‘, Zuckers und Weizens in China – verbreiteten sich andere Ideen durch Einwanderung vor allem in den USA, von denen sie dann wieder ausstrahlten. Dazu gehörte auch das Restaurant, das im 19. Jahrhundert gleich mehrfach erfunden wurde (unter anderem, wenig überraschend, in Paris). Neue Technologie wie Kühlschiffe erlaubte völlig andere Konsumformen. Auch das Aufkommen von Warenhäusern gegen Ende des 19. Jahrhunderts globalisierte den Konsum zunehmend.

Zusammenfassend kommt Osterhammel für das Kapitel zu dem Schluss, dass Erfahrungen von Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit im 19. Jahrhundert noch anders gelagert waren als heute. Reisbauern hätten andere Begriffe als Beduinen, und die andere als Industriearbeiter. Krankheiten indessen waren noch bei weitem nicht so sozial geschichtet wie heute und trafen klassenübergreifend alle.

In seinem sechsten Kapitel beschäftigt sich Osterhammel dann mit Städten. Die obligatorische Feststellung, dass es „die“ Stadt nicht gibt (schon gar nicht in kulturellen Stereotypen), wird von der Globalisierung des Phänomens gefolgt. Regionen, die keine Städte kannten, wie Teile Afrikas (Äthiopien und Marokko), Asiens (Bhutan) oder Australien erhielten nun Städte, die als Zeichen von Zivilisiertheit gesehen wurden. Ebensolche zeichen war der Wandel des Baumaterials von Holz zu Stein. Sowohl die Entflammbarkeit als auch die Erschöpfung der Holzressourcen beschleunigten diesen kulturellen Wandel zusätzlich.

Das 19. Jahrhundert sah aber auch eine Entgrenzung der Stadt: die früher klare Trennung zwischen Stadt und Umland löste sich auf, und besonders in den USA verloren auch Stadtkerne ihre ordnende Funktion. Dazu kam, dass die Städte global zunehmend vernetzt waren und ein Weltstädtenetz bildeten. Dies korrespondierte mit ihrer steigenden ökonomischen Bedeutung: zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war die Stadt produktiver als das Land. Entsprechend verschoben sich die Eliten: die ländliche Elite wurde konservativer bis reaktionärer, während die neuen Eliten in den Städten zu finden waren.

Die Definition von „Stadt“ und „Verstädterung“ ist dabei schwieriger als man annehmen könnte. Weite Teile der Welt kannten gar keine Städte; in anderen war die Bevölkerungsdichte jahrhundertelang mit Europa vergleichbar. Das antike Rom sieht Osterhammel als Produkt sui generis. Auffällig ist, dass erst im 19. Jahrhundert eine Divergenz zu Ostasien einsetzte: in Westeuropa wuchsen die Städte rasant, und immer mehr Menschen wurden Städter. Die Ursachen sind nicht ganz eindeutig bestimmtbar; die Industrielle Revolution jedenfalls sieht Osterhammel nicht als Grund, denn die Städte waren überwiegend KEINE Zentren der Industrie. Vielmehr seien sie Zentren des Handels und der Dienstleistungen.

Im weiteren Verlauf beschreibt Osterhammel verschiedene Typen von Städten, etwa Hafenstädte, Minenstädte (die schnell wachsen und ebenso schnell wieder vergehen) und Hauptstädte, die Zentren administrativen Handelns waren (und sind). Einige dieser Städte entwickelten sich zu Megastädten und vernetzten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts global, wodurch der Typus der Weltstadt entstand (wenngleich für das 19. Jahrhundert nur London und New York diese Kategorie besetzen). Kolonialstädte auf der anderen Seite enthalten einen Stadtkern der Kolonialmacht, der aber je nach Entwicklung individuell aufgebaut sein kann und dienen häufig der Administration und Repression der Kolonie. Der letzte Stadttypus, den er hier bespricht, ist die imperiale Stadt, die die Peripherie dominiert und ein Zentrum des ganzen Reichs darstellt. Deutschland hatte nie eine solche, während Frankreichs Paris oder Großbritanniens London offensichtliche Archetypen darstellen.

Von dieser Typologisierung geht Osterhammel zu Merkmalen der Stadt über. Sein erstes Augenmerk gilt dem für Europa typischen Mauerwerk: im 19. Jahrhundert fallen überall die Stadtmauern, die ihren Sinn überkommen haben und nun nur die Stadtentwicklung hemmen (weswegen es sie etwa in Neugründungen und den ganzen USA überhaupt nicht gibt). Beibehalten werden Mauern nur, wo soziale Distinktion in konservativen Gegenden aufrechterhalten werden soll (etwa in Bern) oder wo Kolonialmächte ihre Enklaven schützen wollen.

Städtebauliche Veränderungen ergaben sich auch durch die Verkehrsrevolution. Die Eisenbahnen erforderten Gleise und Bahnhofsanlagen, die oft ohne große Planung gebaut wurden (wie Stadtplanung generell in vielen Ländern praktisch nicht stattfand; Deutschland war hier eine positive Ausnahme) und die Städte in Moloche verwandelten.

Im siebten Kapitel bewegt sich Osterhammel dann von den Städten zu ihrem Gegenteil: der Frontier. Damit bezeichnet er nicht nur die amerikanische Frontier, sondern generell Grenzregionen, die ungesichert und tendenziell gewalttätig waren. In diesem Kontext stellt etwa die Nordwestgrenze Britisch-Indiens eine Frontier dar, die Nordgrenze aber nicht, weil zwar beide sehr undefiniert und in unerschlossenem Gebiet lagen, aber nur im Nordwesten permanente Gewalt herrschte. Er verwendet dann einige Zeit auf die Betrachtung der US-Frontier, die als Sonderfall gesehen werden müsse. Die hervorragenden Katasterämter der USA sowie die Politik der Bundesregierung, neues Land für kleine Siedler*innen verfügbar zu machen, sorgten für eine solide mittelständische Erschließung des Landes, die Grundlage der amerikanischen Gesellschaft des Mittleren Westens werden würde.

Den Natives dürfte das nur ein geringer Trost gewesen sein. Spätestens ab den 1820er Jahren waren sie östlich des Misssissippi in einer unhaltbaren Position und wurden mit geradezu genozidaler Konsequenz (die sich auch in der Rhetorik der Beteiligten wie etwa Andrew Jackson zeigt) in den Westen abgedrängt, nur um von dort in den Folgejahrzehnten auch weiter vertrieben und in Reservate abgedrängt zu werden. Dabei half ihnen das Meistern eines Frontier-Lebensstils – nomadisch auf Pferden den Bisonherden folgend – auch nicht, die überhaupt erst durch die Entstehung der Frontier möglich war und nicht den „natürlichen“ Lebenswandel der Natives vor Eintreffen der Europäer darstellte, sondern vielmehr eine Anpassung daran war.

In Argentinien derweil entstand mit den Gauchos der ursprüngliche „Cowboy“, der aber den Mythos des US-Nachfolgers nicht erreichte und von der Regierung aggressiv bekämpft wurde, die die Pampa ähnlich der Prärie den Ureinwohnenden entriss, aber anders als die USA nicht richtig erschloss und stattdessen über Nepotismus an Großgrundbesitzer verschenkte, wodurch Argentinien nie die soziale Mobilität der USA entwickelte. In Brasilien dagegen wurde nur die Küste erschlossen; der Raubbau des Regenwalds und die Vertreibung der Indios ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts.

Größere Aufmerksamkeit gibt Osterhammel den „Frontiers“ des Osmanischen Reichs, Chinas und Russlands. Das Osmanische Reich versuchte im 19. Jahrhundert, seine Ostgrenze zu befestigen, was vor allem eine Unterdrückung der Kurden bedeutete, die bis dato eine gewisse Autonomie bewahrt hatten. Anders als in den USA fand aber keine große Siedlerbewegung statt, weswegen der Konflikt nicht durch die dortige Dynamik erledigt wurde. Anders sah es in Russland und China aus. In Russland hatten im 18. Jahrhundert einige wenige Siedler den Weg nach Sibirien gefunden, ähnlich den Trappern in den USA, doch im 19. Jahrhundert folgte eine massive Einwanderungsbewegung und Erschließung des Landes, die die Lebensräume und Lebensweise der indigenen Bevölkerung völlig zerstörte. Genauso lief es in China, das endgültig die Mongolei unterwarf. In allen Bereichen – ob USA, Kurdistan, Mongolei, Xinjiang oder Sibirien – hatte die nomadische Lebensweise gegen das Vordringen der „Zivilisation“ keine Chance. Nur in den USA und Australien allerdings wurden diese Gruppen so marginalisiert wie die Indianer; in allen anderen Frontierschließungsprozessen gelang es ihnen, wenigstens eine gündlegende Nützlichkeit für die Eroberer zu bewahren. Das sieht man etwa gut in Südafrika, wo die örtliche Bevölkerung weiterhin als Arbeitskräfte benötigt wurde und daher auf der niedrigsten Stufe der dortigen Gesellschaft eine Rolle innehatte. Man muss vorsichtig sein, die Zustände des 20. Jahrhunderts anzunehmen; die Apartheid begann erst mit der Unabhängigkeit des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.

Osterhammel wendet sich nun dem Siedlungskolonialismus zu. Nur in den USA und Australien führte dieser zu einer kompletten Verdrängung der indigenen Bevölkerung durch Neueinwandernde; in den anderen Frontiergebieten blieben die Sielder üblicherweise abhängig von den Bajonetten der Kolonialmacht, was diese Siedlungskolonien auch trotz ihres langen Bestehens stets prekär und revidierbar machte – Algerien ist hier ein gutes Beispiel.

Die Siedler waren für die Imperialmächte stets ein zweischneidiges Schwert. Einerseits leisteten sie unermessliche Dienste bei der Erschließung des Landes; andererseits waren sie schwer kontrollierbar und sorgten stets für Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung, mit der die Imperialmacht sich vielleicht lieber arrangiert hätte. Zudem zeichneten sie oft seperatistische Bestrebungen, die eine permanente Gewaltausübung (oder deren Drohung) in diesen Regionen bedeuteten.

Zuletzt spricht Osterhammel über die Natureroberung. Sichtbarstes Element im 19. Jahrhundert war der Raubbau an den Holzressourcen. Wälder wurden in den Frontierregionen massenhaft geschlagen; der Holzhunger der Epoche war unermesslich. Der Eisenbahnbau verschlang Unmengen an Holz, ebenso der Schiffsbau (mit ein Hauptgrund für den Wechsel zu eisernen Schiffen im 19. Jahrhundert: in Großbritannien war Eisen billiger als Holz!), und Holz blieb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hauptenergiequelle, bevor es von Kohle abgelöst wurde (Öl ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts).

Auch die Tierwelt blieb von dieser Natureroberung nicht unberührt. Die Großwildjagd etwa sorgte für die nahezuhe Ausrottung ganzer Arten. Sie stellte einen europäischen Import dar: die Tigerjagd etwa existierte vor Ankunft der Briten als aristokratisches Vergnügen nicht, wurde aber von der einheimischen Elite übernommen. Gleiches galt für das Ausstopfen der Tiere und die Verwertung von Trophäen. Was in Asien die Tiger waren, betraf in Afrika die Elefanten, deren Bestände dramatisch zurückgingen (ebenso wie die des Nashorns, das aber vor allem nach Asien exportiert wurde). Auf dem Meer geschah dasselbe mit den Walen. Diese wurden überhaupt erst nennenswert seit dem 18. Jahrhundert gejagt, und das 19. Jahrhundert sah eine riesige Industrie, die innerhalb kürzester Zeit die Tierart an den Rand der Ausrottung brachte. Dieses Kapitel kommt natürlich nicht ohne einen Bezug zu Moby Dick aus; die Zeit aber, in der die Wale auch nur eine minimale Chance gegen ihre Jäger hatten, endete rasch. Vermutlich wären die Wale bereits im 19. Jahrhundert ausgestorben, wenn nicht andere Technologien die Walprodukte schnell überflüssig gemacht hätten. Erst im 20. Jahrhundert begannen erste Ansätze zum Schutz der bedrohten Arten; für die Tiere war das 19. verheerender als das 20., das ganz andere Arten der Umweltzerstörung, aber eben auch mehr Sensibilität dafür mit sich bringen würde.

Das achte Kapitel, „Imperien und Nationalstaaten – Die Beharrungskraft der Reiche“, beginnt mit der Feststellung, dass die internationale Politik nach anderen Regeln als die Innenpolitik funktioniert (und auch eine schlechtere Quellenlage hat) und als oberstes Ziel die Vermeidung von Kriegen hatte. Osterhammel macht fünf Grunddynamiken der Außenpolitik des 19. Jahrhunderts aus: Die Volksbewaffnung, die zu einer größeren Unwägbarkeit von Krieg führte; der Wechsel von dynastischer zu nationaler Außenpolitik; die neuen technologischen Möglichkeiten in der Kriegsführung; die zunehmende Bedeutung von Wirtschaftskraft als Machtfaktor (die Mächte wie die Niederlande oder Schweden endgültig bedeutungslos werden und die USA trotz ihrer militärischen Schwäche bedeutungsvoll werden ließ); und zuletzt die Entwicklung eines Weltstaatensystems, das eben die USA, aber auch Japan und China, einschloss.

Daran schließt sich die Erzählung von Aufstieg und Fall des europäischen Staatensystems an. Osterhammel bietet zwei Versionen.

Zum einen die vom Aufstieg der Nationalstaaten. Sie beginnt irgendwann zwischen den Frieden von Osnabrück und Utrecht (je nach Präferenz), weist als Meilenstein die Napoleonischen Kriege mit ihrem Griff nach der europäischen Hegemonie (und deren Scheitern) auf, skizziert die Entstehung der Ordnung des Wiener Kongresses und ihres Falls, dessen Beginn Osterhammel auf die mangelnde Integration des Osmanischen Reichs in diese Ordnung zurückführt, das zum Austragungsort neuer Großmachtrivalitäten wurde (Krimkrieg). Völlig zerstört wurde die Wiener Ordnung dann durch die deutsche und italienische Einigung, ehe der Erste Weltkrieg den Zerfall der europäischen Dominanz mit sich brachte. In dieser Erzählung stehen die außereuropäischen Großreiche, etwa die USA, sehr am Rand.

Die andere ist die Geschichte von der Metamorphose der Imperien. Der Verlust der amerikanischen Kolonien und Haitis stürzte Großbritannien und Frankreich in eine Art imperiale Krise, aus der vor allem Großbritannien durch eine (nicht selbstverständliche) Umorientierung nach Indien gestärkt hervorging. Über große Teile des 19. Jahrhunderts aber war der Imperialismus und Kolonialismus eher punktuell, beschränkt auf Kanonenbootpolitik. Das änderte sich ab ca. 1870 massiv; der scramble for Africa wie auch die Aufteilung Asiens legen beredtes Zeugnis ab. Osterhammel empfindet sowohl die Bedeutung dieses Imperialismus in vielen Darstellungen der Geschichte der Zeit deutlich unterschätzt als auch sein Potenzial für europäischen Konflikt überschätzt.

Solcherart die strukturelle Grundlage gelegt begibt er sich zuerst auf eine Untersuchung der Nationalstaaten. Diese erklärt Osterhammel anders als die Reiche, die es seit dem 3. Jahrtausend vor Christus gibt, zu einer europäischen Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie definieren sich sehr verkürzt gesprochen aus einer Art Wir-Gefühl, das oft gegen die Nachbarn abgrenzend in Stellung gebracht wird. Für Osterhammel ist der Nationalstaat im 19. Jahrhundert eine Art Paradox: es entstehen recht wenig genuine Nationalstaaten, da viele Staatswesen noch immer Reiche sind; aber innerhalb dieser Reiche bildet sich der Nationalismus als treibende politische Kraft heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg wandeln sich die Reiche dann endgültig zu Nationalstaaten. Andere dagegen entstehen in dieser Epoche tatsächlich neu.

Diese Entstehungen versucht Osterhammel zu kategorisieren. So sieht er etwa in Brasilien, Griechenland oder Belgien revolutionäre Nationalstaatsgründungen aus bestehenden Reichen heraus. Niederlande, Schweiz, Italien und Deutschland etwa sieht er eine hegemoniale Vereinigung durchführen, indem aus vorher bestehenden Einzelstaaten mal mehr, mal weniger gewaltsam, mal mehr, mal weniger erfolgreich integriert, ein neues Ganzes wird. Unter dem Schlagwort der evolutionären Autonomisierung fasst Osterhammel solche Nationalstaatsbildungen wie Australien, Kanada oder Serbien; sie entwickelten sich Stück für Stück durch das Erkämpfen oder gewährt Bekommen von Freiräumen im ehemaligen Reich ihre Autonomie. Sonderfälle sieht Osterhammel in den USA und Japan; vor allem letztere fallen durch ihre hohe Integration bereits VOR der Nationalstaatsbildung und die Sonderform der Meiji-Revolution auf. Zuletzt spricht er über verlassene Zentren, vor allem Spanien und Portugal, die im 19. Jahrhundert ihre Kolonialreiche weitgehend verlieren und sich deswegen kontraktiv als Nationalstaaten konstitutieren müssen.

Nach dieser Aufstellung der Nationalstaaten geht es zu den Imperien. Osterhammel betont, dass die „Aufteilung“ Afrikas in Wirklichkeit eine Konzentration zahlreicher politischer Gebilde in sehr wenige Einzelgebiete war, ein Erbe, mit dem Afrika ja heute noch zu kämpfen hat. Asien erlebte eine ähnliche, wenngleich weniger drastische Entwicklung. Nationalstaaten sieht Osterhammel in Afrika und Asien überhaupt nicht entstehen; die Sonderfälle Äthiopien und Korea erfüllten allenfalls teilweise die entsprechenden Kriterien. Er kommt deswegen zu dem Schluss, dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Nationalstaaten gewesen sei, während das 19. Jahrhundert eines der Imperien war. Für den größten Teil der Erdbevölkerung war die tägliche Erfahrung das Leben in einem Reich, nicht in einem Nationalstaat.

Osterhammel unterscheidet Nationalstaaten und Imperien anhand mehrerer Kritierien: klare Grenzen, homogenes Staatsvolk, Legitimation der Politik als für das Volk, Rechtsgleichheit aller Untertan*innen, Teilen kultureller Gemeinsamkeiten in der Gesamtbevölkerung, Proklamation einer imperialen Zivilisationsaufgabe des Zentrums für die Peripherie, Gründungsmythologie biologischer Abstammung vs. Eroberung oder translatio, enges gegen offenes Verhältnis zum eigenen Territorium. Die Integration innerhalb des Imperiums wird vor allem innerhalb der Elite, die tatsächlich kulturelle homogen war, durch den Bezug auf gemeinsame Symbole gefördert. Ansonsten ruht die Integration auf Verwaltung und Militär. Osterhammel spricht von horizontaler und vertikaler Integration; diese Unterscheidung sei erforderlich, weil Imperien radial angeordnet sind: ein Zentrum, aber mehrere Peripherien, die gerne gegeneinander in Stellung gebracht werden. Zurecht weist Osterhammel aber auf den Zwangscharakter jedes Imperiums hin: ein Verband, in dem die Mitglieder freiwillig sind (er nennt als Beispiel die NATO), sei kein Imperium.

Solcherart das Imperium definiert, versucht sich Osterhammel an einer Typisierung. Der in der älteren „Geopolitik“ beliebte Trennbegriff von Land- und Seereichen wird von ihm nicht grundsätzlich verworfen, aber in der Schwäche der Trennschärfe benannt (das Imperium Romanum etwa war beides zugleich). Es sei aber offenkundig, dass Landreiche eine Bedrohung ihres Territoriums tendenziell ernster nähmen als Seereiche.

Das Wechselverhältnis von Kolonialismus und Imperialismus sieht Osterhammel als schwierig. So sei der Begriff für die Peripherien des Zarenreichs zwar viel in der Diskussion, aber schwierig, während er für Österreich-Ungarn überhaupt nicht zutreffe (das aber gleichzeitig das älteste Reich des 19. Jahrhunderts überhaupt war). Osterhammel verwirft einen direkten Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Imperialismus; es hätte wirtschaftlich unterentwickelte große Reiche gegeben wie auch wirtschaftlich hochentwickelte Staaten ohne imperiale Tendenzen.

In einer Reihe von Fallstudien untersucht der Autor nun zuerst die Habsburger Monarchie, die im 19. Jahrhundert als territorial saturiert auftrat und sich die spätere Expansion auf den Balkan besser erspart hätte. Die größere Integration der Magyaren schuf zwei Herrschaftsvölker, entfremdete aber vor allem die Slawen. Das weitgehend gewaltlose Zerfallen des Reichs 1918 sieht Osterhammel als Beleg dafür, dass die Einzelbestandteile ähnlich Kanadas oder Australiens im Empire bereits große Autonomie erreichen konnten.

Dem französischen  Reich spricht er vier Phasen zu. Einmal des Ancièn Régime, mit merkantilistisch ausgerichtetem „Streubesitz“ (der paradoxerweise bis heute französisch und voll in die EU integriert ist); dem hegemonialen Kontintalreich Napoleons; die Phase der nordafrikanischen Expansion bis 1870 und schließlich den Hochimperialismus, der Südostasien als neues Zentrum hinzufügte. Anders als die Briten hatten die Franzosen nie einen großen Siedlungskolonialismus und richteten ihre Kolonien extrem zentralistisch aus, was deren potenzielle Eigenständigkeit stark einschränkte.

Das 19. Jahrhundert sah aber auch einige Kolonien ohne Imperialismus: die Niederlande besaßen etwa mit Indonesien eine große und wirtschaftlich relevante Kolonie, ohne Reichsambitionen zu besitzen. Auch Privatkolonien sind eine Kategorie, etwa wenn es um den Sultan von Brunei, Cecil Rhodes oder Leopold II. im Kongo geht. Eine oft übersehene Kategorie seien die „Reichsgründungen zweiter Ordnung“; vor allem in der Subsahara formierten sich in jener Zeit einige (kurzlebige) Reichsgründungen von beeindruckender Größe, die dann spätestens im scramble for Africa zerstört wurden. Eine Abart dieser zweiten Ordnung war auch der US-Imperialismus, der die USA in einen der größten Flächenstaaten der Welt verwandelte und mit den Philippinen, Hawai und Puerto Rico auch überseeische Besitzungen einschloss, ohne das anti-imperiale Selbstverständnis der USA wesentlich zu beeindrucken. Auffällig ist hier, dass die USA eine nach Rasse kategorisierte Rechtsordnung in ihre Kolonien transportierten, die weltweit ihresgleichen suchte. Osterhammel betrachtet „Rasse“ als fundamentale Kategorie amerikanischen Rechts, die die Gesellschaften, in die es exportiert wurde (etwa Lousiana) tiefgreifend umgestaltete.

Der Elefant im Raum ist natürlich das britische Empire. Die britische Reichsidee war im eigenen Selbstverständnis frei vom „Virus des Nationalismus“ und diente einer zivilisatorischen Mission. Die Pax Britannica besaß aus mehreren Gründen eine weltweite Durchsetzungskraft: die ungewöhnlich starke Siedlerbewegung sorgte für große, integrierte expats-Gesellschaften; die Royal Navy war weltweit ohne Konkurrenz und garantierte den Freihandel auf allen Meeren für alle Nationen; und die britische Volkswirtschaft war die leistungsfähigste weltweit und stand mit ihrem unilateralen (!) Prinzip des Freihandels allen offen, selbst als ab 1870 die Schutzzölle nach einigen Jahrzehnten europäischen Freihandels zurückkehrten (Osterhammel sieht im Freihandel einen Identitätskern Großbritanniens, der auch moralisch begriffen wurde). Der Autor weist auch darauf hin, wie ungemein mächtig der britische Finanzsektor war, der auch in Instrument des Imperialismus war (anders als in Frankreich, wo der Finanzsektor mit dem Kolonialreich wenig Berührungspunkte besaß und eher in Europa aktiv war).

Osterhammel steigt auch in die Debatte um Kosten und Nutzen des Empire ein. Er verwirft reine Kosten-Nutzen-Rechnungen, weil das Empire zahlreichen Privatunternehmen unzweifelhaft geholfen habe; eine Kostenbilanz lasse sich daher nur ziehen, wenn man die Archive dieser Unternehmen einbeziehe. Während auch das britische Empire unter dem generellen Unterinvestment aller Imperien des 19. Jahrhundert in die Infrastruktur und Bildung der indigenen Bevölkerung litt, weswegen es kaum als segenreich für diese angesehen werden kann, lässt Osterhammel doch keinen Zweifel daran, dass es das harmloseste der europäischen Imperien war, was Gewaltausübung anging (vor der es selbstverständlich nicht zurückschreckte). Bereits ab den 1860er Jahren gab es in Großbritannien Debatten über Rassismus und durch Rassismus motivierte Gewalt, die ein ständiger Begleitton des Empire waren, in einer Zeit, in der man solcherart bei anderen europäischen Reichen vergeblich suchte. Ich möchte an dieser Stelle auf meine Kritik an Elkins „Legacy of Violence“ verweisen, das zwar die vorhandene Gewalt im Empire analysierte, genau eine solche Einordnung aber vermissen ließ.

Das britische Empire muss aber in seiner Stabilität noch aus anderen Faktoren erklärt werden. Osterhammel listet folgende auf: die Steuerungsfähigkeit des britischen Finanzsystems, da die City of London das Finanzzentrum der Welt war; das nach den Erfahrungen der 1770er Jahre deutlich sensiblere Interventionssystem bei Unruhen und der Anschein von Souveränität etwa bei Ägypten; die Elitensolidarität der aristokratischen Oberschicht; das Nicht-Ausüben von rassistischen Völkermorden; die Fähigkeit zur weltweiten Machtdurchsetzung, vor allem dank der Navy. Die Pax Britannica sei allerdings kein weltweites Interventionsregime gewesen (dazu fehlten Großbritannien die militärischen Mittel), sondern habe sich vor allem durch ihre Natur als public good für alle Staaten ausgezeichnet, die auf diese Art am liberalen Handelsregime teilnehmen konnte, das quasi unentgeltlich bereitgestellt wurde – und auf diese Art Großbritannien weltweit Einfluss sicherte.

Nachdem Osterhammel so mehrere Imperien untersucht hat, wendet er sich der Frage zu, wie es sich in ihnen eigentlich lebte. Am Beginn jedes Imperiums stünde notwendig eine Gewalterfahrung, bei der das Reich das bisherig souveräne Gebiet unter Kontrolle bringt. Gleichwohl waren diese Gebiete vorher üblicherweise auch nicht friedlich. Für die Eliten bedeute der Souveränitätsverlust selbst bei Elitenkontinuität einen Verlust an Legitimität, der sich in einem höheren Aufstandspotenzial niederschlage. Das Gebiet gehöre nun zu einem größeren Kommunikationsraum, was oft die Ausbreitung neuer imperialer Sprachen (etwa Französisch) begünstige. Die Übernahme einer solchen Sprache sei nicht notwendig Gewaltakt; das Englische heute oder das Französische im 18. Jahrhundert wurden ja auch von wenigstens den Eliten aus freien Stücken übernommen.

Der Trennung von bisherigen (meist benachbarten) Wirtschaftsräumen stünde eine Inkorporation in das Wirtschaftsgefüge des Imperiums gegenüber – mit Gewinnern und Verlierern. Die Ausbreitung neuer Rechtssysteme war notwendigerweise fundamental transformierend und glich einer Revolution. Die Verwaltungspraktiken des Imperiums schufen zudem oft neue „Rassen“ oder Volksgruppen, die vorher nicht oder wesentlich fluider existiert hatten. Diese Kategorisierungen hätten die Grundlage für die nationalistischen Revolten später gelegt. Mit Ausnahme der Dominions krankten alle Kolonien an einem Mangel politischer Partizipation, politische Betätigung sei „nur als Widerstand möglich“ gewesen.

Osterhammel wendet sich entschieden gegen die Idee, dass die Imperien am Ende des 19. Jahrhunderts im Niedergang gewesen seien. Nationalbewegungen, vor allem erfolgreiche, seien kaum vorhanden gewesen. Sie waren ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Stattdessen bemerkt er die Paradoxie von Nationalismus im eigentlichen Imperium, der in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Imperiumsidee steht. Eine letzte Erkenntnis ist die Verwundbarkeit von Imperien gegenüber Reformen: diese stellten einen Moment großer Gefahr dar, weswegen Imperien sehr vorsichtig bei der Modernisierung ihrer Verwaltung u. Ä. sein müssen.

In Kapitel 9, „Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen – Zwischen zwei Weltkriegen“, beschreibt Osterhammel zunächst die europäischen Ordnungssysteme. Zwischen 1815 und 1853 sieht er eine Staatengemeinschaft, mit klaren Regeln, die Kriege verhindert habe. Darauf folgte eine Phase von Konflikten, besonders die Einigungskriege Deutschlands und Italiens, die dieses System klar brachen. Dem folgte eine neue, fast gleichlange Friedensphase, die aber keine Staatengemeinschaft mehr hatte, sondern einander misstrauisch gegenüberstehende, wenngleich defensiv ausgerichtete Allianzsysteme, die aber gleichzeitig garantierten, dass künftige Kriege nicht mehr zwischen Einzelstaaten, sondern eben Bündnissystemen ausgefochten werden würden. Osterhammel macht als Trends aus, dass der Charakter von Rüstung sich von Masse zu Qualität (etwa in der Flottenrüstung) änderte, was gleichzeitig Unwägbarkeiten bezüglich der Natur künftiger Kriege mit sich brachte. Die imperiale Peripherie betrachtet er neutral: Konflikte dort konnten auf die europäischen Staaten zurückfallen; deren Konflikte konnten aber auch an der Peripherie ein Ventil finden.

Osterhammel spricht bezüglich Europa und dem Rest der Welt von einem „Globalen Dualismus“. Das europäische Staatensystem von 1815ff. mit seiner frühen Entwicklungsstufe des Völkerrechts (vor allem des ius ad bellum und ius in bello, also Regelung wer warum Krieg führen darf und wie das geschieht) galt nur innerhalb Kerneuropas. Das Osmanische Reich etwa war ausgenommen (weswegen dort auch weiter kriegerische Konflikte stattfanden); der Rest der Welt sowieso. Das sorgte dafür, dass die Mächte  zwar Konflikte außerhalb Europas austrugen, diese aber meist nicht Europa selbst betroffen. Besonders bei der Verteilung der Kolonien, etwa im scramble for Africa, war das bedeutsam.

Um die politische Welt im 19. Jahrhundert zu kategorisieren, nutzt Osterhammel den Begriff der „Ordnungsräume“. Ein solcher war Amerika. Während Kanada und die USA mit einer der ersten Abrüstungsinitiativen der Neuzeit in ein stabiles Nachbarschaftsverhältnis übergingen, stellte sich die Frage, wer Mittel- und Südamerika beherrschen würde. Der Partikularismus der Region, verhinderte das Auftreten eines regionalen Hegemons; unter den wenigen Kriegen in Südamerika stechen besonders Konflikte hervor, die dieses Ergebnis hatten. Die Briten hatten kurz die Gelegenheit, eine beherrschende Rolle zu spielen, begnügten sich aber mit Gleichberechtigung mit den USA. Diese verwandelte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine untergeordnete Stellung, als die USA zunehmend aggressiv ihre Vorherrschaft ausübten und zu einer hegemonialen Macht wurden, deren imperialer Fußabdruck alles andere als „gütig“ war.

In Asien war der erste Faktor die Modernisierung Japans. Das Archipel hatte den Vorteil, bereits politisch geeint und kulturelle arrondiert zu sein, als die Amerikaner und Europäer es „öffneten“, und durch Geheimdienstarbeit genug über europäische Diplomatie zu wissen, um Schlimmeres zu verhindern. Es modernisierte sich denn erfolgreich und errang eigene Kolonien. China indessen war ein eigenes Imperium mit Peripherie, das jahrhundertelang keine echten Gegner gekannt hatte. Im 19. Jahrhundert stieß es gewaltsam mit dem Empire und dem Zarenreich zusammen und verlor große Gebiete. Seine Niederlagen sorgten für einen massiven Ansehensverlust. Gleichwohl gelang es China, seine Souveränität zu bewahren und sich in einer untergeordneten Stellung ins Mächtesystem einzugliedern. In Indien indes fassten die Briten die über 500 Einzelstaaten de facto unter einer Regierung zusammen, indem sie den Maharadscha und andere Fürsten auf zeremonielle Rollen reduzierten.

In Südostasien indessen sieht Osterhammel eine Pentarchie. Die Kolonien von Britisch-Malaya wurden zu einem einzigen Verwaltungsgebiet zusammengelegt, das auch nach der Unabhängigkeit seine Struktur behielt und heute aus zwei Staaten besteht, Malaya und Singapur. Die französische Kolonie Indochina indessen zerfiel direkt mit der Unabhängigkeit wieder in ihre drei historisch gewachsenen Teilgebiete von Vietnam, Laos und Kambodscha. Die Kolonialherrschaft hatte klar unterschiedliche Auswirkungen auf die entsprechenden Regionen.

Die Bedeutung von Kriegen für die Politik des 19. Jahrhunderts kann indessen nicht überschätzt werden. Eine wichtige Frage der Zeit war die Anerkennung als Großmacht. Diese hing im 19. Jahrhundert direkt von militärischen Fähigkeiten ab: wer diese besaß, wurde anerkannt, wer nicht, nicht. So stürzten etwa China und das Osmanische Reich effektiv aus dem Großmachtstatus heraus, während die USA erst mit dem Krieg von 1898 und Japan mit dem von 1905 als solche anerkannt wurden. Umgekehrt sorgten militärische Niederlagen für schwere Ansehensverluste, ob für Russland 1856 und 1905, Frankreich 1871 und selbst Großbritannien mit den Buren 1902. Einzig Deutschland, Italien und Japan gewannen durch Kriege massiv an Status hinzu. Besonders Deutschland ist in diesem Kontext wegen seiner modernen Armee, die den Krieg professionalisierte, wichtig.

In diesen Kontext gehören die Steigerungen der Waffentechnik und vor allem der Logistik, die das Gesicht des Krieges maßgeblich veränderten. Osterhammel betont, dass zwar nur wenige Länder die Fähigkeit hatten, modernes Kriegsgerät zu produzieren, der internationale Waffenmarkt aber bedeutete, dass praktisch jedes Land an die jeweils neuesten Waffen (wie Minié-Gewehre) herankommen konnte. Das führte etwa dazu, dass das sich gut vorbereitende Äthiopien der italienischen Armee eine vernichtende Niederlage bereiten konnte. Zwar blieb ein solch durchschlagender Erfolg die Ausnahme; in Kolonialkriegen zogen die indigenen Völker gegen die Europäer sonst zuverlässig den Kürzeren. Für die Soldaten allerdings war der Dienst in den Kolonien alles, aber nicht angenehm. Für die betroffene Bevölkerung waren diese Kriege wegen ihres außersystemischen Charakters (sie beeinflussten die balance of power praktisch nicht und unterlagen nicht den Regeln europäischen Rechtsverständnisses) aber wesentlich schlimmer. Die rassistische Komponente der Konflikte verschärfte die Gewaltexzesse, war aber keine notwendige Bedingung; auch die Balkankriege zeichneten sich durch massive Gewalt aus. Die Waffe der Schwachen war damals wie heute der Guerillakrieg, der die Leiden der Bevölkerung noch verstärkte. Die Guerilla mochten sich in ihrer Propaganda als Verteidiger der Zivilbevölkerung ausgeben; in der Praxis beuteten sie sie oft noch schlimmer aus als die Imperialmacht.

Ein weiteres Merkmal der Krieg der Epoche war die Massenmobilisierung. Diese führte noch nicht zum Totalen Krieg (als einzigen solchen charakterisiert Osterhammel den amerikanischen Bürgerkrieg), und die Toten- und Verwundetenzahlen lagen weit unter der Schlächterei des Ersten Weltkriegs. Doch die Zahl der betroffenen Soldaten nahm im 19. Jahrhundert gegenüber vorherigen Jahrhunderten massiv zu und erforderte eine entsprechende Professionalisierung.

Zuletzt wendet sich Osterhammel den Neuerungen im Seekrieg zu. Segelschiffe wurden von Eisenschiffen abgelöst, ein langsamer, aber bedeutsamer Vorgang, der eine ähnliche Professionalisierungslogik wie die Landkriegsführung bedingte: Offiziere wie Mannschaften wurden mehr zu technischen Profis. Außerhalb Europas unternahmen nur zwei Mächte moderne Flottenrüstung: China nur beinahe erfolgreich (es fehlte ein strategisches Konzept, nicht die Technik!), Japan sehr erfolgreich. Osterhammel betont die Rolle der japanischen Flottenrüstung bei seinem Aufstieg zur Großmacht, die technologisch wie wirtschaftlich bedeutsam war.

Den Krieg solcherart abgehandelt wendet er sich der Diplomatie zu. Vor dem 19. Jahrhundert war sie global gesehen in zahlreiche Traditionen und Eigenheiten zersplittert; eine Gleichrangigkeit souveräner Staaten war eine völlig anachronistische Idee. Seit 1793 aber forcierten europäische Diplomaten die Übernahme ihrer Regeln und Gepflogenheiten – Achtung der Botschafter, Einrichten von Botschaften, Zugang zum jeweiligen Herrscher – weltweit, was den Status vieler Nationen, die mit diesen Regeln nichts anfangen konnten, empfindlich schmälerte. Beleidigungen oder Attacken auf Botschafter wurden zum Kriegsgrund, und Finanzbeziehungen – vor allem Bankrotte – zum Anlass von Internventionen.

Diplomatie blieb allerdings das Betätigungsfeld des Adels. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Öffentlichkeit mehr und mehr involviert, was zu jingoistischen Ausfällen führte (am krassesten 1898 in den USA). Die Oktroyierung europäischen Völkerrechts sah aber vor allem die Degradierung zahlreicher politischer Einheiten, die kaum als Staaten qualifizierbar waren, und sorgte an den Kulturgrenzen für zahllose Missverständnisse, wo die Jurisprudenz der Europäer teils sogar mangels einer Schriftkultur völlig unverständlich war.

Die Diplomatie des 19. Jahrhunderts sah aber auch eine Verbreitung von Normen, vor allem durch das, was wir heute NGOs nennen würden. Die berühmteste und erfolgreichste ist sicherlich das Rote Kreuz, das durch einen eigentümlichen Mix aus Regionalismus und Zentralismus zum Erfolg kam und seine Werte sogar außerhalb der westlichen Welt exportieren konnte, wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg. Aber auch die Frauenbewegung und, wesentlich kleiner, die Friedensbewegung konnten sich international vernetzen. Auf staatlicher Ebene sind besonders die Genfer Konvention und Hager Landkriegsordnung zu nennen, die jeweils Maßstäbe setzten. Insgesamt sieht Osterhammel im 19. Jahrhundert eine Art „Weltstaatensystem“ entstehen, das den Weg des 20. Jahrhunderts gewissermaßen vorzeichnete.

Kapitel 10, „Revolutionen: Von Philadelphia über Nanjing nach St. Petersburg“, beginnt mit Versuch der Definition von Revolutionen. Sie sind eine genuine Neuschöpfung der Moderne. Vor 1776 führten Aufstände zwar zu leicht geänderten Rahmenbedingungen oder Herrschaftswechseln, nicht aber zu Umbrüchen. Dies änderte sich mit der französischen und amerikanischen Revolution. Bis 1848 würden ihr zahlreiche mal mehr, mal weniger erfolgreiche Nachahmer folgen; die Periode danach bis 1917 war dagegen an Revolutionen eher arm. Osterhammel weist darauf hin, dass der Imperialismus für die betroffenen Völker ebenfalls revolutionären Charakter hatte, da ihr Leben sich drastisch änderte, und versucht, auch „weiße“ Revolutionäre wie Bismarck oder Cavour mit in die Definition der großen Umbrüche einzubeziehen.

Der Meiji-Restauration widmet er besondere Aufmerksamkeit. Japan wurde „von oben“ gründlich modernisiert, aber anders als in Deutschland und Italien kam es zu einer Entfeudalisierung – durch die feudale Klasse selbst. Das Projekt war auch ungemein erfolgreich und wehrte sich von Beginn an gegen das Aufkommen sozialistischer oder sozialdemokratischer Ideen, allein schon, weil diese angesichts der Betonung militärischer Stärke als Vaterlandsverrat daherkommen mussten. Andere Formen gewaltsamen Widerstands wie Bauernaufstände verschwanden im 19. Jahrhundert praktisch aus Europa, während Rebellionen in den Kolonien nie zu Revolutionen wurden, schon allein, weil die Kolonialmächte sie unterdrückten.

Danach wendet Osterhammel seinen Blick auf den atlantischen Raum. Das betrifft die amerikanische Revolution als erste echte, breite Schichten umfassende Revolution überhaupt. Diese habe sich aus Streits über Wirtschaftsfragen zu einer Unabhängigkeitsbewegung entwickelt und sei 1783 mit dem Sieg über die Briten weitgehend abgeschlossen. Von einem atlantischen Raum zu sprechen hält er indessen für gerechtfertigt und merkt an, dass Großbritannien in den 1780er Jahren wesentlich gewalttätigere Eruptionen erlebte als Frankreich und Zeitgenoss*innen vermutlich der naheliegendere Kandidat für eine große europäische Revolution gewesen wäre. Der britische Staat schlug diese Bestrebungen gnadenlos nieder und begann ab 1832 mit einer sachten, von oben verordneten Öffnung des Systems durch eine erste große Wahlrechtsreform, mit der sich ultimativ als erfolgreich erweisen würde.

Die Französische Revolution streift Osterhammel nur kurz in ihren Ursachen, zu denen er die aus seiner Sicht unterschätzte innere Schwäche der Monarchie nach dem Fiskalkollaps durch die Unterstützung der USA und die Niederlage 1887 in den Niederlanden herausstreicht. Die Debatte darüber, wann die Revolution genau endete, interessiert ihn kaum; global gesehen käme jedenfalls das Datum 1814 am meisten in Betracht. Warum, verdeutlicht der Blick der Haiti. Dort hatte ein blutiger Bürger- und Interventionskrieg bis 1823 dafür gesorgt, dass der erste freie schwarze Staat sich gegen den expliziten Willen Frankreichs UND Großbritanniens von der Sklaverei emanzipieren konnte, wenngleich unter massiven Kosten. Haiti hatte die Folgewirkung, den Widerstand gegen die Aufhebung der Sklaverei unter Horrorszenarien eines „Schwarzenaufstands“ deutlich zu verstärken (Frankreich schaffte sie erst 1848 ab!) und konnte keine gleichartigen Sklavenaufstände inspirieren. Immerhin war die Idee eines gleichen Bürgerrechts unabhängig von der Hautfarbe in die Welt gekommen.

Die Französische Revolution habe zwar in ihren Prinzipien weltweit unbegrenzte, in ihrer realen Auswirkung aber sehr lokal begrenzte Folgen gehabt. China und Indien etwa blieben von ihr unberührt. Am deutlichsten sei der Eindruck in der Peripherie des Osmanischen Reichs zu erkennen gewesen. Ambivalent gestaltete sich die Lage in Lateinamerika. Der Zusammenbruch des spanischen Kolonialreichs kam, anders als der des britischen in Amerika, erst mit dem Zusammenbruch des staatlichen Zentrums selbst (während das britische stets intakt blieb), obwohl Lateinamerika viel differenzierte, von Spanien abgekapselte Kulturen hatte als die britischen Kolonien in Nordamerika. Einer der Gründe dafür liegt in der Herrschaft der Kreolen (einen Begriff, den Osterhammel für alle Eliteschichten gemischter Abstammung verwendet; für ihn sind auch Washington und Co Kreolen): diese hatten an einer radikal-jakobinischen Freiheitsvision wenig Interesse, weil ihre Macht auf rassischen Hierarchien fußte. Gleichzeitig waren die lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfe länger und brutaler (die Guerillataktiken aus Spanien wurden direkt importiert), weil es keine Intervention ausländischer Mächte gab.

Osterhammel kontrastiert das allerdings mit den hohen Opferzahlen des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, die bis zum Bürgerkrieg auf dem Kontinent nicht wiederholt werden würden. Was die USA jedoch, anders als Lateinamerika, vermeiden konnte, waren Militarisierung und Militarismus. Das ist offensichtlich keine geringe Leistung. Den Bürgerkrieg selbst betrachtet Osterhammel als letztlich unvermeidlich und eher überraschend spät in seinem Ausbruch.

Die atlantischen Revolutionen in Amerika und Europa hätten einige Gemeinsamkeiten. Die wichtigste sei die Politisierung breiter Bevölkerungsschichten, die die Politik aus einer reinen Elitenbeschäftigung in ein allgemeines Thema verwandelten, selbst dort, wo die Reaktion siegte. Zudem habe ein sich überlagerndes Beziehungsgeflecht existiert: administrative Überlagerung, demographische Integration, merkantile Integration und kulturelle Transfers hätten für eine gegenseitige Beeinflussung gesorgt, von Robespierre über Washington zu Bolivar. Osterhammel hebt die „eigentümliche“ Stellung Großbritanniens als größter Militärmacht der Region heraus, das selbst keine Revolution erlitt, aber fast überall gegen Revolutionen kämpfte. Gleichzeitig trieb es selbst, etwa durch den Abolitionismus, Fortschritt voran, und wirkte in der seperation of powers stilbildend für viele Revolutionen. In diesem Sinne erkennt Osterhammel einen Sonderweg des auf Rousseau orientierten Frankreichs, das erst 1871 republikanische Strukturen entwickelte.

Den „Konvulsionen der Jahrhundertmitte“, die zuletzt Christopher Clarke in einer Mammut-Monographie (Deutsch) untersucht hat, spricht Osterhammel den Charakter einer Revolutionsära dagegen ab. Anders als ab 1776 handelte es sich auch um keine nationalen Revolutionen, die, wie die Französische, auf den Bajonetten siegreicher Revolutionsarmeen exportiert wurde, sondern um ein gesamteuropäisches Phänomen, das beredtes Zeugnis der Vernetzung des Kontinents gegenüber der Epoche vor 50 Jahren ablegte. Gleichwohl flossen sie nicht zu einer einzigen großen europäischen Revolution zusammen und blieben trotz vieler Gemeinsamkeiten lokalisierte Ereignisse. Osterhammel betont die konflikttreibende Rolle von Holzrechten und zitiert Sperber: „Überall, wo es Wälder gab, gab es auch Waldaufstände“, um die trockene Bemerkung anzuhängen: „Und es gab viel Wald in Europa.“

Das Scheitern aller 1848er-Revolutionen differenziert Osterhammel in verschiedene Bereiche. Unter sozialen Gesichtspunkte hätten die Bauern am meisten gewonnen, weil die vorher meist nur auf dem Papier bestehenden Abschaffungen der Feudalpflichten nun endlich angegangen wurden. Mit dem Erreichen dieser Ziele hätten die Bauern auch das Interesse an der Revolution verloren, die oft genug in ihren Aufständen und in ihrer Unzufriedenheit überhaupt begonnen hatte. Der Adel behauptete weitgehend seine Position und machte einen im Hinblick auf die zweite Hälfte des Jahrhunderts entscheidenden Lernprozess im Umgang mit Massenpolitisierung und Protest durch, der seine Macht noch bi 1918 sichern sollte. Die größten Verlierer waren die städtischen Unterschichten; für sie gab es gar nichts. Es ist wohl kein Zufall, dass sie auch diejenigen waren, auf denen die größte Last der Revolution gebürdet war. Eine regionale Differenzierung hingegen zeige, dass Frankreich mit der endgültigen Abschaffung der Monarchie die erfolgreichste Revolution schaffte (wenngleich die Republik nur drei Jahre überlebte), während die Niederschlagung in Österreich am durchgreifendsten war.

Ein globales Ereignis hingegen sei die Revolution 1848/49 nicht gewesen. Die Globalisierung sei, anders als 50 Jahre zuvor oder danach, bei weitem nicht so ausgeprägt gewesen. Zwar gingen viele gescheiterte Revolutionäre (etwa Schurz oder Hecker) in die USA, wo sie ihre Ideen leben konnten; dort aber waren diese nicht revolutionär. Das lag sicher auch daran, dass Großbritannien und Russland, die größten Brücken zum Rest der Welt, in das Revolutionsgeschehen weniger einbezogen waren. Besonders Großbritannien entledigte sich revolutionären Drucks zudem durch Deportation in die Kolonien, wo es daraufhin zu Unruhen kam (was den dortigen Statthaltern gar nicht passte). Gleichzeitig bewiesen die Briten durch symbolisches Entgegenkommen auch größere Flexibilität als viele Kontinentaleuropäer.

Zeitgleich korrelierend, aber nicht kausal verknüpft, fand in dieser Zeit in China die riesige Taiping-Revoltion statt. Diese war ein Ausdruck der Anbindung Chinas an den Rest der Welt, da ihr Anführer durch amerikanische Evangelikale radikalisiert worden war; Verbindungen zu 1848/49 in Europa gab es allerdings keine; beide Revolutionen wussten nicht einmal voneinander. Anders als in Europa nahm die Taiping-Revolution den Charakter eines genozidalen Bürgerkriegs an. Die Revolution wurde von den Mandschu radikal niedergeschlagen, ihre Akteure praktisch ausgerottet (oft zusammen mit ihren Familien, manche Regionen verloren bis zu 43% ihrer Bevölkerung!). Diese Ereignisse wurden in der chinesischen Geschichte lange verschwiegen, ehe die Kommunisten sie als proto-kommunistische Erhebung umdeuteten.

Den Großen Aufstand in Indien 1857 dagegen (Osterhammel vermeidet bewusst den britischen Begriff der Indian Mutiny, der die Perspektive der imperialen Kolonialmacht wiederspiegelt) war keine Revolution, sondern eine Rebellion. Weder gab es ein übergeordnetes Reformprogramm noch irgendeine Führungsschicht; im unwahrscheinlichen Erfolgsfalle, so Osterhammel, wäre Indien allenfalls wieder in den Partikularismus des 18. Jahrhunderts zurückgefallen. Er hält den Aufstand allerdings für einen Teil der „Konvulsionen“ der Mitte des Jahrhunderts, quasi eine britische Ausformung derselben, die das selbstzufriedene Selbstbild einer von den Unruhen unberührten Insel in Frage stellt.

Den amerikanischen Bürgerkrieg hingegen sieht er als genuine Revolution an. Nicht nur standen sich hier klare Ideen und Zukunftsvorstellungen gegenüber; die Gesellschaft des amerikanischen Südens wurde zudem als Folge der militärischen Niederlage grundlegend umgekrempelt. Genauso wie im Unabhängigkeitskrieg waren die Verluste an Menschenleben horrend; dazu kam der totale Aspekt dieses Krieges mit einer bisher ungekannten Massenmobilisierung und Zerstörungen. Erst die Reconstruction der 1870er Jahre allerdings sorgte für einen Durchbruch der Kriegsergebnisse, wenngleich Osterhammel wenig Zweifel an der fehlenden wirtschaftlichen und sozialen Gleichstellung der Schwarzen lässt (und kurioserweise zum Backlash, der innerhalb kürzester Zeit zu Terrorismus und einer weitgehenden Entrechung führte, kein Wort verliert). Trotzdem war ein Zurückgehen hinter die Errungenschaften von 1865 ausgeschlossen: die Sklaverei war endgültig aus den USA verbannt.

Zum Abschluss des Revolutionsteils wendet Osterhammel den Blick auf vier außereuropäische Revolutionen nach 1900. Vorher gebührt Mexiko noch ein „Seitenblick“, wo ab 1910 eine der blutigsten Revolutionen der ganzen Epoche vonstatten ging, die jeden achten Mexikaner das Leben kostete. Sie hatte keine übergeordneten Ideen außer dem Widerstand gegen eine unterdrückerische Regierung und auch keine Strahlkraft nach außen. Trotz amerikanischer Interventionen blieb sie eine weitgehend mexikanische Affäre. Die vier Revolutionen in Russland (1904-1907), Iran (1905-1911), Türkei (1908-1920) und die Xinhai-Revolution in China (1911) besaßen einige Gemeinsamkeiten. Sie wurden nicht durch Revolutionen im Nachbarland ausgelöst, sondern nur durch indirekte Wirkungsketten verbunden (ohne Russische Revolution vermutlich keine Einigung mit Großbritannien über Interessenssphären 1907, und ohne die keine jungtürkische Furcht vor einer gemeinsamen Aufteilung des Osmanischen Reichs).

Gleichwohl orientierten sich die vier Revolutionen, anders als etwa die Taiping-Revolution, an Vorbildern. Nicht nur Europa, sondern auch Japan sticht hier besonders hervor. Sie kopierten sich aber weder gegenseitig noch imitierten sie westliche Vorbilder. Die einzige Ausnahme war Russland, das weiter entwickelt als China, Iran und Osmanisches Reich war und tatsächlich eine radikalisierbare Arbeiterschicht besaß, die dann revolutionstreibend wirkte. Gemeinsam war den Revolutionen, dass der Adel im jeweiligen Land kein Gegengewicht zur absoluten Herrschaft des Staatsoberhaupts bilden konnte. Gleichwohl waren die jeweiligen Herrscher aber auch nicht vollkommenen Autokraten, als die die westliche Propaganda sie zeichnete; gerade China war vor der Revolution auf einem konsequenten Modernisierungskurs, der es umso ironischer macht, dass das Kaiserreich so plötzlich verschwand. Gleichwohl waren Reformen nicht die Auslöser der Revolutionen, wie sie es so oft an anderen Orten der Weltgeschichte waren.

Die Intellegintsia existierte in unterschiedlichen Ausmaßen. Sowohl in Russland als auch Iran war sie revolutionstreibend, während sie nirgendwo so stark im Staat verwurzelt war wie im Osmanischen Reich. In China dagegen gab es durch das konfuzianische Beamten-System keine Möglichkeit von formaler Bildung außerhalb des Staates und keine Kanäle für Opposition; sicher mit ein Grund für die Schwäche des chinesischen Staatswesens im späteren 19. Jahrhundert. Das Militär dagegen war in Russland bis 1917 zarentreu und kein Revolutionstreiber. Im Osmanischen Reich und Iran war seine Lage ambivalent (Iran besaß ohnehin kein Militär im westlichen Sinn), während die Taiping-Aufstände in China maßgeblich durch militärische Verwicklungen entstanden waren.

Im Ergebnis erhielt China eine kurzlebige Republik (1911), während Russland für kurze Zeit einen „Scheinkonstitutionalismus“ erhielt, ehe die Revolution von 1917 ein ganz neues System schuf. Die Übergänge in Iran und dem Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg sieht Osterhammel demgegenüber als gleitender an.

In Kapitel 11, „Staat„, beginnt mit der Feststellung, dass kein Jahrhundert eine größere Vielfalt von staatlichen Ordnungen erlebt habe als das 19. Er sieht einen generellen Trend zu neuerlicher Vereinfachung im Hinblick auf das 20. Jahrhundert und macht vier Grunddynamiken aus: Nationenbildung, Bürokratisierung, Demokratisierung und Sozialstaatsentwicklung. Generell seien Staaten nicht so radikal wie im 20. Jahrhundert gewesen, weswegen er auch vom „Goldenen Zeitalter des Staats“ spricht. Diese anfänglichen Betrachtungen werden mit der emphatischen Feststellung abgeschlossen, dass europäische Ideen (Nationalstaat, Rechtsstaat, Gewaltmonopol etc.) sich nicht auf den Rest der Welt aufpropfen lassen, die dann quasi als defezitär betrachtet wird.

Um 1900 sieht Osterhammel einige Grundtypen von Ordnung. Da wären zuerst die selten gewordenen Autokratien, die man aber nicht automatisch als rückständig begreifen darf (die siamesische Autokratie etwa war eine Modernisierungsgewalt). Konstitutionelle Monarchien gab es nur in europäisch beeinflussten Regionen. Eher selten waren parlamentarische Systeme. Sehr häufig dagegen fanden sich Gefolgschaftssysteme, auf die die europäischen Kolonialmächte sich gerne aufpropften (sehr zu Lasten der vorherigen Anführer). Das 19. Jahrhundert sah, recht unabhängig vom System, eine generelle Zunahme an Kommunikation mit den Beherrschten, ob über PR oder Wahlkämpf.

Die mit Abstand häufigste Regierungsform des Jahrhunderts war die Monarchie. Sie war nach 1789 nicht zum Auslaufmodell geworden, sondern hatte vielmehr eine Renaissance erlebt. Die zahlreichen verschiedenen Formen in den späteren Kolonialgebieten konnten deshalb recht leicht europäisch integriert werden, wenngleich dieser Prozess nicht überall gleich gut gelang (Osterhammel findet aber auffällig, wie viel höher die Bindekraft des Commonwealth an die Queen im Gegensatz zur Frankophonie an die Republik war). Die konstitutionelle Monarchie war zwar ein europäisches Phänomen, deren Struktur sich an der Stellung des Regierungschefs ablesen lasse. Aber sie besaß eine große Strahlkraft. Osterhammel untersucht vergleichend das Regime Victorias (die sich trotz enormen Arbeitseifers auf Repräsentation beschränkte und sich dem Parlament unterordnete), die Meiji-Kaiser (die für das japanische Nationsbildungsprojekt neu erfunden wurden und sich als „Bürgerkönige“ nach europäischem Vorbild inszenierten) und Napoleon III. (der eine Art moderne Akklamationsmonarchie erfand, die überhaupt kein Beispiel besaß und bis 1870 auch ziemlich erfolgreich war). Eine Stärke der europäischen Monarchie sei ihre Verflechtung gewesen, die Ersatzpersonal bereitstellte; demgegenüber hätten asiatische Monarchien den Nachteil gehabt, sich aus sich selbst reproduzieren zu müssen und nie über ein gemeinsames Standesbewusstsein zu verfügen. Umgekehrt wurden die asiatischen Monarchen von den europäischen auch nie als gleichwertig akzeptiert. Eine weitere wichtige Rolle im monarchischen Treiben spielten die Höfe, die bis 1918 die Zentren der High Society blieben.

Bei der Betrachtung von Demokratien betont Osterhammel, dass ein breiter Demokratiebegriff angewendet werden muss, da ohne Frauen- und mit meist eingeschränktem Männerwahlrecht keine der (wenigen) Demokratien der Epoche unseren Standards genügt. Demokratie galt den Zeitgenoss*innen ohnehin als diskreditierte Idee, die sofort Bilder des jakobinischen Terrors beschwor.

Großes Gewicht legt Osterhammel auch auf den Rechtsstaat. Dieser war zwar teilweise (vor allem beim Schutz des Eigentums und der Unabhängigkeit der Gerichte) auch in autokratischeren Monarchien möglich, verbreitete sich aber im Lauf des 19. Jahrhunderts von seinem angelsächsischen Idealtypus ausgehend immer mehr. Dazu gehörte auch das Verständnis des Bürgers als Rechtsperson und die Gemeinschaft der Bürger als politische Öffentlichkeit.

Ein weiteres Phänomen des 19. Jahrhunderts war die Konstitutionalisierung. Beginnend in Frankreich und den USA während der Sattelzeit gaben sich fast alle Länder Verfassungen. In Europa sieht Osterhammel den Prozess 1871 als weitgehend abgeschlossen, während Ende des Jahrhunderts in Asien eine neue Konstitutionalisierungswelle auftrat. Das Vorhandensein einer Verfassung bedeutete noch lange keine Demokratie oder Rechtsstaat; Lateinamerika etwa produzierte am laufenden Band neue Verfassungen, ohne dass das zu verfasster Politik geführt hätte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren zudem die wenigsten Staaten mit demokratischem Massenwahlrecht organisiert; paradoxerweise war hier die koloniale Peripherie führend, die (zumindest für die weißen Siedler) als „Fahrstuhl“ wirkte, in dem demokratische Systeme teilweise „leichter umzusetzen waren als im oligarchisch-aristokratischen Mutterland“.

Zu diesem Aspekt gehört auch der Wandel des Wahlrechts. Das 19. Jahrhundert sah einen Wandel von der Elitendemokratie – der Idee, dass nur die reiche Oberschicht „reif“ genug für politische Entscheidungen sei – hin zu einer breiteren Massenbasis. Erreicht wurde diese aber nur punktuell; bis zum Ersten Weltkrieg durften beinahe nirgends die Frauen und beileibe nicht überall alle Männer wählen. Besonders schwer machten es die USA ihren Bürgern, um die Partizipation unerwünschter Elemente – vor allem der Schwarzen – zu verhindern.

So uneinheitlich die Ausbreitung von Demokratie und Wahlrecht als Trendlinie des 19. Jahrhunderts war, so eindeutig kann die Herausbildung einer professionellen Verwaltung gesehen werden. Ohne leistungsfähige Bürokratie, die Staat und Herrschaft trennt und damit den Abschied vom alten Bild des „Landesvaters“, der das Land wie eine Familie regiert, ablöste, war ein moderner Staat nicht mehr machbar. Darauf hatte Europa kein Patent (die USA hatten eine merkwürdige Zwitterstellung, weil sie ideologisch den Staat ablehnten, ihn de facto aber besaßen, wenngleich in föderal diffundierter Form); auch im Osmanischen Reich oder in China gab es in der Sattelzeit leistungsfähige Verwaltungen, die den Vergleich nicht zu scheuen brauchten.

Das neue Phänomen des 19 Jahrhunderts war die rationale Bürokratie. Unter diesem Begriff fasst Osterhammel eine Bürokratie, die für Sicherheit sorgt, eine unabhängige Justiz und eine effektive Finanzverwaltung besitzt, in der Korruption strafbar ist und Beamte Laufbahnbeamte sind, die für ihre Posten Kompetenzen benötigen und Sie nicht kaufen. Wo dieses neue Verwaltungsverständnis auftritt, herrscht ein modernerer Staat. für Osterhammel besonders interessant ist, wo dieses europäisch geprägte Verständnis rationaler Bürokratie auf die außereuropäische Welt trifft. Diese Ideen trafen oft auf fähige und lange bestehende, aber üblicherweise überhaupt nicht kompatible Verwaltungstraditionen. Der koloniale Staat brachte so seine eigenen Institutionen mit und etablierte diese üblicherweise als Parallelsystem, dem die Einheimischen nur als Objekte der Gewaltausübung begegneten und das den Kolonisatoren weitgehende Schutzrechte einräumte.

Unter allen kolonisierten Staaten sieht Osterhammel nur in Indien eine leistungsfähige Bürokratie, die es mit der Europäischen hätte aufnehmen können. Ironischerweise war diese Bürokratie sogar besser als die britische, dass sie meritokratischer und von weniger Korruption geprägt war. der Kolonialismus prägt so auch seinen Ursprung. die Briten übernahmen das meritokratische Prinzip für ihre eigenen Behörden, während gleichzeitig die permanente Gewaltausübung der kolonialen Behörden wieder nach Hause zurück importiert wurde, was diesen Prozess entschieden ambivalent macht. Siehe hierzu auch Caroline Elkins „Legacy of Violence“, dass ich hier rezensiert habe.

Solcherlei Vermischungen verschiedener Verwaltungstraditionen gab es außerhalb Indiens praktisch nicht. Osterhammel nennt als Beispiel die konfuzianisch geprägte Bürokratie Chinas, hier als Kontinuitätslinie von den Ming über die kurze Republik zu Mao und bis in die heutige Diktatur Xi Xinpings laufen sieht. verschiedene Reformversuche der chinesischen Regierungen in diesen zwei Jahrhunderten scheiterten weitgehend in dem Versuch, eine rationale Bürokratie aufzubauen. Dieser Wunsch bestand bei vielen Ländern der Peripherie durchaus, weil man sich gegenüber dem kolonisierenden Westen als im Nachteil begriff. Solcherlei Reformversuche bildeten für die autokratischen Herrscher jedoch immer große Gefahrenpunkte, dass sie die politischen Verhältnisse durcheinanderwirbelten und der Pfadabhängigkeit von Politik widersprachen, so dass viel Widerstand hervorgerufen wurde, der sich auch gerne in Putschversuchen niederschlug. Ein Positivbeispiel solcherlei Modernisierungen ist Japan, das seien die Bürokratie vor dem Rest des Landes modernisierte und dadurch ihr das umgekehrte Problem schuf: eine hocheffektive Bürokratie mit einer großen Gefahr der Verselbstständigung. Genau das sollte im 20. Jahrhundert dann auch geschehen.

Osterhammel macht für den Westen im 19. Jahrhundert einen generellen Trend aus, den er als „Durchstaatlichung“ bezeichnet. Damit meinte er die Übernahme von immer mehr Aufgaben durch den Staat, der für die Erledigung dieser Aufgaben immer leistungsfähigere Verwaltungen aufstellen muss, die ihrerseits die Grundlage für die Übernahme neuer Aufgaben bilden können. Ein zentrales Element allerdings fehlt im 19. Jahrhundert und muss auf das 20. warten: ein modernes Steuersystem. Im 19. Jahrhundert blieb der Umfang des Staates trotz allem sehr begrenzt und diente vor allem der Aufstellung eines möglichst schlagkräftigen Militärs. Das Steuersystem diente der Finanzierung eben dieses Militärs und der Verwaltungsstrukturen, die hierfür notwendig waren. Steuern im Sinne von Steuerung und ihre planmäßige Erhebung was mit den heute bekannten Instrumenten gab es im 19. Jahrhundert effektiv nicht.

Beim Stichpunkt Militär zerstört Osterhammel den Mythos der angeblichen demokratischen Wehrpflicht: anders als oft behauptet, gibt es eine wirklich demokratische Wehrpflicht nicht etwa mit der levée en masse in der französischen Revolution, sondern erstmals Ende des Jahrhunderts in Deutschland (ich möchte an dieser Stelle auch auf Wilsons Magnum Opus zu deutschen Militärgeschichte verweisen, das ich hier rezensiert habe). üblicherweise zog das Militär im 19. Jahrhundert Rekruten aus der Peripherie ein und zwang diese überwiegend zu langen Dienstzeiten. Es herrschte eine klare Trennung von den Offizieren und zum Militär eingezogen zu werden bedeutete häufig ein Dauerschicksal für die Betroffenen. Gleichzeitig traf dieses Schicksal die Menschen im jeweiligen Land sehr unterschiedlich und eher willkürlich, keinesfalls aber demokratisch und egalitär.

Eine andere Entwicklung, die zum Machtgewinn des Staates gehört, war der Aufbau moderner Polizeien ab Mitte des 19 Jahrhunderts. Stilbildend war hierfür die französische Gendarmerie. Sie war im 19. Jahrhundert das modernste und am häufigsten als Vorbild gehandelte Polizeiwesen. Auffällig ist ebenfalls, welche Wechselwirkungen zwischen kolonialen Praktiken und der Polizeiarbeit zu Hause es gab (man Vergleiche hier einmal mehr mit Caroline Elkins (hier rezensiert)). die USA nahmen hier eine Sonderstellung ein, weil die Polizeigewalt dort stark fragmentiert und vor allem privatisiert war, eine Pfadentscheidung, die bis heute deutlich nachwirkt.

Auffällig ist für Osterhammel auch der deutliche Moralismus dieser zunehmenden Staatstätigkeit: Er steckt ein klare, moralisch legitimierte Erziehungsziele gegenüber der Bevölkerung dahinter, die gegebenenfalls brutal durchgesetzt wurden. Ein Musterbeispiel hierfür sind die Gefängnisreformen des 19. Jahrhunderts: das Gefängnis wandelte sich von einem Ort der Bestrafung, Folter und des Todes hinzu einem Ort der Resozialisierung, wo die auf Abwege geratenen Staatsbürger*innen zum rechten Lebensweg erzogen werden sollten. Die europäischen und amerikanischen Gefängnisse galten in vielen anderen an Modernisierung interessierten Ländern wie Japan als große Vorbilder - nichts, was heute noch Geltung haben würde.

Was demgegenüber in der Staatstätigkeit praktisch überhaupt nicht vorkam, war die Schaffung eines Sozialstaats. Auch dies war ein Phänomen des 20. Jahrhunderts; die Anfänge desselben im kaiserlichen Deutschland sollten davon nicht ablenken. Sie stellten bei weitem nicht den universalen Anspruch bereit, den wir heute mit sozialstaatlichen Leistungen verbinden.

Der Verweis auf die Vorbildwirkung all diese Reformen und Modernisierungen ist nicht aus der Luft gegriffen. Osterhammel postuliert einen Reformdruck an der Peripherie, die eine Wahrnehmung eigener Rückständigkeit besaß. So waren sich Staatsgebilde wie das Osmanische Reich oder das chinesische Kaiserreich ihrer relativen Rückständigkeit bei der modernen Staatsgestaltung schmerzhaft bewusst. Das Problem war, dass entsprechende Reformen ein Gefahrenpotenzial für interne Umstürze boten. Es waren nur sehr wenige Experten verfügbar, die solche Reformen umsetzen konnten, weswegen sie immer auch Zentralisierungsprozesse waren (wie man musterhaft ähm osmanischen Reich feststellen kann). Gleichzeitig ermöglichten allerdings die verschobenen Zeiträume der Modernisierungen einen gegenseitigen Lernprozess.

Ein allgemeingültiges Phänomen des 19. Jahrhunderts dagegen, egal ob an der Peripherie oder im Zentrum, war das Ende der Ideologie eines starken Staats. Anders als während des Absolutismus‘ galt ein starker Staat nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Gefahr. Zumindest auf dem Papier bekannten sich alle Staaten, die diese Art von Modernisierung nacheiferten, zu liberalen Werten und damit zu einer Einhegung staatlicher Gewalt.

Der mit der Modernisierung verbundene Machtgewinn - ein zentrales Motiv all derjenigen Komma die sie anstrebten - geriet in Verbindung mit dem Imperialismus zum Nullsummenspiel: alle diejenigen, die darin scheiterten, diese Modernisierung durchzuführen, vielen in den Einflussbereich derjenigen, denen es gelang. Der Nationalismus, die beherrschende Ideologie des 19. Jahrhunderts, war für diese Verlierer der Modernisierung ein defensiver Schachzug, der es ihnen ermöglichte, Abwehrkräfte für einen asymmetrischen Verteidigungskampf zu mobilisieren. Obwohl um die Jahrhundertwende überall über nationale Identität diskutiert wurde, gab es keinen Staat und kein Reich weltweit, das eine farbenblinde Staatsbürgerschaft auf dem Plan gehabt hätte. Die Gleichheit aller Bürger und schon gar nicht die Gleichheit aller Bürger*innen vor dem Gesetz ist ebenfalls eine Idee des 20. Jahrhunderts - und wenn wir ehrlich sind eine, die ihre Erfüllung immer noch harrt.

Damit beginnt der letzte Abschnitt des Buches, der mit dem umfassenden Titel "Themen" überschrieben ist.

Das erste davon wird in Kapitel 12, "Energie und Industrie", behandelt. Osterhammel befasst sich hier mit den verschiedenen Kontroversen um den Begriff der Industrialisierung. Vorrangig geht es um die Frage, ob es eine Art Urknall der Industrialisierung (natürlich in England) gibt oder ob es stattdessen nur Teil einer viel längeren, mindestens bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden Entwicklung ist. Diese Frage ist gar nicht so abwegig, wie sie scheint. Die Wachstumsraten während der Phase, die wir im Allgemeinen als industrielle Revolution identifizieren, waren relativ gering. Es ist der zeitliche Abstand, der es uns ermöglicht, hier von rasanten Entwicklungen auszugehen. Weitere Forschungsfragen sind die Verbindung von quantitativen und qualitativen Aspekten der Analyse und das weitgehende Fehlen einer Meistererzählung zur industriellen Revolution, die alte Frage, warum sie ausgerechnet in Europa stattfand und schließlich die ebenfalls nicht nur akademische Fragestellung, ob sie sich musterhaft weltweit wiederholte oder ob jedes Land seinen eigenen Weg ging.

Im Folgenden stellt Osterhammel einige der wichtigsten Theorien zur Industrialisierung vor (Marx, Kandrat'ev, Polyanyi, Rostow, Gerschenkorn, Bairoch, Landes, North/Thomas). Es ist auffällig, dass diese Auflistung effektiv in den 1970er Jahren endet. Dies liegt laut Osterhammel daran, das seither praktisch keine neuen Theorien zu industriellen Revolutionen mehr aufgestellt wurden; sie sei gewissermaßen „austheorisiert“.

Nach dieser theoretischen Grundlagenarbeit geht es zurück zur englischen industriellen Revolution. Für Osterhammel fällt ohnehin nur der Zeitraum zwischen 1750 und 1850 in Großbritannien unter diesen Begriff; alles andere will er lieber mit „Industrialisierung“ umgeschrieben wissen. Die vielen Faktoren, die für den Beginn der Industriellen Revolution in Großbritannien relevant und ausschlaggebend waren, sind den meisten wohl noch aus dem Geschichtsunterricht geläufig. Osterhammel konzentriert sich auf drei: die in Europa einzigartige Binnennachfrage durch eine Frühform des Konsumentenmarkts; intensiver Überseehandel dank einer beherrschenden Stellung auf den Weltmeeren; und zuletzt die Annäherung der Milieus von Theoretikern (also Wissenschaftlern verschiedener Couleur) und Praktikern (Handwerkern und Unternehmern).

Für den Prozess der Industrialisierung schlägt er gleich ein ganz alternatives Konzept vor, das der so genannten „Industrious Revolution“, also einer „Revolution des Fleißes“. Möglicherweise waren die Briten Ende des 18. Jahrhunderts auch schlicht das fleißigste Volk der Welt; die Anklänge an Max Weber und seine protestantische Arbeitsethik sind unüberhörbar.

Das Bild ist verkompliziert sich aber weiter durch zahlreiche Kontinuitäten zur frühen Neuzeit. Die Fragestellung hier lautet, ob es eine Protoindustrialisierung gab. Das Problem an der Sache ist, dass sich solche Kontinuitäten zwar für die meisten sich industrialisierenden Länder nachweisen lassen, in denen die Bauern Nebentätigkeiten in der Industrie übernahmen und so graduell eine Industrialisierung vonstattenging. aber gerade in Großbritannien geschah das nicht. Dazu kommt, das ist Wachstumstrends in Höhe der industriellen Revolution - wir sprechen von etwa 2% Wachstum im Jahr - bereits vorher gegeben hatte; neu war „lediglich“ die Dauer dieser Wachstumsentwicklung. Der wirtschaftliche Normalfall bisher waren Phasen des Wachstums und der Kontraktion in stetigem Wechsel gewesen. In jedem Falle allerdings blieb die sogenannte Industrialisierung ein Phänomen einzelner Branchen und Regionen; die größten Teile der betroffenen Länder blieben noch lange Zeit rückständig.

Umso auffälliger ist auch, dass gerade Großbritannien sehr lange brauchte, um institutionelle Bremsen zu entfernen, die in anderen Ländern zu einer wesentlich schnelleren Industrialisierung führen würden. Was dem Land letztlich half war sein großer zeitlicher Vorsprung. Osterhammel verwirft deswegen an dieser Stelle auch endgültig die Metapher vom sogenannten „take-off“, wie er bedauerlicherweise heute noch in den Bildungsplänen der Schulen zu finden ist. Der Wert eines zeitlichen Vorsprungs sollte nicht überschätzt werden: Innovationen, beispielsweise die Dampfmaschine, verbreiteten sich sehr, sehr schnell. eine der institutionellen Bremsen, die sich in allen Ländern feststellen lässt, ist im Übrigen die Landreform. Nur wo eine solche nachhaltig durchgeführt wurde, also die Bauern befreit wurden, entstand das Proletariat, das für die Industrialisierung so notwendig war.

Osterhammel verwirft sogar den Begriff der industriellen Revolution weitgehend, weil er die industrielle Produktion als gerade nicht revolutionär betrachtet, da sie bestehende Produktionssysteme erhielt und integrierte. Der Wandel hinzu dem, was wir als industrialisierte Wirtschaft betrachten, war sehr langfristig und graduell. Viel bedeutender als die erste industrielle Revolution mit ihren Dampfmaschinen und dem Abbau von Kohle war die sogenannte zweite Industrielle Revolution mit ihrem Fokus auf Stahl, Chemie und Elektrizität. Diese Technologien verbreiteten sich anders als die der ersten industriellen Revolution quasi sofort über den gesamten Erdball. Dabei half auch eine weitere Revolution, die wirtschaftliche Revolution, nämlich die Erfindung des multinationalen Konzerns gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Das große ungelöste Rätsel der Industrialisierungszeit bleibt die sogenannte „große Gabelung“ (great divergence) zwischen Europa und Asien im 19. Jahrhundert. Beide waren um 1800 wirtschaftlich sehr ähnlich entwickelt, divergierten dann aber drastisch. Osterhammel postuliert, dass das starke Wachstum in China und in etwas abgeschwächter Maße den meisten anderen Ländern Südostasiens im Endeffekt das Schließen diese Gabel bedeutet und letztlich als eine Art Abschlusspunkt eine fast 200jährigen Trennung gesehen werden muss. China und Indien seien daher nicht Phänomene einer globalisierten Wirtschaft, wieso oft behauptet wird, sondern vielmehr Produkte einer Industrialisierung.

Als nächstes beschäftigt sich Osterhammel mit Energieregimen: das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Energie gewesen. Die Erzeugung von Energie habe die Zeitgenossen in ihren Bann geschlagen. Erstmals war es möglich, die Grenzen der biologischen Energieerzeugung deutlich zu überschreiten. Dies ging allerdings deutlich langsamer vonstatten, als populäre Darstellungen der industriellen Revolution dies häufig suggerieren (eine Art Leitmotiv dieses Kapitels). Die Verbreitung der Kohle als Energiemittel etwa vollzog sich sehr langsam; erst ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war hier eine deutliche Zunahme sichtbar. Für das 19 Jahrhundert galt dasselbe auch für Erdöl. Stattdessen blieb Holz ein wichtiger Energieträger und die Kraft des Tieres eine wichtige Quelle von Energieerzeugung.

Entscheidend für die Verbreitung der furchtbar ineffizienten Dampfmaschine etwa war der Status des Kohlebergbaus (Bret Deveraux hat dies ja sehr gut beschrieben). Länder wie Japan, die kaum Kohlebergbau betrieben, Hulten die Industrialisierung daher erst später, dafür aber dank effizienterer Maschinen im Zeitraffer nach. Gerade in Japan setzte man vor allem auf Wasserkraft, was mir deutlich zu zeigen scheint, dass es unterschiedliche Wege zur Industrialisierung gibt. Auch Russland schimpfte lange Zeit sehr wenig Kohle, weil man hier staatlicherseits die Bedeutung der Montanindustrie verkannte. China hatte ein ständiges Problem mit dem Energiemangel, obwohl es nicht an natürlichen Ressourcen bezüglich Kohle gemangelt hätte: Hier war es das politische Chaos, das Transport und Ausbeutung nicht erlaubte.

Durch diese Entwicklung entstand, was Osterhammel einen „Energiegraben“ nennt: der Westen konnte in zunehmendem Maße auf fossil erzeugte Energie zurückgreifen, während der Osten auf biologisch erzeugte Energie beschränkt blieb. Dieses Phänomen sei nicht nur in der Rückschau erkennbar, sondern von den Zeitgenossen bereits so wahrgenommen worden und habe zu einer Änderung der Wahrnehmung der Welt geführt: der Westen galt als energisch, energiegeladen und jung, der Osten als rückschrittlich, schlaff und stagnierend. Was der Zugang zu Energie wurde somit auch rassistisch erklärt und begründet.

Osterhammel skizziert im folgenden einige Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung. Er verweist darauf, dass die Industrialisierungsniveaus in Europa sehr stark divergierten. In Lateinamerika so gab es zwar große Rohstoffexporte, aber keine eigene Schwerindustrie. Die aufstrebende Textilindustrie blieb fragmentiert und ohne Skalengewinne. In China blockierte der Staat die Industrialisierung und damit auch die Modernisierung lange und konnte, nachdem er ihre Notwendigkeit erkannt hatte, bis in die 1980er Jahre keine vernünftige Politik setzen. Indien habe eine quantitativ beeindruckende Baumwollindustrie aufgebaut, sonst allerdings nur wenig industrielle Entwicklung erreichen können. Dieses Scheitern bleibe schwer erklärbar, der einzelne unternehmerische Erfolge durchaus existierten und simple Kolonialismus kritische Erklärungsmuster nicht tragfähig seien.

Japan habe eine gute Verwaltung, inneren Frieden und einheitliche Binnenstrukturen aufweisen können, die Unzweifelhafte industrielle Entwicklung begünstigten. gleiches gelte aber für Teile Indiens und Chinas genauso, weswegen das zwar möglicherweise notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingungen darstellen würden. tragfähiger sei daher die Idee der Industrialisierung als ein nationales politisches Projekt. Japan etwa habe keine Abhängigkeit von ausländischem Kapital aufgewiesen, aber klare politische Rahmensetzungen geschaffen, eine leistungsstarke Finanzverwaltung mit effektiver Besteuerung aufgebaut und eine ausgeglichene Handelsbilanz ohne zu starken Exportfokus erreicht. Gleichzeitig habe im Land eine Industrious Revolution stattgefunden, die durch eine kulturell bedingte Zurückhaltung beim Luxuskonsum durch die Eliten begleitet worden sei.

Die Idee der Industrious Revolution er hält laut Osterhammel durch die Formel weitere Durchschlagskraft, dass der Staat der Wirtschaft auch in früheren Zeiten eigentlich nie im Weg stand, vor dieser Wandlung im Erwerbsstreben allerdings niemals dynamisches Wachstum erreicht worden sei.

Das leitet hervorragend zu Kapitel 12, „Arbeit„, über. Gearbeitet haben Menschen stets. das ist natürlich eine Binse, muss allerdings im Zusammenhang mit der industriellen Revolution durchaus noch einmal betont werden. was eine Trennung des 20. Jahrhunderts (und nicht des 19.!) gewesen sei, sei allerdings die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Diese sei ohnehin nur in wenigen Regionen der Welt jemals so klar erreicht worden wie im Westen.

Im 19. Jahrhundert bestand ein Großteil der Arbeit immer noch aus landwirtschaftlicher Arbeit. das Phänomen des „Bauern“ allerdings war ein extrem vielschichtiges. Die Theorie der Agrargeschichte oszilliere laut Osterhammel über die Jahrzehnte immer wieder zwischen einem gemeinschaftlich organisierten ideal der agrarischen Gemeinschaft, das praktisch keine Berührungspunkte zum Kapitalismus besitzt, und der Vorstellung des Bauern als Agrarunternehmer, der ihnen Kategorien von Angebot und Nachfrage denke.

Wichtig für das Verständnis der Agrargemeinschaften sei das Dorf. dies sei umso relevanter, je mehr das Dorf eine staatlich anerkannte Verwaltungseinheit gewesen sei. in Japan etwa war dies in großem Ausmaß der Fall, in China hingegen überhaupt nicht. Damit korrespondierten unterschiedliche Vorstellungen von Privatbesitz. So war in China fast alles Land in Privatbesitz, in Japan dagegen häufig im Besitz der Dorfgemeinschaft. Osterhammel streift auch kurz andere Formen bäuerlicher Arbeit. Da wären etwa die Plantagen (sehr kapitalistisch organisiert, da sie einen hohen Kapitalbedarf hatten), die auch ohne koloniale Strukturen vorkamen, wie man am Beispiel Ägypten sehr gut beobachten könne. eine andere Form waren die Haciendas, wie sie etwa in Lateinamerika noch häufig zu finden waren. diese Unterschieden sich von Plantagen durch ihre eher Normen- und kreditgebundene Natur aus gegenseitigen Schuldverhältnissen, die das vorhandene Kapital deutlich begrenzte (allerdings auch die Ausbeutung) und so ein eher rückständiges Wirtschaftsmodell darstellte.

Im Handwerk sei die vorindustrielle Arbeitsweise weiterhin beherrschend gewesen. Als ein dominantes Beispiel nennt Osterhammel hier die Schmiede: sie seien oft über lokal tätig gewesen und mit der bemerkenswerten Ausnahme Chinas sehr angesehen. Ein anderes Phänomen waren die Werften, in denen als erstes Frühformen organisierter Arbeit zu beobachten sind, weil hier permanent Fachkräfte tätig waren.

Das Phänomen Fabrik sei dagegen kein rein städtisches gewesen, auch wenn das Klischee anderes vermuten lasse. Stattdessen in stünden Städte häufig um Fabriken herum oder aber die Fabriken waren auf dem flachen Land zu finden und von der restlichen Gesellschaft weitgehend abgeschottet. Ohnehin sei die Fabrikarbeit viel stärker ein Übergangsphänomen gewesen, als die vereinfachenden Darstellungen dies häufig vermuten ließen. Menschen arbeiteten phasenweise in eher temporär aufgestellten Fabriken. Die Neuartigkeit der Erfahrung der Fabrikarbeit oder so durch improvisierte Mischformen abgemildert.

Die prototypisch zitierten Stahlwerke habe es nur in sehr wenigen Ländern und dort auch nur in sehr geringer Zahl gegeben. Die meisten Menschen arbeiteten in anderen Branchen und im 19. Jahrhundert generell nicht in Fabriken. Dies sei, genauso wie die Konzentration auf die großen und ikonischen Stahlwerke, ein Klischee. Wesentlich relevanter für die Alltagserfahrungen der Menschen waren die Großbaustellen bis 19. Jahrhunderts. Hier wurden Massen ungelernte Wanderarbeiter in großer Zahl zu furchtbaren Arbeitsbedingungen beschäftigt. Die beiden größten Projekte solcher Großbaustellen waren der Eisenbahn- und der Kanalbau. Beide waren für die Infrastruktur der Industrialisierung unerlässlich. Für die Arbeiter*innen War diese Arbeit eine Tortur, die Allzuhäufig mit Verstümmelung oder Tod endete und die keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten bot.

Eine weitere Arbeitsform, die im 19. Jahrhundert noch signifikante Mengen von Menschen beschäftigte, war die Schifffahrt. Zwar fand langsam ein Wandel zur weniger Personalintensiven Dampfschifffahrt statt, aber trotzdem blieb die Menge der benötigten Matrosen weiterhin hoch. Die Arbeit auf den Schiffen gehörte zu den härtesten, eintönigsten und gefährlichsten, die sich denken ließ. Entsprechend unbeliebt war sie. ganz besonders furchtbar muss die Arbeit auf den Walfängern gewesen sein. Hier kamen zu den üblichen Schwernissen der Segelschifffahrt noch die lange Zeit auf dem Meer und die permanent brennenden Öfen hinzu.

Gleichzeitig war das 19. Jahrhundert der Beginn der großen Büroarbeit. War der Sekretär früher ein hochrangiger Posten, gut bezahlt und mit exklusivem Zugang zu den Mächtigen und nur von wenigen Spezialisten ausgeübt, wurde er nun zu einem schlecht bezahlten Job des Stehkragenproletariats, der wie so häufig zunehmend von Frauen ausgeübt wurde. Generell waren die meisten Jobs in der Verwaltung eher schlecht bezahlt und unterschieden sich von den Industriejobs hauptsächlich dadurch, dass man nicht körperlich gefährdet war und nicht schmutzig wurde.

Ein weiteres Arbeitsmerkmal des 19. Jahrhunderts waren die Dienstbotenverhältnisse. während die Zahl der Dienstboten in der Oberschicht, die bis dato alle möglichen Arten von Dienstboten vom Küchengehilfen bis zum Kapellmeister beschäftigt und so ihren Status kenntlich gemacht hatte, langsam abnahm (was manche Jobs praktisch völlig zerstörte), nahm die Zahl der Dienstboten dafür in der sich neu bildenden Mittelschicht dramatisch zu. Gleichwohl ging dabei etwas Differenzierung zwischen den verschiedenen Dienstverhältnissen verloren, da selbst in den reicheren Mittelschichtenhaushalten wenig Bedarf für Orchester bestand.

Der letzte Aspekt, dem sich Osterhammel detailliert widmet, ist der Unterschied zwischen freier und unfreier Arbeit. Sklaverei existierte in verschiedenen Formen in großen Teilen der Welt des 19. Jahrhunderts, wurde in seinem Verlauf aber nach und nach durch eine rechtliche Revolution abgelöst, die mit Ausnahme Haitis allerdings von keiner soziale Revolution begleitet wurde. Das garantierte, dass die befreiten Sklaven eine marginalisierte und chancenlose Unterschicht blieben.

Das 19. Jahrhundert war auch das Ende der Leibeigenschaft: zu seinem Beginn existierte sie noch in großen Teilen Europas und Asiens, zu seinem Ende war sie offiziell weitgehend abgeschafft, wenngleich etwa in Russland die feudalen Schuldverhältnisse immer noch in abgeänderter Form fortbestanden und zu weitreichendem Unmut Anlass gaben.

Generell postuliert Osterhammel, dass „freie Arbeit“, wie sie von liberalen Vordenkern propagiert wurde, in verschiedensten Mischformen von unfreier Arbeit begleitet wurde. So etwa war die Indentur ein Phänomen, das durch die liberale Ideologie einerseits und rassistische Status Notwendigkeiten andererseits im frühen 19. Jahrhundert weitgehend abgeschafft wurde, bin gleich verschiedenste Zwangsverhältnisse ob auf dem Land mit der Gesindeordnung oder in den Fabriken durch praktisch unbeschnittene Vorrechte der Unternehmer fortbestanden. Osterhammel erklärt auch klar, dass unfreie Arbeit nicht ineffektiver war als freie Arbeit. Es gab also keinen ökonomischen Impetus zu ihrer Abschaffung, sondern nur einen moralischen. Dies erklärt auch, warum sie sich so lange hielt und selbst bis heute weiter existiert. Apple etwa kennt und nutzt diese Formen ja durchaus auch noch für die Produktion der modernen Smartphones.

Kapitel 14, "Netzwerke", führt eine Metapher ein, die uns heute sehr vertraut ist, die allerdings ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert besitzt. Im 17. und 18. Jahrhundert nutzte man als Metapher für Organisationsformen in der Gesellschaft immer noch den menschlichen Körper und sein Zirkulationssystem. Netze, wie wir sie kennen, etwa die entscheidenden Wasser-, Strom- und Gasnetze sind allerdings eine Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts, die in weiten Teilen Europas und Nordamerikas erst im Verlauf des 20. und in anderen Teilen der Welt bis heute noch nicht vollständig verbreitet sein würden. Dasselbe gilt für soziale Netze, die ebenfalls ein Phänomen des 20. Jahrhunderts darstellen.

Das 19. Jahrhundert ist stattdessen ein Zeitalter zunehmender Vernetzung der Menschen untereinander, die häufig unter dem Begriff Globalisierung gefasst wird. Verkehr und Kommunikation spielen daher eine Hauptrolle. Die erste hierfür relevante Innovationen stellt das Dampfschiff dar, das zuerst auf Binnengewässern und später auch auf den Ozeanen wesentlich zuverlässigere Planungen und Fahrpläne ermöglichte als die vorher vorherrschende Segelschifffahrt. Gleichzeitig erforderte es gerade im militärischen Bereich ein ausgedehntes logistisches Netz mit Basen, das nur den wenigsten Nationen offenstand. Deswegen gelang es auch ausschließlich einigen wenigen Europäern, Amerikanern und der einzigen Ausnahme Japan, transozeanische Marinen zu entwickeln.

bei der Binnenschifffahrt sah dies anders aus: hier schafften wesentlich mehr Länder den Ausbau der für das 19. Jahrhundert so charakteristischen Kanäle und auch die Einführung von Dampfschiffen auf Flüssen und Seen. oft gelang es ihnen sogar beeindruckend gut, die westliche Konkurrenz aus diesen Bereichen fernzuhalten, wie man etwa am Beispiel Chinas sehen kann.

Während die Schiffe globale Vernetzung beförderten, waren die Eisenbahnen ein nationales Integrationsinstrument. In den meisten Ländern traten sie nur in Form von Stichbahnen auf, die strategisch wichtige Orte in einer direkten Linie miteinander verbanden. Von einem tatsächlichen Eisenbahnnetz kann man daher nur in relativ Linux Ländern sprechen. Gleichwohl wurde der Eisenbahn von praktisch sämtlichen Staaten, auch denen, die eher an der Peripherie der Entwicklung lagen wie das Osmanische Reich, als zentrale Mittel staatlicher Entwicklung und Integration gesehen.

Der Telegraph zuletzt verband die Welt auf eine völlig neuartige Weise. Gleichwohl tat er dies nicht in der demokratisierenden Art, in der es in den 1920er Jahren das Telefon tun würde: der Telegraph war vergleichsweise teuer und auf die ökonomische, diplomatische und militärische Elite beschränkt. Er schuf allerdings gänzlich neue Hierarchien: wer Zugang zu einem Telegraf besaß, was gegenüber denjenigen, auf die das nicht zutraf, dank des Zeitvorteils in einer überlegenen Position. Dies wurde beispielhaft in der Faschoda-Krise deutlich, als der britische Kommandeur mit seiner Regierung per Telegraf kommunizieren konnte und der französische nicht.

Osterhammel wendet sich nun dem Handel zu. Anders als man vielleicht erwarten könnte, behielten viele Akteure aus dem 17. und 18. Jahrhundert auch an der Peripherie ihre Position. Die Produzenten und Händler vor allem in Asien bewahrten sich eine Machtstellung gegenüber dem Westen und waren auch in der globalisierten Wirtschaft in einem Ausmaß relevant, das gegenüber der Entwicklung im 20. Jahrhundert überrascht. Ein Grundproblem des Westens war der Absatz der eigenen Produkte, der außerhalb seiner eigenen Hemisphäre mangels Nachfrage schwierig war. Gleichzeitig wollte man die Rohstoffe dieser Länder importieren. Der Opiumkrieg war nur die berühmteste Verwerfung, die sich aus dieser Dynamik ergab (siehe dazu Stephen Platt – Imperial Twilight. The Opium War and the end of China’s last Golden Age (hier rezensiert)).

Er macht drei zentrale Entwicklungen des Handels im 19. Jahrhunderts aus, die eine zentrale Rolle spielen: erstens die Innovationen in der Schifffahrt, die Transporte von Massengütern deutlich rentabler machten, teilweise jahrhundertelang bestehende Monopole aufbrachen und neue globale Märkte schufen. Zweitens der rein quantitative Aspekt einer gigantischen Zunahme des globalen Handelsvolumens und drittens die Änderung von Wertschöpfungsketten, die wesentlich komplexer wurden und viel mehr Spieler einführten, als dies bislang in der vergleichsweise einfachen Handelskette vom Produzenten zum Endabnehmer der Fall gewesen war.

Wesentlich bedeutsamer als die Verschiebungen im globalen Handelssystem war die Entwicklung einer globalen Finanzwirtschaft. Hier waren die Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen Nationen wesentlich größer und spielte der Aspekt der Vernetzung eine deutlich entscheidende Rolle.

Der erste Aspekt hier besteht in der Systematisierung der Währungen. Sehr vielen Ländern gelang es nicht, eine einheitliche Währung herzustellen (etwa China), was ihre wirtschaftliche Entwicklung wesentlich mehr hemmte als die Handelsstrukturen. Große Teile Europas erhielten durch die sogenannte Lateinische Münzunion eine de facto einheitliche Währung, die den Handel wesentlich erleichterte. Ein entscheidender Anker hierfür war das Pfund Sterling, und das als eine Art anerkannte Leitwährung operierte. Die Gründe hierfür werden gleich noch erläutert.

Während des 19. Jahrhunderts tobt hier eine Debatte über die Rolle von Silber als Grundlage von Währungen, die erst zum Ende der Epoche eindeutig zugunsten des Goldes geklärt wurde. Vorher gab es zahlreiche Versuche, mit Silber ein zweites Standbein der Währungsdeckung zu etablieren. Es war vor allem die britische Entscheidung für Gold, die diese Frage entschied. Der Wettbewerbsvorteil des Pfund Sterling er zwang eine Ausrichtung aller anderen Währungen an diesem Standard, was dazu führte, dass er mit einer moralischen Komponente aufgeladen wurde: spätestens seit der Gründung des Deutschen Reiches und seiner Übernahme des Goldstandards galt er als Merkmal einer voll entwickelten, modernen Nation.

Entsprechend versuchten andere Nationen, um Respektabilität zu erlangen, ebenfalls dem System des Goldstandards anzugehören. Dies gelang außerhalb Europas und Nordamerikas nur Japan, das mit der mittlerweile bekannten langfristig orientierten Planung und vorsichtiger Wirtschaftspolitik große Goldreserven und ein nationales Bankensystem aufbaute. Dieses Bankensystem war entscheidend, da ist die Aufnahme größerer Mengen Staatsschulden erlaubte - vorher gab es schlichtweg keine Quelle, bei der man sich verschulden konnte - und nur Staaten im Goldstandard offenstand. Wenn also ein Staat die Dinge tun wollte, die ein moderner Staat des 19. Jahrhunderts zu leisten hatte, führte an Staatsverschuldung kein Weg vorbei - und für die brauchte es Zugang zu Banken und deren positive Bewertung der staatlichen Leistungsfähigkeit. Osterhammel macht allerdings deutlich, dass dies kein wirklich globales System war. Große Teile der Welt blieben an dieses neue Finanzsystem nicht angeschlossen und behielten etwa wie China bis weit ins 20. Jahrhundert andere Währungssysteme bei. Insgesamt aber war klar, dass ein modernes und auf der Höhe der Zeit stehendes Land, das als gleichwertig anerkannt werden wollte, dem Goldstandard anzugehören hatte. Daher kam die starke moralisch aufgeladene Komponente dieses Aspekts der Staatsfinanzen, die sich bis heute erhalten hat.

Damit verbunden war eine weitere Konsequenz: zum ersten Mal war einigen wenigen mächtigen Finanzmärkten möglich, große Mengen von Kapital zu exportieren und in Form von Investitionen in anderen Ländern unterzubringen. Für die meisten Länder bedeutete dies einen massiven Souveränitätsverlust. Gleichwohl muss man vorsichtig sein, die Interessen der Finanzwirtschaft als deckungsgleich mit denen ihrer jeweiligen Nationen zu sehen: die französischen Kapitalisten etwa investierten bereits massiv in Russland, als dieses noch ein treuer Verbündeter Deutschlands war, sehr zum Verdruss der französischen Regierung.

Spannenderweise war der Kapitalexport im 19. Jahrhundert trotz all dieser Einschränkungen globaler als im 20. und 21. Die westlichen Länder und einige wenige andere beherrschen die globale Finanzwirtschaft heute in einem viel stärkeren Ausmaß, als dies im imperialistischen 19. Jahrhundert der Fall war. Die Startvorteile dieser Nationen haben sich gewissermaßen wie Zinsen aufgebaut. Auch sind die Auswirkungen dieser „Kapitaldiplomatie“ im 19. Jahrhundert wesentlich weniger stark als gegen Ende des Jahrhunderts oder im 20.: so war etwa ein kompletter Staatsbankrott mit einseitiger Aufkündigung der Schulden im 19. Jahrhundert unvorstellbar, wurde allerdings im 20. wesentlich häufiger.

Kapitel 15, "Hierarchien", geht dann zu den harten Machtverhältnissen über. Osterhammel erinnert zu Beginn des Kapitels noch einmal daran, dass alle vereinfachenden Darstellungen von Gesellschaften letztlich unhistorisch sind: so etwas wie „die Deutschen“ oder auch „die Schwaben“ gibt es nicht; solche Verallgemeinerungen sind üblicherweise nicht besonders tragfähig. Dementsprechend gibt es auch keine große Gesamterzählung für die soziologische Geschichte des 19 Jahrhunderts. Die Zeitgenossen dagegen waren deutlich weniger vorsichtig. Sie konstruierten natürliche Übergänge und Entwicklungsstadien, in deren zumindest aktuell höchstem sie sich selbstverständlich verorteten.

Eine große Erzählung des 19. Jahrhunderts war dabei der Übergang von der Feudal- zur Klassengesellschaft. Diese Erzählung hat das offensichtliche Problem, dass sie nur für sehr wenige Länder zutrifft, von den Zeitgenossen aber verallgemeinert wurde. So attestiert Osterhammel etwa Russland eine größere soziale Mobilität, weil die Stände trotz anderslautender Versuche der Zaren nie in dem Ausmaß kodifiziert waren, wie dies etwa in Frankreich der Fall gewesen war. In Asien, Amerika und Afrika traf die Erzählung ohnehin nicht zu.

Die erste dieser sozialen Klassen war der Adel. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert seines schleichenden Niedergangs. Er nationalisierte sich in Europa vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark, nachdem er lange Zeit sehr international angelegt gewesen war (was ihm auch seine vergleichsweise große Langlebigkeit beschert hatte). Dies ermöglichte einen konservativen Nationalismus. Anhand der Beispiele Frankreichs, Russlands und Englands zeigt Osterhammel verschiedene Entwicklungspfade des Adels auf. Der französische erholte sich niemals von der Revolution und konnte auch unter Napoleon III. kein echtes Hofleben mehr etablieren. Der russische blieb stark vom Zaren abhängig, während der britische sich gewissermaßen „verbürgerlichte“. In zahlreichen Ländern versuchten die Edelleute, Überlebensstrategien wie den Wechsel in die kapitalistische Wirtschaft zu finden, die zwar offiziell verpönt, inoffiziell aber reichlich genutzt wurde.

In Indien dagegen schufen sich die Briten eine eigene Adelsklasse aus den Resten derjenigen, die sie zerschlagen und politisch kastriert hatten. Sie diente vor allem als Legitimationsvehikel und wurde in einer Art neofeudalen Ritterlichkeit neu inszeniert. In Japan dagegen schaffte sich die Klasse der Samurai als Reaktion auf die gewaltsame Öffnung 1853 und den Sturz des Tenno selbst ab und fand neue Beschäftigung. Diese Selbstabschaffung war ein einmaliger Vorgang, den Osterhammel vor allem aus dem kompletten Schock der Öffnung erklärt. In China, wo der Adel vor allem aus der konfuzianischen Beamtenelite besteht und sich wesentlich schwerer reproduzieren konnte als anderswo, sei dies nicht der Fall gewesen, weswegen eher seine Stellung bis 1902 behalten konnte, als die Intervention der 8 Mächte einen ähnlichen Schock hervorrief wie in Japan, der die Dynastie und mit ihr den Adel dann ab 1911 auch in den Untergang riss: das Fehlen der Notwendigkeit konfuzianischer Beamter, deren Aufgaben von einer neuen städtischen Mittelschicht übernommen wurden, ließ diesen nur noch eine parasitäre Grundherrenexistenz, die in der kommunistischen Revolution leicht beseitigt wurde.

Das Gegenstück des Adels im 19. Jahrhundert war mit Sicherheit das Bürgertum. Es zu definieren, ist noch schwieriger als beim Adel. Man landet immer beim selben Zirkelschluss: Bürger ist, wer sich als solcher definiert. Dadurch ist das Bürgerturm die agilste und durchlässigste Klasse. Gleichzeitig ist sie die, deren Mitglieder am stärksten vom Abstieg bedroht sind. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Kategorie außerdem um die Kategorie der Kleinbürger, gegen die es mannigfaltige Abgrenzungsbewegungen gab. Die Kleinbürger waren weniger vernetzt und lokaler, als es die traditionellen bürgerlichen Schichten waren. Gleichzeitig sieht Osterhammel in allen Bürgern einen beständigen Drang nach oben, zu einem sozialen Aufstieg.

Entscheidendes Distinktionsmerkmal dieser Klasse ist der Respektabilität, die sich aus Kreditwürdigkeit (und damit geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen), der nicht-körperlichen Arbeit, der Möglichkeit, die Frauen der Familie zu Hause zu lassen und nicht arbeiten schicken zu müssen und zuletzt dem Einhalten eines Verhaltenskodex‘ definiert. Insgesamt grenzten sich die bürgerlichen Schichten sowohl nach außen als auch untereinander stark ab, auch in einem Land wie den USA, das Ostentativ einem Gleichheitsideal anhing. Gleichzeitig hält Osterhammel das Phänomen der Mittelschicht - ein noch umfassenderer Begriff, der sich vor allem wirtschaftlich definiert und nicht die Übernahme des bürgerlichen Wertekanons erfordert - für ein universelles und globales Phänomen: es sei auch in Afrika und Asien festzustellen, bevor dort durch den Imperialismus der Einfluss der Europäer solche Entwicklungen überdeckte. Oftmals zerstörte der Rassismus die Möglichkeit dortiger Mittelschichten, ihre Entstehung und ihren Aufstieg fortzusetzen und sich mit den europäischen zu vernetzen.

Deswegen kam es auch nie zur Herausbildung eines kosmopolitischen Bürgertums. Diese stellte zwar einen ideologischen Fluchtpunkt dar, den es dank globalisierter Finanz- und Warenströme zu erreichen hoffte, doch arbeitete der aufstrebende Nationalismus und Rassismus dem entgegen. Die bürgerlichen Unternehmer waren also auch, wenn sie ihre Geschäfte in einem anderen Land betrieben, stets nationale Akteure. Zudem kam hinzu, dass mindestens in den Kolonien selbst die geringsten Vertreter des jeweiligen europäischen Bürgertums rangmäßig über allen Einheimischen standen und so jegliche Integration und Kooperation verhinderten und ihre Zahl zudem nie so groß war, das eine eigenständige Gesellschaftsbildung erfolgen könnte, die vom Mutterland unabhängig war. In vielen Ländern gab es zudem eine Schicht, die zwar Berufe und Vermögen wie die Bürger hatte, aber nicht das Ansehen: sie vermittelte zwischen Einheimischen und ausländischen Händlern, etwa die Juden oder die Chinesen Javas. Sie waren stets prekär und gefährdet, was im 20. Jahrhundert zu massiver Vernichtung ausgeweitet würde. Osterhammel postuliert außerdem, dass die Auflösung des Bürgertums als Klasse mit dem Auszug aus den Städten und des kulturellen Aneignens des Bürgertums durch die unteren Schichten bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen habe; auch ohne den Ersten Weltkrieg wäre die Klasse Auflösungstendenzen unterworfen gewesen.

In Kapitel 16, "Wissen", stellt er die These auf, dass das 19. Jahrhundert das gewesen sei, in dem Wissenschaft und Bildung sich trennten: Universalgelehrte hörten auf zu existieren, stattdessen begann der Fachwissenschaftler zu dominieren. Bevor er sich dieser These aber mehr zuwendet, spricht er über Sprachen: das Englische wurde immer mehr zur beherrschenden Sprache, während das Französische zwar bei Eliten regional beliebt war, aber die dieselbe Verbreitung genießen konnt (gleichwohl konnten nur wenige Englisch, die große Verbreitung begann erst mit den USA ab 1950). Portugiesisch und Latein, zwei frühere Verkehrssprachen, fielen ganz aus der Verwendung. Chinesisch etablierte sich mangels Außenwirkung Chinas nie.

Der Zwilling der Sprache ist natürlich die Schrift. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Überwindung des Analphabetismus. Dies war ein lokal sehr divergierendes Phänomen: in Westeuropa sank die Analphabetenrate bis zum Ende des Jahrhunderts auf unter 10%. Vorreiter war hier Deutschland, das von der preußischen Tradition, seine Untertanen zu möglichst effektiven Soldaten zu machen, profitierte. In Süd- und Osteuropa sah die Lage bereits deutlich schlechter aus. In den USA ist das Bild kompliziert: im Norden und Westen ähnlich wie in Westeuropa, unter der schwarzen und indigenen Bevölkerung sowie im Süden deutlich schlechter. In Asien sticht besonders Japan hervor: es erreichte als einziges asiatisches Land Alphabetisierungsraten wie im Westen. Obwohl China eine lange Tradition der Schriftsprache besaß, stagnierte es auf wenngleich hohem Niveau.

Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert, in dem sich zum ersten Mal allgemeine Schulsysteme herausbildeten. Osterhammel betont hier immer wieder, dass damit solche schulischen Systeme gemeint sind, die einen vom Alltag abgetrennten Raum mit eigenen Regeln bieten. Deutschland war hier Vorreiter, besonders Preußen, während viele andere europäische Länder erst mit starker Verzögerung folgten.

Der größere Bruder der Schulen sind natürlich die Universitäten. Auch sie machten im 19. Jahrhundert eine wesentliche Wandlung durch. Zum einen ist dies ein quantitativer Wandel: das Ausmaß der Universitäten und der von ihnen Beschäftigten nahm drastisch zu. In Deutschland war dies ein ganz und gar staatlicher Prozess: der Ausbau der höheren Bildung war eine Sache von Beamten und staatlicher Investitionen. Anders verlief der Prozess dagegen in dem Land, das Deutschland auf diesem Feld, wenngleich mit deutlicher Verzögerung, am ehesten Konkurrenz machen konnte: die USA. Sie bildeten im 19. Jahrhundert ein ganz eigenes System marktwirtschaftlich ausgerichteter, privater Universitäten heraus, in dem der Staat eine sehr geringe Rolle spielte.

Allen Universitätssystemen war im 19. Jahrhundert allerdings gemein, dass sie einen deutlich größeren Schwerpunkt auf Anwendung legten als bislang. Universitäten bildeten Fachwissenschaftler aus die ihr jeweiliges Gebiet inkrementell weiter voranbrachten, üblicherweise mit einem starken Fokus darauf, Fachpersonal für einen immer anspruchsvolleren öffentlichen Dienst und Privatsektor auszubilden. Die Konzentration der Universitäten von früher auf eine Art Allgemeinbildung blieb ironischerweise in den USA wesentlich stärker erhalten als im Ursprungsland des Humboldschen Bildungsideals, das die Fachspezialisierung wesentlich stärker vorantrieb. In den Kolonien enstanden dagegen erst spät und nur sehr eingeschränkt Universitäten. Der Aufbau eines Hochschulsektors gehörte stattdessen zu den vorrangigen Prioritäten von Kolonien, die ihre Unabhängigkeit erlangten, ob im 19. oder 20. Jahrhundert.

Auch die Inhalte, die gelehrt wurden, wandelten sich stark. Im Westen, wo die moderne Vorstellung von Wissenschaft ihren Ursprung hat, etablierte sich natürlich einerseits die naturwissenschaftliche Methodik, andererseits „professionalisierten“ sich aber auch Fachrichtungen, die früher von wohlhabenden Dilettanten als gentlemen scholars betrieben worden waren, etwa die Geschichtswissenschaft. Weitere Disziplinen wie die Soziologie oder Ökonomie bildeten sich vor allem aus dem Nützlichkeits- und Praxisdenken.

Interessant ist auch die Rezeption dieses Wissenschaftsgedankens und des darunter liegenden systemischen Modells im Rest der Welt. Besonders in Asien übernahmen Reformer die neuen Wissenschaften und Universitäten als einen Ausweis des Fortschritts in der Modernisierung ihrer Länder. Damit einher ging eine Verachtung des eigenen, traditionellen Wissensbestands. Osterhammel weist darauf hin, dass die Europäer vor dem 19. Jahrhundert noch der Überzeugung waren, von anderen Kulturen lernen zu können, während sie dann im 19. Jahrhundert diese nur noch als barbarisch betrachten. Ironischerweise kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu einer Art Revival des „Entdeckens“ von „alten Geheimnissen“. Bis heute hat der Bezug auf scheinbar uralte asiatische Praktiken in der esoterischen Szene Hochkonjunktur.

Die beginnende Neugier auf fremde Völker zeigte sich in der neuen Wissenschaft der Ethnologie. Aus heutiger Sicht ist die in einer Art pseudodarwinistischen Modell von Entwicklungsstadien verhaftete Analyse fremder Völker hauptsächlich ein Amalgam rassistischer Stereotype. Im Kontext des 19. Jahrhunderts allerdings fällt die Ethnologie in den größeren Kontext der Verwissenschaftlichung. Überraschenderweise war sie die am wenigsten rassistische Betrachtung dieser Völker, im Vergleich zur Haltung der Allgemeinheit. In Europa selbst fand ein ähnlicher Exotisierungsprozess statt, in dem man Folklore unter die Lupe nahm und quasi in der einfachen Landbevölkerung wie in der Industriearbeiterschaft (die gleichwohl nicht als Kulturobjekt untersucht wurde) gewissermaßen barbarische fremde Stämme sah.

Aus dieser Sicht leitete sich eine Zivilisierungsmission ab, die in Kapitel 17, ""Zivilisierung" und Ausgrenzung", in den Fokus rückt. In der frühen Neuzeit war die Idee, eine große zivilisierende Mission zu sehen, auf den Katholizismus beschränkt und fand deswegen vor allem in den spanischen und portugiesischen Kolonialreichen Anwendung. Die ohnehin erst viel später dazukommenden protestantischen Reiche betrachten Missionierung als ineffizient und gegenläufig zu ihren Bestrebungen, ein kommerzielles Imperium aufzubauen. Erst Ende des 18., Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich dies. Die britischen Bestrebungen etwa, Indien zu „verwestlichen“, fanden ihren Höhepunkt in den 1830er Jahren, fanden allerdings mit der großen Mutiny ein relativ abruptes Ende und macht in einem eher integrativen Ansatz Platz.

Die Briten waren die Speerspitze in einer Form der Missionierung, die sich als die erfolgreichste erweisen sollte: die des Rechtsstaats. Dies lag daran, dass die britische Rechtstraditionen besonders offen für andere Einflüsse und für eine Koexistenz verschiedener Systeme war. Etwas weniger erfolgreich war der Versuch, Marktmechanismen zur Gestaltung der jeweiligen Länder zu benutzen. Insgesamt zeigte sich hier häufig eine Indifferenz der Kolonialmacht gegenüber den Kolonien, in der es hauptsächlich darum ging, dass die Bevölkerung vor Ort ihre Steuern bezahlte und waren Erträge erbrachte und die man ansonsten in Ruhe ließ, was in manchen Fällen zur stillschweigenden Akzeptanz westlichen Werten völlig entgegengesetzte Praktiken wie der indischen Witwenverbrennung (die die Briten gleichwohl später mit massivem propagandistischen Aufwand als Legitimation für Ihr Imperium heranziehen sollten) führte.

Die Zivilisierungsmissionen scheitern denn auch überwiegend: entweder war der Erfolg allenfalls oberflächlich vorhanden, oder er ging so tief, dass sich die örtliche Bevölkerung von den Missionaren emanzipierte. Das führte dann gerne dazu, dass die Kritiker das europäische universalistische Recht, die Sprache der Eroberer und Ihre Werte zum erfolgreichen Kontrast mit der kolonialen Realität benutzten. Die Indifferenz gegenüber den Kolonien war eine häufige Reaktion darauf; eine andere Bestand in gewalttätigen Versuchen, die sich nicht „zivilisierenden“ und damit für die Imperien wertlosen Einheimischen an den Rand zu drängen und in Extremfällen genozidal zu ermorden. Dies blieb im 19. Jahrhundert aber trotz des Überlegenheitskomplexes der Europäer die Ausnahme und sollte auf die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts beschränkt bleiben.

Auf einer gänzlich anderen Ebene verlief ein anderes Strukturmerkmal des 19. Jahrhunderts: die Abschaffung der Sklaverei. Beginnend im britischen Weltreich baute sie entgegen späterer Annahmen nicht auf den Ideen von Adam Smith, dass die Sklaverei wirtschaftlich der freien Lohnarbeit umzulegen sei. Das ist erwiesenermaßen nicht der Fall. Stattdessen war es die Schaffung eines neuen moralischen Bewusstseins und eines massiven moralischen Drucks einer Minderheit, die über einen jahrelangen Prozess ihre moralischen Vorstellungen mehrheitsfähig machte. Als die britische Regierung den Sklavenhandel abschaffte, tat sie dies also nicht aus ökonomischen, sondern moralischen Motiven. Die Royal Navy unterlegte diesen Moralismus mit einer handfesten Komponente und verhinderte durch ihre Politik der Überprüfungen von Schiffen auch von Drittnationen, dass das Vakuum wieder geschlossen werden konnte, dass durch das Ausscheiden der britischen Händler entstanden war.

Frankreich dagegen tat sich schwerer. Es unterwarf sich aus machtpolitischen Motiven offiziell dem britischen Regime, unterlief dies jedoch wo immer möglich. Erst mit ironischer Weise dem reaktionärsten französischen Monarchen, Karl X., bewegte sich das Land ab den 1820er Jahren langsam auf die Abolition zu, die 1848 gesetzt wurde. Noch später war die Abschaffung in Brasilien, das als letztes Land der westlichen Hemisphäre 1888 die Sklaverei für illegal erklärte, nach dem sie in einem jahrelangen Prozess wirtschaftlich irrelevanter geworden war und so die Widerstände gegen ihre Abschaffung abgeschliffen waren. Ein ähnlicher Prozess hätte möglicherweise auch in den Vereinigten Staaten stattgefunden, hätten die Südstaaten nicht auf so aggressive Art und Weise dem Norden ihr eigenes Normensystem aufzwängen wollen. Nur in den USA lebten Sklavenhalter und Sklaven nebeneinander, weswegen die Sklaverei für das Selbstverständnis der Südstaatler elementar war. Spiegelbildlich radikal war der Abolitionismus der Aktivisten, die sich ausschließlich im Norden fanden, dort allerdings eine Minderheit darstellen. Es war letztlich die Radikalität des Südens, die das Land in den Bürgerkrieg und Lincoln zur Abschaffung der Sklaverei trieb.

Wesentlich schwerer als ihre Abschaffung war die Überwindung der Strukturen der Sklaverei. In den USA und Südafrika führte sie zur Einrichtung eines umso schärferen rassistischen Regimes, dessen oberstes Ziel die Diskriminierung der vorher versklavten Bevölkerung war. Zusammen mit Nazi-Deutschland bildeten diese beiden Staaten die einzigen, die offiziell auf Rassismus gegründete Staatswesen und Rechtswesen kannten. Rassistische Strömungen waren zwar zahlreichen anderen Staaten auch nicht fremd, fanden dort aber keinen so radikalen und kodifizierten Niederschlag. Das 19. Jahrhundert war bedauerlicherweise auch das Jahrhundert der Erfindungen des Rassismus. Ab ungefähr 1860 wie kann vor allem in Europa und Amerika, letztlich aber weltweit ein radikaler Rassismus hoffähig zu werden, wie er vorher und nachher undenkbar war. Osterhammel setzt den Endpunkt dieser Entwicklung ins Jahr 1960, als die rassistischen Strukturen in den USA fielen und ihre Aufrechterhaltung in der Öffentlichkeit zunehmend unhaltbar wurde, auch wenn es in Südafrika bis zur Abschaffung der Apartheid noch bis 1994 dauern sollte.

In anderen Regionen fand sich ein solcher Rassismus nicht. Die Briten sprangen in osterhammel Erzählung auf den kontinentaleuropäischen Rassismuszug unter anderem deswegen nicht so begeistert auf, weil ihnen die Vorstellung, als Teil der arischen Rasse irgendetwas mit ihren indischen Untertanen gemeinsam zu haben, unerträglich war. In China dagegen besaß man zwar eine tief verwurzelte Ablehnung gegenüber „barbarischen“ Ausländern, begründete diese aber kulturell und nicht rassistisch. Zudem hatte das Land anders als etwa die USA durch den Verlust seiner Souveränität keine Möglichkeit, Ausländer aus dem Land zu halten.

Der bösartige Cousin des Rassismus ist selbstverständlich der Antisemitismus. Er war bereits jahrhundertealt, als er im späten 19. Jahrhundert durch den Rassismus ergänzt wurde. Zwar breitete er sich in diesen Jahrzehnten deutlich aus - wohl auch als Reaktion auf die Judenemanzipation im früheren 19. Jahrhundert, eine auffällige Parallele zum Aufstieg von Jim Crow als Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei in den USA -, tat dies allerdings nicht zeitlich und räumlich einheitlich. Der gefährlichste Ort für Juden bis weit ins 20. Jahrhundert war das westliche Zarenreich beziehungsweise Osteuropa. Auch Frankreich kannte einen aggressiven Antisemitismus, wie er sich etwa in der Dreyfus-Affäre Bahn brach. Dass ausgerechnet in Deutschland die tödlichste, exterminatorische Form des Antisemitismus entstehen würde, war im 19. Jahrhundert noch nicht absehbar.

Die Problematik von Kapitel 18,Religion“, beginnt bereits bei der Definition dessen, was Religion eigentlich ist. Ja Generationen von Wissenschaftler*innen haben sich darüber den Kopf zerbrochen und sind zu keinem vernünftigen Konzept gekommen. Ein Problem ist etwa, dass hinter dem Begriff Religion häufig ein europäisches beziehungsweise westliches Verständnis von Glauben steckt, das sich nur schwer auf andere Erdteile übertragen lässt. Bis heute etwa hält sich das Konzept der Weltreligionen, mit dem die Länder der Welt quasi religiös kartographiert werden sollen und in dem alle nicht monotheistischen und nicht organisierten Religionen oftmals als Naturreligionen verbrämt werden.

Das 19. Jahrhundert war davon unbenommen eine Zeit, in der revolutionär der Atheismus vorangetrieben wurde. Gerade in Frankreich litt die Rolle der organisierten Religion stark unter den Nachwirkungen der Französischen Revolution. Auch in anderen Teilen Europas nahmen zumindest die äußeren Formen großer Frömmigkeit wie regelmäßige Gottesdienstbesuche und einen befolgen liturgischer Feiertage immer weiter ab. Dieses Phänomen war jedoch nicht einheitlich. So stellten etwa die USA einen deutlichen Gegenpart dar, wo eine organisierte Religion, noch dazu eine staatlich verfasste, ohnehin nicht existierten und die verschiedenen Revivalbewegungen immer neue Wellen religiöser Frömmigkeit in zahlreichen Formen hervorbrachten. Diese Toleranz und Pluralismus zumindest innerhalb des Christentums war nicht allein auf die USA beschränkt, wenngleich sie dort ihren Höhepunkt fand. Im 19. Jahrhundert nahm die Toleranz generell zu.

Einen strukturellen Sonderweg beschritten die Länder Westeuropas darin, die Religion direkt mit dem Nationalismus zu verknüpfen und auf diese Art und Weise Staatsreligionen zu schaffen, die direkt mit der Nation verbunden waren. Die orthodoxe Kirche Russlands etwa war genauso wenig auf diese Art angebunden wie die zahllosen Sekten Amerikas. In Asien fand sich dieses Muster nur in Japan, das einmal mehr ein Musterschüler Europas war: der Shintoismus wurde zu einer künstlichen, geradezu orthopraktischen Staatsreligion und verdrängte den Buddhismus durchorganisierte Religionspolitik. Der Kontrast zu China, wo Religion und Staat klar getrennt waren, könnte größer nicht sein.

Gerade in Europa fällt zudem die Rolle der organisierten Religionen als Gegner des Fortschritts und der Modernisierung auf. Ganz besonders die katholische Kirche, die bis 1929 noch das Amt des Großinquisitors besetzte und mit der Stärkung des Papsttums stark zentralisierende Tendenzen aufwies, sticht hier hervor, aber auch die protestantischen Landeskirchen waren nicht eben Bannerträger des Fortschritts.

Es ist hier auffällig, dass die Imperien notwendigerweise einen lockeren Ansatz in Richtung Pluralismus und Toleranz aufweisen mussten als die homogeneren Nationalstaaten. Queen Victoria etwa beherrschte mehr Muslime UND mehr Hindus als jeder andere Herrscher des 19. Jahrhunderts. Die französischen Regierungen hatten Millionen buddhistischer Untertanen. Umgekehrt erlebte der Islam im Osmanischen Reich eine immer stärkere und immer zentralere Rolle, weil der Verlust der Territorien in Europa und in Teilen Nordafrikas und des Mittleren Ostens zu dem Verlust genau derjenigen Bevölkerungsteile führte, die nicht muslimisch waren. Dementsprechend gab es immer weniger Notwendigkeit für die Hohe Pforte, sich in Toleranz gegenüber anderen Gruppen zu üben und sie zu integrieren.

Ein Element des 19. Jahrhunderts war auch das Missionarswesen. Nie zuvor hatten so viele Missionare versucht, ihren Glauben in alle Welt zu verbreiten. Ihr Verhältnis zu den Imperien, in deren Fahrwasser sie üblicherweise in die Welt hinaus kamen, ist dabei ambivalent. Sie waren häufig nicht in die jeweilige Kolonialgesellschaft integriert und nur dann gern gesehen, wenn sie Entwicklungsaufgaben im Sinne der Kolonialmacht erfüllten. Durch ihre globale, nationale Grenzen durchbrechende Mission standen sie den nationalstaatlichen Zielen der Kolonialmächte häufig entgegen oder identifizierten sich zumindest nicht mit ihnen. Sie waren zudem international angelegt; in China etwa waren mehr als 10% aller tätigen Missionare keine Briten und hatten dementsprechend auch kein Interesse, der Kolonialmacht zu Diensten zu sein. Gleichwohl fällt auf, wie schlecht vorbereitet und qualifiziert die Missionare für ihre Aufgabe waren und mit welcher aus heutiger Sicht erschreckend paternalistischer und arroganter Attitüde sie sich an ihre Arbeit machten.

Ihre Bilanz fällt gemischt aus. In Indien und China etwa hatten sie praktisch keinen Erfolg; in Afrika dagegen gelang in weiten Teilen der Aufbau indigener Kirchen, die sich gleichwohl schnell von ihren jeweiligen Mutter Kirchen und -Religionen emanzipierten. Am erfolgreichsten waren Missionare, wo sie nicht als Gehilfen der Kolonialmacht auftraten. In jedem Fall waren sie disruptive Kräfte, die marginalisierte Bevölkerungsgruppen ansprachen, bestehende Hierarchien infragestellten (die Missionare waren etwa eifrige Befreier der Sklav*innen) und die Autorität bestehender Herrschaftsfiguren untergruben. Durch ihre Unkenntnis der traditionellen Gewohnheiten durchbrachen sie sämtliche Muster und stießen oft auf Unverständnis, das einer tiefen Unsicherheit über den Umgang mit ihnen Platz machte. Die Kehrseite dieser spezifischen Medaille waren manchmal gewalttätige Gegenreaktionen, die Märtyrer schaffen konnten, etwa in China während des Boxeraufstands.

Im 19. Jahrhundert gab es mehrere charismatische Religionsführer, denen die Bildung eigener Staaten gelang. Dazu gehören Muhammad Ali, Brigham Young, die Mahdi-Bewegung, die Geistertänzer oder Sayyid Shirazi. Gleichzeitig fand in vielen Bereichen und eine religiöse Modernisierung statt. So etwa gab es im 19. Jahrhundert eine islamische Modernisierungsbewegung, der jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden war (ein faszinierendes kontrafaktisches Szenario), während umgekehrt die christlichen Kirchen, vor allem die katholische, klar als Bremser und Blockierer und Gegner jeglicher Modernisierung auftraten. Gerade die katholische Kirche jedoch war die wohl globalste, der ausgerechnet und ihrem Rom effektiv nie verlassenen Papst Pius XI. eine weltweite Struktur mit einem ausgefeilten Kommunikationssystem und zentralistischer Lenkung entwickeln konnte.

Der Schluss, „Das 19. Jahrhundert in der Geschichte“, beginnt mit der Feststellung, dass das Jahrhundert eine Zeit der Selbstreflexionen gewesen sei. Die Zeitgenossen machten sich permanent Gedanken über ihren eigenen Standort in der Zeit und die Charakteristik ihrer Gegenwart. Osterhammel macht sich dann an die Deutungsangebote des Begriffs der Moderne und weist darauf hin, dass Eisenstadts „multiple Modernen“ der wohl einzig sinnvolle Ansatz sind, den Begriff zu fassen. Was überhaupt mit Moderne gemeint ist, wie sie sich abstufen lässt und wo sie stattfand wurde in der Vergangenheit endlos debattiert, macht für ihn allerdings wenig Sinn.

Ausführlicher beschäftigt er sich mit der Frage, mit der das Buch begann: dem zeitlichen Ort des 19. Jahrhunderts. Versucht man, sich aus der europazentrischen Sicht zu lösen, bleibt nur die Erkenntnis, dass es regional unterschiedliche Zeitrechnungen und Perioden gibt, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Für große Teile Europas und Nordamerika macht die Periodisierung von circa 1760, als die großen globalen imperialen Verwicklungen begannen, bis ungefähr 1920, als sie ihren Abschluss fanden, halbwegs Sinn. Gleichwohl beginnt die Periodisierung der USA zwar im selben Zeitraum, endet aber eher mit dem Bürgerkrieg und geht dann in eine neue Phase, die bis 1945 beziehungsweise 1965 reicht.

Außerhalb Europas zerfasert diese Einteilung sehr schnell weiter. Für große Teile Afrikas markiert 1880 mit dem Einbruch der europäischen Imperialisten eine wichtige Zäsur, deren Abschluss mit der Dekolonialisierung in den 1960er Jahren gefunden werden kann. Japans Modernisierung datiert eher von 1853 bis 1945. China dagegen fällt zwar durch die dynastische Politik in einem sehr ähnlichen Zeitrahmen wie Europa, hat aber abgesehen von dieser zeitlichen Zufälligkeit keinerlei Überlappungspunkte. Der Versuch, ein globales 19. Jahrhundert zu definieren, bleibt daher aussichtslos.

Osterhammel versucht allerdings, fünf große Merkmale dieser Epoche zu synthetisieren.

Das erste ist die asymmetrische Effizienzsteigerung. Diese Steigerungen fanden regional, zeitlich und sektoral stark versetzt statt, veränderten den Alltag der Menschen allerdings radikal. Der industriellen ging eine Agrarrevolution voraus, die erste im 20. Jahrhundert in eine Industrialisierung der Landwirtschaft münden würde. Die gewaltigen Effizienzsteigerungen kamen einerseits dem Militär, andererseits der staatlichen Kapazität zugute, wobei letztere sich für die Menschen im jeweiligen Staat durchaus segensreich auswirken konnte.

Die zweite ist der Zugewinn an Mobilität. Diese Kategorie ist die offensichtlichste komme schon allein, weil zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein signifikanter Teil der Menschheit Zugriff auf Fortbewegungsmöglichkeiten hatte, die schneller als das Pferd waren. Die Eisenbahn - und das passt wieder zu Osterhammels Leitmotiv, dass die Industrialisierung örtlich sehr beschränkt war und vergleichsweise wenig Menschen direkt berührte - Beschäftigte und transportierte mehr Menschen, als sie eine Fabrik von innen sahen. Mobilität betraf neben den Menschen aber auch Waren, die im 19. Jahrhundert zum ersten Mal in einem globalen Wettbewerb gekauft und verkauft wurden, und das Kapital, das überhaupt zum ersten Mal schöpferische wie zerstörerisch tätig werden konnte.

Die dritte Kategorie ist die, die er asymmetrische Referenzverdichtung nennt. Gemeint ist hier einerseits die dominierende Stellung westlicher Ideen, die mit der Idee von der Moderne identifiziert wurden und den peripheren Gesellschaften und Staaten als Leitstern dienten, ohne dass diese dabei kritiklos übernommen worden wären: wo sich die Peripherie als gelehriger Schüler erwies, nutzte sie diese Ideen üblicherweise für ihre eigenen Freiheitskämpfe. Der Versuch, wissenschaftliche Strukturen aufzubauen, gehört ebenfalls in diese Kategorie. Auffällig ist zudem die gierige Bereitschaft der Peripherie zur Übernahme westlicher Ideen bei gleichzeitiger Weigerung des Westens, irgendetwas von diesen lernen zu wollen.

Das vierte Merkmal ist die Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie. Das 19. Jahrhundert war eines, in dem die Idee der allgemeinen Gleichheit zum ersten Mal zum Durchbruch kam. Darin lag eine ungeheure Kraft, die explosiv und radikal verändernd wirken konnte. Die Europäer trugen die Kritik an Sklavenhaltung und der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten in die Peripherie und schoben dort revolutionäre Veränderungen an. Gleichzeitig hielten sie sich bei der Umsetzung allzu oft in heuchlerischer Manier zurück. Das lag unter anderem an dem massiven Rassismus gegenüber dieser Peripherie, die ihr eine Gleichheit nicht gestattete.

Das fünfte Merkmal ist das der Emanzipation. Es ist direkt mit dem vierten Merkmal verwoben und sorgte dafür, das überall auf der Welt unterdrückte Gesellschaften oder Gesellschaftsteile sich selbst zu befreien gedachten. Die Bilanz dieser Befreiungsversuche fällt selbst für Europa sehr ambivalent aus. Das gilt sogar für die Peripherie, wo die bereits erwähnte Revolutionierung zur Emanzipation vorher rechtloser Bevölkerungsteile führte, die durchaus als eine positive Folge des Imperialismus gesehen werden könnten, jedoch von den Imperialisten schnell verspielt und durch Unterdrückungsstrukturen ersetzt wurden.

Insgesamt postuliert Osterhammel eine anhaltende Relevanz des 19. Jahrhunderts für die Deutung der Gegenwart, die sogar über die Periode zwischen dem ersten und Zweiten Weltkrieg hinausgehe. In jener Zeit hätten erstaunlich wenige konstruktive Lösungen gefunden werden können, während viele unserer heutigen globalen Probleme entweder im 19. Jahrhundert bereits existierten oder dort ihre Wurzeln hatten. Zahlreiche bedeutende Staatsmänner des 20. Jahrhunderts waren zudem Männer des 19. Jahrhunderts, ob Adenauer oder Churchill. Die Beschäftigung mit dieser Epoche, gleich wo man Ihren Beginn und Ende setzt, kann daher nur fruchtbar sein und bleibt heute relevant.

Die schiere Länge dieser Rezension zeigt bereits, welchen Umfang Osterhammels Werk besitzt. Auf 1300 kleinbeschriebenen, großformatigen Seiten (denen noch einmal 300 Seiten Fußnoten folgen) entwirft er ein Panorama einer riesigen Epoche im globalem Maßstab. Er ist sich dabei der Probleme und Herausforderungen seines Ansatzes durchaus bewusst und vergleicht diese mit dem Erklimmen eines Gipfels, von dem aus man zwar einen guten Überblick erreichen kann, auf dem man es allerdings nicht lange aushält: am Ende kann die Hauptaufgabe der Historiker*innen nur darin bestehen, Mosaiksteine beizutragen, die dann gelegentlich von eben jenem Gipfel aus zu einem großen Bildnis zusammengetragen werden können.

Ich habe für die Lektüre dieses Buches deutlich über ein halbes Jahr gebraucht. Ich glaube, ich habe noch nie oder doch zumindest sehr selten eine so fordernde wie stimulierende Lektüre erlebt. Nicht nur ist Osterhammels Magnum Opus sehr lang, es ist doch unglaublich dicht geschrieben und in höchstem Maße anspruchsvoll. Grundkenntnisse über sämtliche angesprochenen Thematiken werden schlicht vorausgesetzt; der Autor hält sich kaum damit auf, die Öffnung Japans, die Indian Mutiny oder die Reichseinigung zu erklären: die reine Faktenlage ebenso wie einige grundsätzliche Diskurse zum Thema müssen die Lesenden schon selbst mitbringen. Osterhammel bietet eine Einordnung in den größeren Kontext des 19. Jahrhunderts. Es ist der Gipfel als ein eher unangenehmer, entbehrungsreicher Ort, von dem er sprach und stehen zu erklimmen eine Leistung für sich darstellt.

Wer diese Leistung allerdings erbringt, dem steht ein unglaublicher Reichtum an Deutungen, Einordnungen und Analysen zur Verfügung. Es ist gerade die Synthese zahlreicher verschiedene Ideen, Epochen und Orten, die dieses Buch so ungeheuerlich relevant macht, auf der anderen Seite aber eben auch dazu führt, dass sich Lesevergnügen nur insofern einstellt, als das ist einen intellektuellen Stimulans bietet. Unterhaltsam oder schlicht nur die Zeit vertreibend ist das Werk nicht, es zu lesen ist Arbeit, die sich gleichwohl lohnt.

Das bedeutet auch, dass Osterhammel auf Anekdoten oder Personalisierungen praktisch vollständig verzichtet. Bismarck, Washington oder Napoleon sind eher Figuren von Nebensätzen. Wenn es Hauptcharaktere in diesem Buch gibt, dann handelt es sich um Strukturen und Dynamiken. Definitiv handelt es sich nicht um eine Geschichte großer Männer oder überhaupt um eine Geschichte, in der Individuen vorkommen. Trotz der großen Länge verzichtet er auf jedem Kolorit oder Auflockerung, wie sie gerade die angelsächsische Geschichtsschreibung kennzeichnet. Für mich ist das ein großes Plus, aber mein Geschmack ist diesbezüglich auch etwas spezifisch.

Wenn man zwingend nach Kritikpunkten suchen möchte, so wird man diese vermutlich in der Konzentration auf Nordamerika, Europa und Asien finden. Südamerika spielt nur punktuell und Afrika praktisch nur als Objekt eine Rolle; Australien bleibt letztlich ins britische Empire subsumiert. Das allerdings ist weniger einem Manko des Autors als vielmehr dem Gegenstand der Untersuchung geschuldet: Osterhammel untersucht das 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Modernisierung, und es ist nun einmal eine Grundprämisse, dass diese sowohl regional als auch temporal stark versetzt stattfand und zumindest in ihren greifbaren Ausprägungen - moderne Technologien, leistungsfähigen Staaten, effizienten Ökonomien und schlagkräftigen Armeen - nicht überall zur selben Zeit oder überhaupt stattfand.

Osterhammel legt großen Wert darauf, jegliche Wertung darüber zu vermeiden und keine Dichotomie von rückständig zu fortschrittlich aufzumachen. Gleichwohl liegt es in der Natur der Sache, dass das stark divergierende Machtniveau von Staaten im 19. Jahrhundert, eine Schere, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wieder zu schließen begann, mit Ausnahme Japans auf Europa und die USA beschränkt ist, die die Welt in diesem Jahrhundert den Stempel auf eine Art aufdrücken konnten, wie sie vorher nie gesehen worden war und vermutlich zumindest für lange Zeit nicht mehr gesehen werden wird.

Ich werde wohl noch eine lange Zeit damit beschäftigt sein, die vielen Informationen, Analysen und Einordnungen aus diesem Buch zu verarbeiten und mit meinem eigenen Wissensbestand zu verknüpfen. Die gewaltige Komplexität des Werks, das, das sei noch einmal gesagt, einen wahren Meilenstein der Geschichtswissenschaft darstellt und wohl ein absolutes Desiderat jeden Mitglied dieser Zunft darstellen dürfte, verbietet mir weitgehend jegliche eigene Rundumkritik. Ich habe mich daher in der Rezension weitestgehend auf eine Wiedergabe des Inhalts beschränkt und will erst gar nicht den Versuch machen, etwas so umfassendes Punkt für Punkt zu kommentieren. Ich fühlte mich dabei, als würde ich als Amateur die Gemälde eines großen Meisters oder die Partitur eines berühmten Komponisten kommentieren wollen. Manchmal kann man vor wahrer Größe nur beeindruckt stehen und hoffen, ihr selbst Genüge zu tun.

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