Samstag, 27. Februar 2010

Orwell wäre stolz

Von Stefan Sasse

Jede ernstzunehmende Studie bescheinigt Deutschland ein fast beispiellos selektives Schulsystem. Die in vielen Bundesländern vorhandene Dreigliederung des Systems sorgt für eine Aussiebung bereits im zehnten Lebensjahr, und dabei spielt der soziale Status der Eltern eine viel zu große Rolle. Die CDU bedient sich ja bekanntlich der Vogel-Strauß-Taktik, um dieses Problem zu umgehen, aber die neue Kultusministerin von Baden-Württemberg, Schick, hat eine wahrlich grandiose Umschreibung dafür gefunden, um die der Große Bruder sie beneiden würde. 

Guido Knopp und das Elend des Geschichtsfernsehens

Von Stefan Sasse

Besonders in meinen Buchbesprechungen hacke ich ja immer sehr viel auf Guido Knopp herum. Tatsächlich empfinde ich seine Art, Geschichtssendungen zu machen, als absolut unterirdisch, und er ist einer der Hauptgeschichtsklitterer der BRD. Ich möchte anhand eines aktuellen Beispiels eine tiefergehende Analyse erstellen und aufzeigen, was genau an seiner tendenziösen Geschichtsdarstellung zu bemängeln ist und wie es besser gehen könnte. Gegenstand ist dabei die Sendung "Die großen Verlierer der Geschichte", die von Guido Knopp auf Basis von Wolf Schneiders Buch erstellt wurde und im ZDF lief. In dieser Sendung werden beispielhaft Verlierer der Geschichte dargestellt, unter dem durchaus löblichen Hintergedanken, dass Geschichte immer von Siegern geschrieben wird. Knopp verpasst jedoch erwartungsgemäß seine große Chance, hier Informationen mit Mehrwert zu präsentieren - stattdessen wird auf alten Klischees herumgeritten.

Donnerstag, 25. Februar 2010

Das BGE als sozialpolitische Utopie?

Von Stefan Sasse

In der letzten Zeit sind die Wellen um das BGE wieder hochgeschlagen. Die FDP fordert eine Variante, die sie das "Bürgergeld" nennt, das BVerfG-Urteil macht größere Reformen an der derzeitigen Gesetzgebung ohnehin notwendig und die Wiederbelebung der Debatte durch die Finanzkrise hat die Diskussionskultur ohnehin wieder zumindest einen Fuß aus dem Grab strecken lassen - wer über die Tobinsteuer diskutiert kann auch über ein Grundeinkommen reden. Aber wie sinnvoll ist ein BGE tatsächlich? Früher habe ich mich dafür ausgesprochen, heute finde ich mich auf der Seite der Gegner wieder. 

Mittwoch, 24. Februar 2010

Die Bischöfin und die Buße


Ganze vier Monate war sie im Amt, nun ist sie als Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der EKD zurückgetreten: Margot Käßmann. Unbequem war sie, eine streitbare “Gotteskriegerin”, die sich für die Schwachen einsetzte und zuletzt erst bei der Afghanistanfrage auch den Diskurs mit Verteidigungsminister zu Guttenberg nicht scheute. Eine mutige Frau, die auch öffentlich über  ihre Scheidung und ihren Brustkrebs sprach – für eine Frau in ihrer Position sicher nicht selbstverständlich.

Dienstag, 23. Februar 2010

Dinosaurier der Gewaltenteilung

Von Stefan Sasse

Die Gewaltenteilung gehört unbestritten zu den wichtigsten Grundsätzen unserer Demokratie. Staaten, in denen sie nicht verwirklicht ist, können nach unseren Maßstäben nicht als Demokratien gelten, da ihnen elementare Mittel der checks&balances fehlen. Ein wunder Punkt der Gewaltenteilung sind in allen demokratischen Staaten zwangsläufig die Geheimdienste. Sie operieren im Geheimen, das heißt, Transparenz ist Gift für ihren Job, und gleichzeitig benötigen sie weitreichende Befugnisse, um ihren Job ausführen zu können. Beides wird hingenommen, weil ohne diese Prämissen ein Geheimdienst nicht möglich wäre. So überrascht es auch nicht, dass im Raum der Geheimdienste immer wieder Skandale entstehen.

Fundstück

Sehr,  sehr guter Artikel in der SZ zum Thema Pluralismus und Toleranz, den ich euch dringend ans Herz legen möchte.

Und Sie würden es wieder tun….

Von Jürgen Voss

Vor unseren Augen, von der liberalen Öffentlichkeit fast wehrlos, ja resignativ hingenommen, spielt sich zurzeit ein tolles Schauspiel ab, dessen Dimensionen alle Phantasien des absurden Theaters weit übertreffen.

Das Drehbuch dieses Schauspiels in Stichworten: Die herrschende politische Kaste unseres Landes rennt seit nunmehr dreißig Jahren einer grotesken Wirtschaftstheorie hinterher, versucht sie mit einem gigantischen Propagandaapparat der „dummen“ Masse einzutrichtern (übrigens erfolglos), erzielt mit ihr in der Praxis aber nur Resultate, die nicht anders als desaströs bezeichnet werden können: astronomisch wachsende Verschuldung des Gemeinwesens (bei Zielsetzung „austerity“!), Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut, massive Entziviliserung wie Amokläufe und Gewaltausbrüche, und fährt schließlich mit deregulierten Finanzmärkten die gesamte Wirtschaft vor die Wand.

Auf Wiedersehen, Herr Westerwelle

Steuer gegen Armut

Montag, 22. Februar 2010

Dank an die Radikalen

Von Stefan Sasse

Liebe FDP, lieber CDU-Unternehmerflügel,

ich wollte die Gelegenheit nutzen, um ganz privat danke zu sagen. So unter uns, gewissermaßen. Schließlich stehen wir ja eigentlich auf gegenüberliegenden Seiten des Zauns. Das tun wir auch immer noch, anders hätte ich wahrscheinlich wenig Grund, euch zu danken. Als irgendwie halbwegs rationaler Parteifreund hätte man es mit euch wahrlich nicht leicht. 

Sonntag, 21. Februar 2010

Die Rente

Altersarmut ist kein Schicksal, sondern ein Geschäft

Ein Gastbeitrag von Arno Hirsch

Wegen der demographischen Entwicklung und jetzt auch noch angesichts der Weltwirtschaftskrise wird über die Finanzierbarkeit des Sozialstaats und der Rente insbesondere öffentlich lamentiert. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo der Sozialstaat der BRD mehr denn je existentiell notwendig ist, will man ihn abbauen mit dem Argument, er wäre nicht mehr bezahlbar. Es handelt sich bei diesen Behauptungen um reine Propaganda, ohne einen Funken von Wahrheit.

Samstag, 20. Februar 2010

Dirk Niebel – der schlechteste Bundesminister aller Zeiten?

Ein Gastbeitrag von Markus Weber

Guidos Kettenhund wird losgelassen

Dirk Niebel hatte als neuer Chef des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) einen unglaublichen Fehlstart hingelegt. Westerwelles marktradikaler Schoßhund, der immer dann von der Leine gelassen wurde, wenn Guidos Tonfall noch zu wenig schrill, noch zu nüchtern und noch zu sachlich erschien, und sich dann als überaus aggressiv und beißwütig entpuppte, übernahm damit ausgerechnet das Ministerium, für dessen Abschaffung er sich zuvor energisch eingesetzt hatte. Von der fachlichen Kompetenz her gab es wohl selten einen Minister, der unqualifizierter war – und sicher keinen, dem sein Ressort so wenig am Herzen lag. Er selbst gab auch zu, “Neuling zu sein” auf diesem Gebiet. So kann man es natürlich auch ausdrücken.

Die Macht der Spiele

Auf der DICE2010 wurde ein interessanter Vortrag gehalten, der sich mit der Zukunft elektronischer Spiele beschäftigt. Die Aussicht, die der Mann darlegt, ist sowohl erschreckend wie auch faszinierend. Die Verweise auf die aktuellen Verwerfungen in der Spieleindustrie wie die Entlassungswelle bei EA halten sich in Grenzen, es sollte also auch für Neulinge verständlich sein. Viel Spaß damit.

Stefan Sasse

Freitag, 19. Februar 2010

Danke, Herr Westerwelle!


Danke, dass es Sie gibt! Der mediale Donnerhall, der Ihre imposante Erscheinung umgibt, verdeckt erfolgreich die Tatsache, dass der Karren zunehmend im Dreck steckt. Krieg nach außen, wachsende Armut im Inneren, über allen Wipfeln die Wirtschaftskrise, doch Sie, der wirtschaftsliberale Innenminister des Äußeren, haben die Wurzel allen Übels schon ausgemacht – es ist der gemeine Hartz-IV-Empfänger.

Donnerstag, 18. Februar 2010

Nicht geführte Debatten

Eine mangelnde Debattenkultur schadet jeder Gesellschaft. Werden Konflikte nicht rhetorisch ausgetragen, müssen sie sich anderweitig ein Ventil suchen, das meist nicht so friedlich ist. Die Bundesrepublik leidet nicht daran, dass in ihr Debatten mit intellektuellen Tieffliegern von Sarrazin bis Westerwelle geführt werden. Sie leidet daran, dass manche Debatten überhaupt nicht geführt werden. Man erregt sich über geistigen Dünnschiss von Mixas sexueller Revolution über Sarrazins Kopftuchmädchen hin zu Westerwelles Lohnabstandsgebot, ohne in Frage zu stellen dass man hier an Problemen herumdoktort, während die grundlegenden Fragen völlig ungeklärt bleiben. Auf diesem Grund aber kann man effektiv zu keinen Lösungen kommen. 

Tauwetter in den Medien

Im August letzten Jahres habe ich unter der Überschrift "Tauwetter in den Medien?" die Frage gestellt, ob die Medien aus ihrem Dornröschenschlaf der Hofberichterstattung erwachen und endlich wieder ihre Aufgabe als kritische Meinungsbilder wahrnehmen. Ich habe in der Überschrift dieses Artikels das Fragezeichen weggelassen. Meine Kommentatoren sind heute noch sehr kritisch in der Frage, wie das aktuelle Beispiel zeigt. Ich bin allerdings in den letzten Wochen und Monaten zu der Überzeugung gekommen, dass tatsächlich ein Tauwetter existiert. Bevor das jetzt jemand falsch versteht: Tauwetter ist nicht das gleiche wie der heitere Sonnenschein, den wir uns alle wünschen. Es ist ein Anfang, ein zaghaftes Wegschmelzen des erstickenden Eises. Es kann sowohl alles schmelzen als auch eine neue Kälteperiode kommen.

Dienstag, 16. Februar 2010

Kommunistische Unterwanderung beim Stern!

Anders kann ich mir diesen Artikel eigentlich überhaupt nicht erklären. Mann oh Mann, da muss Westerwelle aber Überstunden schieben um all diese linke Unterwanderung anzuprangern. Scheint tatsächlich, als würde der Stern nach fast 30jähriger Diaspora wieder ein kritisches Magazin werden wollen. Zu begrüßen wäre es.

Von der Unbequemlichkeit des Grauens

Bischof Walter Mixa, bereits in der Vergangenheit für interessante wie unterhaltsame Statements zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen bestens bekannt, hat sich nun bezüglich der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche zu Wort gemeldet. Er macht auch schnell einen Schuldigen für die Misere aus. Natürlich nicht Kirche und Zölibat, wo kämen wir denn da hin (obgleich ich von der Theorie auch wenig halte): es ist die sexuelle Revolution!
"Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig", sagte Mixa in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen.

Montag, 15. Februar 2010

Bei den Trümmern von Babylon?


Karl May hätte wohl besser getitelt: Vor den Trümmern der Gewerkschaftsfreiheit, aber dann hätte er wohl Marx statt May heißen müssen. Der Arbeitskampf zwischen der syndikalistischen (Ex-)Gewerkschaft FAU und den Betreibern des Berliner Kinos "Babylon Mitte" geht Dienstag, den 16. Februar 2010,  vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in eine neue Runde.

Samstag, 13. Februar 2010

Der Unbelehrbare

Es ist gut, dass in der Krise wenigstens auf einen Verlass ist: Prof. Dr. Raffelhüschen, seines Zeichens gut bestalltes Aushängeschild der privaten Versicherungswirtschaft mit angeschlossener Professorenstelle zur staatlichen Alimentierung ohne große Gegenleistung hat in der BILD "Sieben bittere Wahrheiten über Hartz-IV" zum Besten gegeben. "Hat Westerwelle etwa Recht?" schockt bereits der Untertitel, aber das ist wohl für alle eine rhetorische Frage. Für die BILD, weil das unausgesprochene "Ja", für unsereins, weil das unausgeprochene "Nein, nie" mitschwingt. Die sieben ach so bitteren Wahrheiten, die Raffelhüschen präsentiert, sind in ihrer geistigen Schlichtheit bezeichnend. Anno 2005 hätten sie von Spiegel, Zeit, FAZ und Co noch Begeisterungsstürme hervorgerufen, doch heute sind Raffelhüschen und seine Mit-Banditen endlich als die Ewiggestrigen entlarvt, die sie eigentlich schon immer waren - Quacksalber mit zweifelhaften Mixturen, bei denen der Patient von Glück sagen kann wenn sie nur nutzneutral sind und ihn nicht gleich von der Kranken- auf die Leichenbahre befördern.

Wenn zwei sich streiten

Der Streit zwischen Schweiz und Deutschland um den Kauf der Daten-CD nimmt langsam groteske Züge an, profilieren sich in diesem eigentlich genuin außenpolitischen Streit doch vor allem die Kämpfer innenpolitischer Frontlinien. Der schweizerische Nationalrat Alfred Heer droht damit, eine Gesetzesvorlage einzubringen die die schweizer Konten aller Deutschen offenlegt, die im Öffentlichen Dienst Stellen bekleiden, falls diese die CD kaufen sollten.
Irgendwie gefällt mir die Idee. Ich hoffe, dass das Ganze auf deutscher Seite jetzt einfach auch eine Stufe eskaliert. Je krasser die beiden Seiten sich hier gegenseitig bedrohen, desto mehr gewinnen wir einfache Steuerzahler ohne Konten in der Schweiz. Macht weiter, Freunde! Das nenne ich einen fruchtbare Streit.

Buchbesprechung: Heinz Verfürth - Schwarzbuch Politik

Was wird über die Politik nicht alles gemeckert! Korrupte Politiker, machtgeile Egomanen, Strippenzieher im Hinterzimmer und inkompetente Karrieristen – das sind die Bilder, die einem einfallen und mit denen man tagtäglich in den Medien bombardiert wird. Da nimmt es nicht wunder, dass „Politiker“ in der Beliebtheitsskala der Berufe regelmäßig mit Journalisten und Lehrern um die untersten Plätze wetteifert. Tatsächlich bietet ein Ausschnitt aus dem aktuellen Tagesgeschehen genug Anlass zum Ärger: Westerwelles Ausfälle gegen Hartz-IV-Empfänger oder Röslers Brachialgesundheitsreform mit der Brechstange stehen nur pars pro toto.

Donnerstag, 11. Februar 2010

Buchbesprechung: Marc Beise - Die Ausplünderung der Mittelschicht

Die Mittelschicht ist arm dran. Seit sich ihr Anteil an der Bevölkerung im Zuge der Wirtschaftspolitik der 1960er und 1970er Jahre stark vergrößert hat, unternahmen Kabinette von Kohl über Schröder bis Merkel alles, um sie wieder schrumpfen zu lassen. Der Schwanengesang auf die Mittelschicht, deren Untergang bevorsteht und die ganze Republik in den Abgrund einer Oligarchie des Hartz-Pöbels reißen wird zieht sich seit Jahren als Konstante durch das Feuilleton. Die kalte Progression und den Mittelstandsbauch gibt es immer noch, und solange Bücher von Marc Beise auf den Wühltischen der Republik dem arglosen Leser die Rezepte von vorgestern als brandaktuell verkaufen wird sich daran auch nichts ändern.

Westerwelle in Sorge

Westerwelle warnt vor "spätrömischer Dekadenz", die Einzug in Deutschland halten würde. Wow, denkt man sich, hat er etwa erkannt, was seine Klientel bisher getan hat? Ist endlich Einsicht eingekehrt in den Hallen der FDP, der Irrweg eingestanden? Ach iwo. Spätrömische Dekadenz bricht für Westerwelle aus, wenn die Hartz-IV-Sätze um 30 Euro im Monat steigen und man nicht irgendeiner Spenderbranche die Steuern senken kann. Kurz zur Info, Herr Westerwelle: für Dekadenz braucht man etwa so viel Geld, wie Ihre Wähler am Fiskus vorbeischleusen. Mit Hartz-IV kann man beim besten Willen nicht dekadent sein.

Annäherung an die Realität?

Der Außenminister im "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt"

(Ein Gastbeitrag von Frank Benedikt vom Auto-Anthropophag)

Nachdem die Bundeswehr am Hindukusch bereits das neunte Jahr die deutsche Freiheit und Sicherheit verteidigt, scheint zumindest bei der Bewertung der dortigen Lage ein Umdenken stattzufinden. Lange Jahre  wurde ja das Tabuwort "Krieg" peinlichst vermieden, zunächst von Peter Struck, dann von Franz Josef Jung, die beide stets nur von einem "Stabilisierungseinsatz" sprachen, bis mit Verteidigungsminister zu Guttenberg ein neuer Sprachgebrauch auf der Hardthöhe Einzug hielt. Erstmals war die Rede von "kriegsähnlichen Zuständen", ein Begriff, der die Lage vor Ort schon wesentlich treffender beschreibt, dann, im Januar, wollte der "Baron der Herzen" die Situation zügig als "bewaffneter Konflikt" , um "die Rechtssicherheit für die deutschen Soldaten zu verbessern". Nun hat auch Außenminister Westerwelle in einer Regierungserklärung eine Neubewertung der Lage in Nordafghanistan und erstmals von einem "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt" gesprochen. Was auf den ersten Blick wie eine realistischere und ehrlichere Einschätzung der Lage erscheint, hat jedoch auch seine Tücken.

Mittwoch, 10. Februar 2010

Der Kater nach der Party

Das BVerfG-Urteil ist gerade anderthalb Tage alt, und schon steht die Republik Kopf. Wie wird sich Hartz-IV ändern? Nach oben? Nach unten? Bleibt es gleich? In die anfängliche Euphorie über das Urteil mischt sich schnell Ernüchterung. Das Gericht hat nämlich die Höhe der Hartz-IV-Sätze nicht generell bemängelt. Das ist allerdings auch nicht seine Aufgabe. Es ist ohnehin schon schlimm genug, dass das BVerfG das einzige Korrektiv zu einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Regierungspraxis ist, eine Stelle, die eigentlich die Legislative, nicht die Judikative ausüben sollte. Was aber ist in der Folgezeit zu erwarten?

Halbjahreszeugnis für Schwarz-Gelb

Das erste Halbjahr schwarz-gelber Politik auf dem Prüfstand

In den deutschen Schulen steht derzeit das große Zittern an: Halbjahreszeugnisse werden ausgegeben, und die Frage, ob das Kästchen „Elterngespräch erwünscht“ bei einem angekreuzt ist, bereitet hie und da schlaflose Nächte. Zumindest die Unsicherheit darüber, wie ihre Zeugnisse ausfallen werden, hat für die Mitglieder des schwarz-gelben Kabinetts ein Ende. In einer Beliebtheitsumfrage des Instituts emnid gelang es nur wenigen, über die 50%-Marke zu kommen, nach der sie ihre Arbeit gut gemacht hätten. Hier finden wir neben den üblichen Verdächtigen Guttenberg, Merkel und Schäuble etwas überraschend auch von der Leyen. Alle anderen Minister befinden sich unter 50%, besonders signifikant die FDP-Minister, die allein die untersten drei Ränge belegen.

Dienstag, 9. Februar 2010

Gedanken eines Reformisten

Traurig, dass auch Du dem Kapitalismus hinterher rennst - ich hatte Deine Blogeinträge stets auch als moderat antikapitalistisch empfunden :(
Der Kapitalismus, der sich bei dir Marktwirtschaft nennt, wird immer weiter Hunger, Elend, Ausbeutung und Umweltzerstörung zeitigen, wenn wir dem "Markt" nicht endlich ein Ende setzen! Schließlich beruht der Profit einzig und allein auf Ausbeutung, Knappheit der Produkte usw. Außerdem, allein das Geld an sich, das es darauf anlegt, ständig mehr zu werden, zwingt die Wirtschaft zum Wachstum, das für die Bedürfnisbefridigung der Menschen hier nicht ausführlicher werden, sondern nur empfehlen, Marx zu lesen - und sich einige Vorträge des "Forums GegenStandpunkt" auf Radio X aus Frankfurt am Main anzuhören - die betreiben dort seit vielen Jahren brillante, tiefschürfende und ebern marxistische Gegenwartsanalyse. Da gehen einem wirklich die Augen auf! Ich bin zwar Mitglied in der LINKEN (schon seit 2001 in der PDS), aber inzwischen habe ich Zweifel, ob auf diesem Weg ein Systemwechsel erreicht werden... ich hoffe immer noch, dass die LINKE sich eindeutig antikapitalistisch positionieren wird - denn nur in der Kooperation kan die Zukunft liegen, die Konkurrenz führt uns ins Verderben!

Ansätze struktureller Schulreformen

Wer meine Bildungssystem-Serie gelesen hat, kennt meine grundlegenden Gedanken zum Thema bereits. Ich möchte heute einige eher unstrukturierte Gedanken zu einer strukturellen Schulreform vorstellen (was für eine Satzkonstruktion!). "Strukturell" ist hier nicht als "allumfassend" zu verstehen, sondern auf die Struktur bezogen. Der Aufhänger dieser Reform sind die Arbeitsbedingungen der Lehrer, an deren Veränderung gewissermaßen alle anderen Reformschritte hängen beziehungsweise aus denen sie sich ergeben.

Montag, 8. Februar 2010

"Fear the Boom and the Bust"



via weißgarnix

Und hier noch der Text.

Rundumschlag

Heute möchte ich anhand von vier Artikeln, die mir bei der heutigen Lektüre besonders aufgefallen sind, einige Themenbereiche abdecken.

1) Charlotte Knobloch wird dieses Jahr als Zentralratspräsidentin abgelöst, die SZ widmet ihr ein kurzes Porträt und klärt wichtige Fragen um ihre Person. Diejenigen, die wohl nach ihr kommen werden, kann man mit Fug und Recht als Hardliner bezeichnen, da sie Knobloch ständig für ihre relative Zurückhaltung aus tagespolitischen Fragen und ihren Versöhnungskurs kritisierten. Ich ging mit Knobloch in der Vergangenheit wahrlich nicht oft d'accord - der Zentralrat leidet an dem gleichen Problem, das sämtliche Religionsinstitutionen haben, nämlich dass er sich verselbstständigt und bald nur noch selbstreferentiell denkt und handelt -, aber wenn ich höre, dass ihre potentiellen Nachfolger Knobloch etwa dafür kritisieren, dass sie Westerwelle umarmte, der sich noch nicht für Möllemanns antisemitischen Wahlkampf von 2002 entschuldigt habe - du meine Güte, euer Marsch in die politische Bedeutungslosigkeit gehört noch beschleunigt, und man sollte solches Gerede genauso belächeln und verwerfen wie das Gerede irgendwelcher katholischer Bischöfe, die wieder einmal erklären warum das Einernährermodell Gottes Wille ist. Der Zentralrat ist eigentlich nur ein Quell des ständigen Ärgers, und ich habe schon von genügend Juden gehört, dass sie ebenso empfinden. Eigentlich sollte es nicht notwendig sein zusätzlich zu erklären, dass das alles natürlich nicht antisemitisch gemeint ist, aber die ganze Debatte ist ohnehin vergiftet.

Sonntag, 7. Februar 2010

Jaja, der dumme Amerikaner, was wären wir ohne ihn

Bei diesem Youtube-Video sind mehr die Kommentare interessant als das eigentliche Video, deswegen binde ich es nicht ein. Es geht um eine Quizshow, die dank der Einfallslosigkeit und Anspruchslosigkeit unserer heimischen Publikums sicherlich auch den Weg auf die hiesigen Mattscheiben gefunden hat. Ein Blondchen muss die Frage beantworten, welchen europäischen Landes Hauptstadt Budapest ist. Sie weiß es natürlich nicht, im Gegensatz zu den naseweisen Bengeln, die in dieser Show irgendwie für Quote sorgen sollen, aber darum soll es nicht gehen.
In den Kommentaren zu dem Video, die YouTube-typisch in geradezu inspirierender Qualität sind, werden vor allem drei Zuteilungen getroffen: typisch Frau, typisch Blondine, typisch Amerikaner. Alle drei sind gleichermaßen dämlich, aber die ersten beiden verwerfen wir einfach gleich. Viel interessanter, weil in den Kommentaren auch ausführlich breitgetreten, ist die Frage nach "typisch Amerikaner". Ich kann dieses dämliche Klischee à la "die sind total ungebildet" nicht mehr hören. Die Videos, auf denen Leute irgendwelche nutzlosen Fragen nicht beantworten können haben ja gerade Hochkonjunktur. Um diese nutzlosen Vorwürfe zu dekonstruieren mal kurz die folgenden Fragen beantworten ohne irgendwo nachzuschlagen:
- Wie heißt der Regierungschef Kanadas?
- Was ist die Hauptstadt von Nicaragua?
- Liegt Panama in Süd- oder in Mittelamerika?
Werden wir einfacher:
- Wie heißt der Kanzler Österreichs?
- Welchen Titel hat das Staatsoberhaupt Polens?
Muss ich weitermachen? Ich kanns echt nicht mehr hören.

Es braucht echt kein Springer mehr



Etwas veraltet, aber na ja. Aussagekräftig ohne Kommentar.

Samstag, 6. Februar 2010

Buchbesprechung: Roberto de Lapuente - Unzugehörig

Roberto J. de Lapuente gehört in der deutschen Bloggerszene nicht gerade zu den Unbekannten: Sein Blog „ad sinistram“ gehört zu den erfolgreicheren dieser Zunft. Nun hat der bekennende Anarchist ein erstes Buch veröffentlicht, das hier zur Rezension vorliegt. Dieses Buch setzt sich zusammen aus einer Sammlung von überarbeiteten Beiträgen de Lapuentes für sein Blog „ad sinistram“, die für das Buch noch einmal überarbeitet wurden. Wollen wir uns das Ganze also einmal genauer ansehen!

Das Buch besteht aus einer Ansammlung von 31 kurzen Texten in essayistischer Form. Sie befassen sich mit drei zentralen Themenkomplexen: Der seelenlosen Bürokratie, die durch die Hartz-Reformen geschaffen wurde, dem Ausländerhass der Deutschen und der Auschwitz-Mentalität. Die Essays sind dabei, der Natur ihres Blogursprungs entsprechend, auf zeitaktuellen Ereignissen basierend. Es ist Robertos Verdienst, dass es ihm gelingt, seine Anklagen in geradezu lyrische Prosa zu packen. Oftmals spürt man die Anleihen beim Stil großer Autoren wie Camus, Marcuse, Orwell und Sartre. Verwundbare, geisterhafte Gestalten irren durch die Flure der Arbeitsämter dieser Republik, in denen seelenlose Menschmaschinen ihnen erklären, dass die Aktenlage leider nicht zulässt, dass man sich ihres Schicksals erbarmt. Ärztliche Gutachten über die Arbeitsfähigkeit werden höher bewertet als die offensichtlich durch „Mark Eyeball“ zu erlangende Erkenntnis, dass der „Kunde“ vor einem an einem Bein amputiert ist. Man täusche sich ja so oft, erklärt der Beamte mit Unschuldsmiene, wogegen das ärztliche Urteil das einer Fachkraft und im Allgemeinen verlässlich sei.

Es ist die schmerzhafte Surrealität solcher Szenen, die de Lapuente vor dem Leser ausbreitet und die diesen so in seinen Bann schlagen. Doch nicht nur der seelenlosen Bürokratie der Arbeitsämter als solcher widmet sich der Autor, sondern sein zurecht idealistischer Kreuzzug streitet auch engagiert wider das bürgerliche Vergessen, wider das, was ich hier als Auschwitz-Mentalität subsumiere. Die Leichtigkeit, mit der ihm es gelingt, die Selbstrechtfertigung eines ehemaligen Hartz-Beamten in einem postrevolutionären Deutschland genau nach der eines KZ-Wächters klingen zu lassen, der immer noch nicht zu erkennen vermag, warum „was damals Recht war, heute Unrecht sein kann“, ist beeindruckend und regt zu tiefem Nachdenken an. Der Übergang von diesem Topos zur Frage des allgegenwärtigen deutschen Ausländerhasses ist fließend.

De Lapuente kennt ihn nicht nur vom heimischen Schreibtisch aus; der Name verrät es, er hat ihn selbst erlebt. Der Bayer mit dem spanischen Vater musste in der bajuwarischen Provinz genug davon ertragen, und folgerichtig gehört das titelgebende Essay „Unzugehörig“ auch zu den stärksten des Bandes, da es aus dem Vollen seiner eigenen Seele und Erinnerungen schöpft.

In dieser Geschichte wird der Leser am stärksten emotional gepackt, in vielen anderen zur kritischen Selbstreflexion gezwungen. Könnte ich das sein? Wie gehen wir miteinander um? Wollen wir so leben? Roberto de Lapuente gibt in seinen Beiträgen keine Antworten darauf, vielmehr öffnet er uns die Tür, selbst darüber nachzudenken und unsere eigenen Schlüsse zu ziehen. In einer Welt, in der die Konformität der Gedanken zunehmend überhand nimmt ist, dies kaum hoch genug einzuschätzen.

Donnerstag, 4. Februar 2010

Was der Mensch braucht

Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten (Stand Januar 2010)

- Ein Gastbeitrag von Lutz Hausstein


I. Vorbemerkung

Mit der Einführung der aktuellen Sozialgesetzgebung durch die rot-grüne Regierungskoalition im Jahr 2005 entstand in breiten Teilen der Bevölkerung massiver Widerstand dagegen, der sich sowohl gegen grundsätzliche Annahmen in diesen Gesetzen wie auch gegen eine Vielzahl einzelner Inhalte und Bestandteile richtete. Dieser zu Beginn noch in der Öffentlichkeit ausgetragene Widerstand, auch in Form größerer Demonstrationen in mehreren Städten, ebbte im Laufe der Zeit spürbar ab. Dies dürfte in nicht unerheblichen Teilen auf die konsequent „aussitzende“ Haltung der Politik zurückzuführen sein, der der öffentliche Widerstand scheinbar machtlos ausgeliefert war und noch heute ist.

Die nachfolgende empirische Analyse befasst sich explizit mit den Inhalten und der Höhe einer sozialen Mindestsicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Grundlagen betreffen alle hier wohnhaften Personen - Arbeitslose, geringfügig Beschäftigte, prekär Beschäftigte, Migranten, Rentner oder weitere betroffene Bevölkerungsgruppen. All diese müssen auch unter den Verhältnissen in der Bundesrepublik ihr Dasein gestalten und benötigen dafür auch die entsprechenden materiellen Voraussetzungen.

Angrenzende Inhalte wie Sanktionierungen als auch deren rechtliche Grundlagen, Ein-Euro-Jobs, die Praxis der sogenannten Bedarfsgemeinschaften und weitere kritisierte Bestandteile, bleiben hierbei unbetrachtet. Die Betrachtung möglicher Einschränkungen bzgl. Art.11, Art.12, Art.13 GG sowie der Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen bedürfen einer separaten Untersuchung. Leitgegenstand dieser Untersuchung ist ausschließlich die Frage:

„Wieviel braucht ein Mensch in der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt zum Leben und damit zur Wahrung seiner grundgesetzlichen Rechte nach Art.1, Art.2 sowie Art.3?“


II. Grundlagen der Berechnung


Mehrfach wurde der Gesetzgeber in den vergangenen 5 Jahren an verschiedenen Stellen durch unterschiedliche Gerichte zu vereinzelten Abänderungen der Gesetze, jedoch nur kosmetischer Natur, gezwungen. Die eigentlichen Ursachen des Widerstands in der Bevölkerung spiegeln diese Marginalien aber nicht wider und beseitigen sie demzufolge auch nicht. Einer der Punkte der massiven Kritik ist die Höhe der zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel, welche den von diesen Gesetzen Betroffenen ihre grundgesetzlichen Rechte und damit die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben garantieren sollen. Dies wird schon allein dadurch dokumentiert, dass der Regelsatz (inkl. der als „angemessen“ bezeichneten Kosten für Unterkunft) in seiner Höhe unter allen, verschieden definierten, Grenzen für Armut liegt.

Das regelmäßig angeführte Argument des Lohnabstandsgebotes sowie ähnlich intendierte Vergleiche zwischen Beziehern von Niedriglöhnen und Sozialleistungsbeziehern ist hierbei grundsätzlich abzulehnen, da eine verfehlte gesellschaftliche Verteilungsfunktion nicht zur Grundlage für die Festlegung von Sozialleistungen sein kann. Basis für diese Feststellung bietet u.a. der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, welcher einerseits seit Jahren stark zunehmende Konzentration sowohl von Vermögen wie auch von Einkommen auf der einen Seite als auch eine Abnahme derselben bzw. gar einen Aufbau von Verschuldung auf der anderen Seite dokumentiert. Gelegentlich publizierte Thesen des Selbst-Verschuldens bzw. des unwirtschaftlichen Handelns der Betroffenen sind durch keinerlei Fakten belegt und müssen deshalb mit aller Nachdrücklichkeit zurückgewiesen werden. Ebenso ist eine häufig vorgeworfene falsche Prioritätensetzung durch die Regelsatz-Empfänger aufgrund des Kaufes von zur Lebensführung unnötiger Güter zu verwerfen. Dies widerspricht selbst elementaren allgemeingültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Die aktuelle Berechnung des Regelsatzes durch den Gesetzgeber ist, wie vielfach bemängelt, in vielen Einzelpositionen völlig intransparent. Es muss jedoch schon die strukturelle Herangehensweise bei dessen Ermittlung in Frage gestellt werden. Die Zugrundelegung des Konsumverhaltens anderer Bevölkerungsteile mag zwar einen Fingerzeig auf generelles Konsumverhalten geben, zur Ermittlung eines Grundbedarfs, erst recht durch Einberechnung von pauschalen prozentualen Abzügen, ist es vollständig ungeeignet. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Einkommenshöhe einer Bevölkerungsgruppe, die möglicherweise selbst zu wenig zum Leben hat, den Maßstab für eine andere Gruppe legen sollte. Nur der Aufbau eines eindeutig festgelegten Warenkorbes, welcher in seinen Inhalten, Mengen und zugrunde gelegten Preisen in vollem Maße der praktischen Realität entspricht, kann das im Grundgesetz verbürgte Recht garantieren. Dabei muss vollständig gewährt sein, dass allen Betroffenen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand und regionalem Wohnort, Genüge getan wird, da es sich bei diesem Wert um einen Mindeststandard handelt, der unter keinen Umständen unterschritten werden darf. Andernfalls würden damit grundlegende Menschenrechte verletzt.

III. Grundannahmen:


Im Folgenden wird anhand einer praktischen Untersuchung versucht, einen realitätsnahen Wert für die Höhe einer sozialen Mindestsicherung zu ermitteln. Dem wird ein an praktischen Bedürfnissen orientiert gebildeter Warenkorb, fußend auf den Rechten der physischen Existenzsicherung sowie grundlegenden Anteilen zu einer soziokulturellen Teilhabe, zugrunde gelegt. Die Mengen und Preise wurden durch empirische Untersuchungen, umfangreiche Recherchen als auch Befragungen vergleichbarer Haushalte ermittelt.

Dabei wurde von den folgenden Bedingungen ausgegangen:

(1) Die Ermittlung des Bedarfs erfolgt auf der Grundlage einer erwachsenen, gesunden Person. Der Bedarf von kranken Hilfeempfängern bzw. auch von Kindern ist separat zu berechnen und kann auch nicht mittels einer pauschalierten prozentualen Minderung oder Erhöhung korrekt ermittelt werden. Denn diese Personenkreise besitzen einen Bedarf, der in vielen Punkten grundsätzlich von dem eines gesunden Erwachsenen abweicht. So wird man einerseits mit einem prozentual verminderten Bedarf für Kinder an Anzügen, Tabakwaren, Alkohol oder Hausratversicherungen keineswegs gerecht, andererseits ist der höhere Bedarf für Spielwaren, Bekleidung, Lernmittel ebenfalls nicht pauschaliert, erst recht nicht mit prozentualen Abzügen, errechenbar.

(2) Die zugrunde gelegten Güter und Leistungen basieren auf einer Analyse eines Ein-Personen-Haushaltes mit den im Grundgesetz sowie der Sozialgesetzgebung korrespondierenden Notwendigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung bezüglich materieller Existenz und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

(3) Die jeweiligen Mengen wurden durch eine Eigenuntersuchung sowie Befragungen weiterer Personen unter Beachtung der Kriterien des Punktes (1) ermittelt.

(4) Alle Preise unterliegen einer generell sehr starken Schwankungsbreite. Diese sind regional, teils saisonal, jedoch auch anbieterspezifisch bedingt. Saisonalen Schwankungen wurde mit einer Mittelwert-Lösung Rechnung getragen. Regionale Besonderheiten sollten erfahrungsgemäß innerhalb eines Korridors von unter 10 Prozent liegen, einzelne Güter, wie z.B. Personennahverkehr, Stromkosten, ausgenommen. Auch aus diesen Gründen wurden keine absoluten Tiefstpreise zugrunde gelegt, sondern sich im unterem Segment befindliche Preise.

(5) Die Verwendung des fiktiven „homo oeconomicus“, welcher über eine vollständige, allumfassende Marktkenntnis verfügt und darüber hinaus in der Lage wäre, diese Kenntnisse durch den Kauf eines einzelnen Produktes am jeweilig preisgünstigsten Standort zu realisieren, ist absurd. Sowohl Informationsdefizite als auch logistische Unmöglichkeiten stehen dieser Annahme grundsätzlich entgegen. Auch aus diesem Grund werden in der nachfolgenden Untersuchung keine absoluten Minimalpreise in Anwendung gebracht, sondern Preise im unteren Segment.

(6) Es wurde generell auf die Nutzung von Gebrauchtartikeln verzichtet, da diese aufgrund ihrer Eigenschaften eine verkürzte Nutzungsdauer aufweisen und es somit zu einer schnelleren Neuanschaffung führen würde. Desweiteren legt eine „Mindestsicherung“ zugrunde, dass jeder Einzelne des betroffenen Personenkreises auf diese Produkte Zugriff haben muss. Dies ist jedoch in einer Vielzahl von Fällen, z.B. für Bewohner ländlicher Regionen, nicht zu gewährleisten.

(7) Derselbe Grund führte dazu, dass Sonderangebote keine Berücksichtigung finden können. Diese regelmäßig lokalen und temporär gültigen Ermäßigungen erlauben es einem Großteil der Hilfeempfänger nicht, auf diese zurückzugreifen.

(8) Mit einem Preis eines Produktes korrespondiert regelmäßig dessen Qualität und Nutzungsdauer sowie auch dessen wirtschaftliche und, bei elektrischen Geräten, energetische Effizienz. Bei der Berechnung, insbesondere langlebiger Wirtschaftsgüter als auch technischer Produkte, wurde somit eine durchschnittliche qualitätsabhängige Produktnutzungsdauer zugrunde gelegt.

(9) Eine pauschalierte Zugrundelegung eines 30-Tage-Monats, wie aktuell praktiziert, ist realitätsfern. Die nachfolgende Berechnung basiert auf einem 31-Tage-Monat. Es wird empfohlen, den jeweiligen Monatsbetrag der entsprechenden Tagesanzahl anzupassen.

(10) Einzelne Produkte mit extrem kleine Mengen bzw. sehr geringwertige Güter wurden z.T. zu Gruppen zusammengefasst und mit einem monatlichen Pauschalwert berücksichtigt.

IV.Bedarfsermittlung:




V. Erläuterungen einzelner Positionen:

A.
Reis, Kartoffeln, Eierteigwaren:

Diese Nahrungsmittel für Hauptmahlzeiten ergänzen sich additiv auf die zugrunde gelegte Tagesanzahl des Monats. Gleiches gilt für alle weiteren Substitutionsgüter.

B. Obst und Gemüse:

Obst und Gemüse unterliegen einer besonders starken saisonalen Preisdynamik. Aus diesen Gründen wurde ein unterer Mittelwert aus Hochpreis- und Tiefpreis-Saison als Grundlage der Berechnung herangezogen.

C. Alkoholika, Tabakwaren:

Die generelle Nutzung von Alkoholika sowie Tabakwaren entspricht dem gesellschaftlich anerkannten Verhalten. Diesem wurde mit einer, wenn auch geringen, Menge Rechnung getragen.

D. Zusatzbeitrag Krankenversicherung:

Die vor kurzem durch die Bundesregierung zugelassene und inzwischen auch durch einige Kassen angekündigte Erhebung zusätzlicher Krankenkassenbeiträge in Höhe von maximal 8 Euro ist bei dieser Berechnung zwingend zu berücksichtigen.

E. Waschmaschine:

Eine Waschmaschine im Wert von 200 Euro ist im untersten Preisbereich angesiedelt. Die durchschnittliche Nutzungsdauer eines solchen Gerätes beträgt erfahrungsgemäß 4 Jahre.

F. Computer, Monitor, Drucker:

Ein Computer gehört heutzutage in fast allen Haushalten zur technischen Grundausstattung. Er stellt die Basis für verschiedenartigste Kommunikationsmöglichkeiten dar und ist ebenso für Arbeitssuchende notwendiges Mittel zur Beschäftigungssuche.

G. Transportpauschale:

Der Kauf größerer Einrichtungsgegenstände wie auch elektrischer Geräte erfolgt im obigen Zusammenhang i.d.R. als Ersatzinvestition und somit zeitnah zum Zeitpunkt des Defektes. Eine Zusammenlegung von Käufen mehrerer Produkte ist damit nur eingeschränkt möglich. Diesem wurde mit der Zugrundelegung von 1 Transportpauschale beim Kauf von 3 diesbezüglichen Produkten berücksichtigt unter Zugrundelegung einer jeweiligen Lebensdauer von 8 Jahren für das entsprechende Produkt.

H. Geschirr:

Geschirr unterliegt sowohl einer häufigkeitsbedingten Abnutzung sowie auch Bruch. Diese Umstände wurden durch die durchschnittliche Nutzungsdauer eines 6-teiligen Services von 3 Jahren berücksichtigt.

I. Telefonanschluss, -gebühren, Internetanschluss, -gebühren:

Ein zum derzeitigen Preis von 29,99 Euro/Monat erhältliches Telefon-/DSL-Paket unterbietet den Preis für einen herkömmlichen Telefonanschluss zzgl. eines Internetanschlusses. Aus diesem Grund wurde auf diese Variante zurückgegriffen.

J. Mitgliedsbeitrag Sportverein:

Die Mitgliedschaft in einem Sportverein bietet sowohl die Möglichkeit für soziokulturelle Kontakte als auch die Möglichkeit zur Gesunderhaltung des Körpers. Mit einem Beitrag von 10 Euro monatlich werden Mitgliedschaften in nichtpreisintensiven Sportarten befördert. Mitgliedschaften exklusiverer Sportarten liegen regelmäßig beträchtlich über diesem Betrag.

K. Monatskarte Nahverkehr:

Monatskarten für den Nahverkehr werden in der Bundesrepublik in einer sehr großen Preisspanne angeboten. Aus diesem Grund ist es unmöglich, einen allgemeingültigen Betrag zugrunde zu legen. Es wurde sich deshalb am Betrag eines in einigen Städten erhältlichen Sozialtickets orientiert. Sofern keine anderweitigen Regelungen getroffen werden, ist dringend geboten, deutschlandweit einheitliche Regelungen zu schaffen, um allen Betroffenen eine ausreichende Mobilität zu gewährleisten.

L. Reparaturen:

Die Nutzungsdauer langlebiger Wirtschaftsgüter und technischer Produkte kann signifikant verlängert werden, wenn bei Bedarf notwendige Reparaturen durchgeführt werden können. Mit dieser Pauschale soll diesem Rechnung getragen werden.

M. Strom:

Bei einem Single-Haushalt wird in der Literatur häufig ein Stromverbrauch von 1.800 KWh zugrunde gelegt. Dabei wird jedoch davon ausgegangen, dass sich die betreffende Person nur einen geringen Teil des Tages in der Wohnung befindet. Die Lebenssituation von Hilfeempfängern ist jedoch signifikant anders. Dies wird mit dem leicht erhöhten Stromverbrauch von 2.000 KWh beachtet.

N. Privat-Haftpflicht- sowie Hausrat-Versicherung:

Häufige Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrages ist das Vorhandensein einer Hausrat-Versicherung. Darüber hinaus kann ein Nichtbestehen beider Versicherungen von geradezu existentieller Bedeutung für die finanzschwachen Hilfeempfänger sein.

O. Eigenanteil Wohnungsinstandhaltung:

Regelmäßiger Bestandteil von Mietverträgen sind Eigenanteile von 75 Euro/Jahr für Instandhaltung sowie Reparaturen defekter Geräte oder Gebrauchsgegenstände. Dieses gilt es zu berücksichtigen.


VI. Auswertung:


Diese empirische Untersuchung förderte mit einem aktuellen Bedarf von 684,68 Euro eine eklatante Unterdeckung beim derzeitigen Regelsatz von 359 Euro zutage.



Den umfangreichsten Ausgabeblock mit über einem Drittel bildet hierbei zur physischen Existenzsicherung der Bereich der „Nahrungs- und Genussmittel“. Der umfassende Komplex „Bildung, Kommunikation, Freizeit, Mobilität“ stellt mit rund einem Viertel der Ausgaben den zweitgrößten Bereich dar. Dies ist nicht unmaßgeblich auf die im Verhältnis hohen Kosten für Mobilität zurückzuführen. Die im Bereich „Sonstiges“ zusammengefassten weiteren Kosten sind mit rund 15 Prozent der drittgrößte Ausgabeblock, welches sich zu großen Teilen auf den vom Hilfeempfänger nur wenig beeinflussbaren hohen Kosten für Strom ableitet.



Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Kategorien fällt ins Auge, dass die gesamten 359 Euro des aktuell seit 01.07.2009 gültigen Regelsatzes schon allein durch die Maßnahmen zur unmittelbaren Existenzsicherung mehr als nur ausgeschöpft sind. Hierbei überschreitet die Summe der Lebensmittel (ohne Genussmittel), Hygiene, Reinigung und Gesundheit sowie vertraglich zu zahlende Beträge (Tageszeitung, Telefon-, Internetgebühren, Mitgliedschaft Sportverein, Strom, Hausrat- und Privathaftpflicht-Versicherung, Wohnungsinstandhaltung, Warmwasseraufbereitung), welche als nichtabwendbar angesehen werden müssen, den derzeitigen Regelsatz im Ganzen.



VII. Bewertung:


Dieser eklatante Widerspruch zwischen dem Anspruch einer sozialen Mindestsicherung und der tatsächlichen Realität mit seinem derzeitigen Niveau macht es unerlässlich, eine Wertung des ermittelten Datenmaterials vorzunehmen.

Dieses Ergebnis löst natürlich eine Vielzahl von Fragen aus. Wie konnten die Betroffenen, in Anbetracht dieser krassen Dissonanz zwischen dem eigentlich Notwendigen und dem tatsächlich Gezahlten, in den vergangenen 5 Jahren diese Differenz überbrücken? Die Antwort darauf dürfte vielfältig sein und sicherlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Einige dürften sich mit gelegentlichen aperiodischen zulässigen Hinzuverdiensten die Gelegenheit geschaffen haben, ein Polster anzulegen, von welchem sie zu anderen Zeiten wieder zehren konnten. Einige wenige haben vermutlich ebenso mit nichtlegalen Tätigkeiten ihr Einkommen aufgebessert, um auf dieser Art und Weise die ihnen eigentlich verbürgten Teilhaberechte wahrnehmen zu können, welche ihnen jedoch aufgrund des erheblich zu niedrig bemessenen Regelsatzes verwehrt wurden. Deren Anteil liegt jedoch, entgegen den von verschiedenen Medien und Politikern verbreiteten, nichtbelegten Zahlen, nicht bei 30 Prozent, sondern laut einer Studie des Diakonischen Werkes zwischen 2 und 3 Prozent.

Die absolut überwiegende Mehrheit hingegen wird nach Wegen gesucht haben, ihre Ausgaben weiter zu reduzieren, um so mit dem ihnen zur Verfügung stehendem Geld über den Monat zu kommen. Dies konnte sich angesichts der extremen Unterdeckung nicht nur in der, erzwungenen, Aufgabe sämtlicher Freizeitaktivitäten wie Kino, Theater, Vereinsmitgliedschaften u.ä. erschöpfen, sondern notwendige Ansparungen für altersmüde oder defekte elektrische Gerätschaften als auch marode Einrichtungsgegenstände mussten so unterbleiben. Bekleidung konnte nicht gekauft werden, sodass die Betroffenen ihre alte und abgetragene Kleidung noch weiterhin nutzen mussten. Dies führte gleichzeitig zu Schamgefühlen und einem daraus resultierenden vollständigen Rückzug in den privaten Bereich.

Ein nicht zu unterschätzender Anteil der Beziehenden ist weiter in den Schuldenkreislauf hineingerutscht, indem die Streckung bzw. sogar die Nichtzahlung von ratierlichen Tilgungen von Kleinkrediten für Haushaltsgeräte und Bekleidung etwa bei großen Versandhäusern die einzige Lösung war, um das alltägliche Auskommen zu sichern. Nicht selten sind sogenannte Offenbarungseide und Privatinsolvenzen die einzige Rettung und in sogenannten Bedarfsgemeinschaften danach die Fortsetzung der Verschuldung auf Name des Lebenspartners, die einen weiteren Zyklus der Verschuldung einläutet.

Selbst Einschränkungen im elementarsten Lebensbereich, der Ernährung, sind bekannt. Auch unter der Voraussetzung, dass in der Regel Eltern lieber selbst hungern, nur um ihre Kinder ernähren zu können, führte dies in einigen Fällen dazu, dass die Eltern nicht mehr in der Lage waren, ihren Kindern Geld für die Schulspeisung oder nur ein Pausenbrot mitzugeben. Angesichts dieser Fakten ist es umso verwerflicher, wenn diesen Eltern seitens einiger Meinungsführer vorgeworfen wurde, sie würden ihre Kinder vernachlässigen. So machte man aus den Opfern einer völlig unzureichenden finanziellen Ausstattung nun Täter als „verantwortungs- und gewissenlose“ Eltern.

Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren, nach der Einführung der aktuellen Sozialgesetzgebung, eine Reihe von Suiziden von Hilfeempfängern, deren Ursachen unleugbar in den unwürdigen Lebensumständen sowie den praktischen Umsetzungen der örtlichen ARGEN lagen. Dies wurde jedoch zu keiner Zeit medial thematisiert und gelangte somit auch nicht ins öffentliche Bewusstsein.

VIII. Schlussfolgerungen:


Der aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragene Rechtsstreit über die Höhe des Regelsatzes, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche, steht als Ergebnis eines vor Jahren, noch vor der offiziellen Einführung der beklagten Gesetze, alle Instanzen durchlaufenden Prozesses. Selbst unter der Annahme, dass das BVG der Klage stattgibt, bleibt zu konstatieren, dass aufgrund der durch diesen „Weg durch die Instanzen“ verstrichenen Zeit den Betroffenen eine sehr lange, wertvolle Lebenszeit genommen wurde, welche im Nachhinein in dieser Form nicht wieder herstellbar wird.

Aus diesen Gründen sind folgende Maßnahmen zwingend erforderlich:

Abschließend kann festgestellt werden, dass die vorschnelle Umstellung des ursprünglichen Sozialhilfemodells nach 2005 zu keiner Verbesserung sowohl der Lebensumstände der Betroffenen als auch zu einer Effektivierung des Arbeitsmarktes beigetragen hat, sondern eher zu einer flächendeckenden Unzufriedenheit und derben Schicksalsschlägen geführt hat, welche ihrerseits wiederum die Ursache für weitreichende infrastrukturell-soziale Komplikationen darstellen und wahrscheinlich auf lange Sicht nachwirken. Allein etwa die Tatsache, dass es heute fast gewöhnlich erscheint, dass Menschen unter 25 Jahren bei ihren Eltern campieren müssen, obwohl sozialpsychologisch völlig klar ist, dass damit deren soziale Kompetenz folgenschwer eingeschränkt wird, mag dazu anregen, den sozialpolitischen Überblick infrage zu stellen.

Angesichts der Ergebnisse dieser Analyse sowie ihrer notwendigen Bewertung und der festgestellten mehrfachen Verstöße gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland besteht für die verantwortlichen und handelnden Politiker, sowohl in der Regierung als auch der Opposition, die sofortige Verpflichtung, diese schweren Zuwiderhandlungen in Ihrer Gänze zu beseitigen. Dabei sollten sie nie aus den Augen verlieren, dass all ihre Bestrebungen nur einem einzigen Ziel zu folgen haben: DEM WOHL EINES JEDEN MENSCHEN.

Lutz Hausstein

Leipzig, Januar 2010