Sonntag, 8. Januar 2012

Bedürfnis nach Liberalismus?

Von Stefan Sasse

In der Zeit findet sich ein Pro-Contra-Doppelartikel zu der Frage "Brauchen wir die FDP noch?" Jan Ross argumentiert darin, dass wir sie noch brauchen; Bernd Ulrich erklärt uns, dass wir sie nicht brauchen. Interessant sind die Argumente, die beide bringen, denn eigentlich haben sie mit der FDP nicht viel zu tun. Die beiden Autoren beantworten eine völlig andere Frage, als die Überschrift suggeriert, vielleicht sogar ohne es zu merken - das würde jedenfalls erklären, warum sie diese Frage beide gleich beantworten. Die Frage ist: "Brauchen wir eine liberale Partei?" Und diese Frage muss klar mit "ja" beantwortet werden. Allein, die FDP ist keine liberale Partei. Das ist der eigentliche Haken. Deswegen ist sie auch überflüssig wie ein Kropf, und deswegen wirbelt ihr Untergang auch nicht die politische Geographie der Bundesrepublik durcheinander wie es der vergleichbare Untergang der Sozialdemokratie getan hat. Wer in Deutschland liberal fühlt - und wir sind wahrhaftig nicht gerade ein Mekka für Liberale - der dürfte den Phantomschmerz schon wesentlich länger als seit dem Absturz der FDP nach ihrem künstlichen Höhenflug 2009 spüren. Liberalismus ist nicht gleichbedeutend mit schamloser Korruption und Steuersenkungsfetisch. Es gehört wesentlich mehr dazu. 

Der Liberalismus ist, ich hatte das in einem Geschichtsblog-Artikel vor einiger Zeit dargelegt, eine der großen geistigen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Er stand in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Konservatismus und Sozialismus, im 20. Jahrhundert für eine Zeit lang auch dem Faschismus, und er hat in Deutschland wie bereits oben erwähnt nie eine echte Heimat gefunden. Im 19. Jahrhundert spaltete sich ein großer Teil der Liberalen ab und warf sich dem Nationalismus an die Brust. Die daraus resultierenden Nationalliberalen, die sich bereitwillig mit Bismarck ins Bett legten, diskreditierten liberale Ideen für lange Zeit. Im späteren 20. Jahrhundert wandten sich viele Liberale den Ideen Hayeks und in geringerem Umfang Friedmans zu, die beide die Rolle des Staates in der Ökonomie auf die Währungsstabilität begrenzt sehen wollten und die Wirtschaft selbst einem natürlichen, ständigen Austarierungsprozess überließen, ohne sich um die Opfer dieser Austarierung zu kümmern. Besonders die Ideen Hayeks wurden zu einem dogmatischen Kern in der merkwürdigen Zwiegespaltenheit des deutschen Liberalismus zwischen kaum verhohlener Korruption auf der einen und Desinteresse an den Fährnissen der breiten Bevölkerung auf der anderen Seite. Mitte der 1990er schien es kurz so, als ob dieser spezifische Raubtierliberalismus die Oberhand behalten würde, ehe diese Illusion spätestens mit der Finanzkrise krachend in sich zusammenstürzte.

Warum also sollten wir den Liberalismus, warum also sollten wir eine liberale Partei brauchen? Beide Autoren im Zeit-Doppelartikel sind sich darüber einig, dass die FDP alles andere als ein Vertreter des Liberalismus ist, dass sie ihm Schande bereitet, aber dass derzeit keine echte Alternative in Sicht ist. Irgendwie ist niemandem besonders wohl bei dem Gedanken, dem Grünen die Leuchtfackel liberaler Ideen anzuvertrauen. Die Piraten sind zu neu, zu chaotisch, zu hip als dass man ihre Entwicklung absehen könnte. Eines aber ist klar: in einer Parteienlandschaft, in der die einzige realistische Koalitionsoption derzeit in einem Bündnis aus CDU und SPD besteht, und in der beide große Parteien energisch für Vorratsdatenspeicherung und ähnliche Politiken eintreten, kann eine liberale Partei nicht genug vermisst werden. Es ist das einzige Ruhmesblatt der FDP in über zwei Jahren Regierungszeit, dass sich Frau Leutheusser-Schnarrenberger weiter stur gegen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung stellt. Eine reine Stärkung eines autoritären Staates gegenüber allen anderen Wirkkräften, seien sie ökonomisch oder gesellschaftlich, kann auch kaum eine Lösung der mannigfaltigen Probleme sein, die uns gegenüberstehen, auch darauf weisen die Autoren zurecht hin. Autoritär wird der Markt durch reine Staatsmacht auch in China in Zaum gehalten; zum Vorbild taugt es deswegen noch lange nicht. Offensichtlich braucht es neben der Bändigung eines bellum omnium contra omnes auch noch etwas anderes als die reine Drohung des leviathan'schen Schwertes; und dieses Etwas kann von einer liberalen Partei aufgezeigt, bereitgestellt und repräsentiert werden. Nur, eine solche bräuchte es erst einmal, und die FDP ist es sicherlich nicht.

6 Kommentare:

  1. Dem Artikel kann ich voll zustimmen.

    Das Problem ist bei der FDP und der SPD besonders augenfällig: der Verlust des "Markenkerns".

    Aber damit haben auch CDU/CSU und die Grünen zu kämpfen. Was an den "C"-Parteien Christlich sein soll erschließt sich in keiner Weise. Katholische Soziallehre oder moralisches marktwirtschaftliches Handeln? Ein Jesus der die Geldwechsler aus dem tempel wirft? Undenkbar.

    Und die Grünen, die einmal auch sozial, basisdemokratisch und pazifistisch sein wollten? Herr Özdemir kritisiert mittlerweile die leichte Kritik der SPD an der Rente mit 67. Was muss man da noch sagen?

    Vor lauter Machtstreben (vulgo: die neue Mitte) und Opportunismus .... aber was schreibe ich. Ist ja eh alles hinlänglich bekannt.

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  2. In welcher Beziehung ist Hayek denn nicht liberal? Im Herzen des Liberalismus stehen doch Eigentum und Vertrag als Voraussetzung für die negative Freiheit von Zwang, was bei Hayek auch so nachzulesen ist.

    Dass eine liberale Partei der Profiteure des Liberalismus keine Vetternwirtschaft in der Politik betreiben würde, ist einer der blinden Flecken des liberalen Denkens, das einerseits das Hohelied des freien Unternehmertums singt und ihm alle Freiheiten zubilligt innerhalb des Gesetzesrahmens seine Ellbogen auszufahren, um soviel Gewinn wie möglich zu machen, und sich dann wundert, wenn der politische Arm nur der Besitzstandswahrung und -mehrung dient.

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  3. Wenn ich meine 2 Cents auch hier in Stichwörtern einwerfen darf, wieder mit leicht geballter Faust in der Hose, nicht böse gemeint:

    1. Beide zeit-Artikel sind gut, besser als erwartet, selbst der Anti. Sie basieren aber wie immer leicht auf falschen Annahmen. Deinen Liberalismus-Artikel, Stefan, hab ich nicht vollständig gelesen, weil ich mir die zu erwartende Aufregung ersparen wollte, gerade bei solchen Themen. Der klassische Liberalismus wird nicht frei von Vorurteilen behandelt - die Krönung ist, wenn Bernd Ulrich von chinesischem Manchester-Kapitalismus spricht - nichts könnte unsinniger sein.
    2. Unbewusste Missverständnisse bei der Verwendung von "liberal" generell, insb. in Deutschland. Wenn Linke von liberal/progressiv sprechen, dann haben sie tendenziell andere Vorstellungen davon als klassische bzw. deutsche Liberale aka Libertäre (= erwzungener Ausweichsbegriff in UK/USA) allgemein.
    3. Alle deutschen Äußerungen über Liberalismus gehen mehr oder weniger von einer starken libertären gesellschaftlichen Komponente aus. Die wirtschaftliche wird vernachlässigt bzw. ist eine wirtschaftlich hinreichende Basis für die Ausübung sozialer Freiheiten schlicht zu garantieren. So wird der Sozialliberalismus der Schmidt-Zeit als der liberalste Liberalismus gesehen, und nicht das, was er ist: eine kurze Episode und Irrweg, der sich vom eigentlichen Liberalismus weit entfernt hatte.
    4. Wer liberal als sozialliberal definiert, missbraucht den Begriff des Liberalismus. Wer darauf beharrt, dass ohne Wohlfahrtsstaatlichkeit Not und Elend ansteht, also eine positivistische Vorstellung von Freiheit hat (= sie würde theoretisch vom Himmel fallen, und praktisch ist durch Zwang durchzusetzen), hat kein Recht sich als liberal zu betiteln. Dieser Teil-/Pseudo-Liberalismus basiert auf Teil-Kollektivismus und perveriert Liberalismus. Bitte schön verteufelt dann lieber Liberalismus.

    5. Genauso unsinnig wie Ron Paul "Radikalliberalismus" zuzuschreiben, genauso unsinnig ist es von der FDP des "Raubtierliberalismus" zu sprechen. Die FDP protegiert die deutsche Wohlfahrtsstaatlichkeit. Ob man etwa im Bereich der SV dem Staat alles in die Hand gibt oder im Rahmen der unangetasteten SV eine private VersichserungsPFLICHT auferlegt, ist im Ergebnis belanglos ... wenn das schon radikal sein soll, meine Güte, wie bezeichnet man dann eine freie Marktwirtschaft? Ultra-Radikal-Raubtiertier-Schlagmichtot? (Und unser Grundgesetz erzwingt NICHT die staatlich gelenkte SV. SV ist Wohlfahrt, kein Sozialstaat im eigentlichen Sinne, und nur diesen erwzingt das GG - ob er von der Ewigkeitsgarantie gedeckt ist, selbst das ist nicht einmütige Meinung.)
    6. "Besonders die Ideen Hayeks wurden zu einem dogmatischen Kern" ... bitte? Nicht ansatzweise herrscht in der FDP der Geist von Hayek. Hayekianer wie Schäffler werden gemobbt und stehen am Rande. Ob im Dehler-Haus oder sonstwo Hayek-Bilder hängen ... irrelevant und eine Farce. In der DDR hing auch Karl Marx.

    Reicht erstmal, ich hätt noch mehr.

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  4. "In der DDR hing auch Karl Marx."

    Und auch dort hatte man erkannt, dass seine Ideen nicht umsetzbar sind.

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  5. "Für Liberale gibt es keine universale Moral und keine ethischen Grundsätze, die es erlauben würden, eine solche Moral abzuleiten. Liberale gehen davon aus, dass der Mensch frei ist, autonom und selbstbestimmt. Er hat das Recht, sein Leben gegebenenfalls egoistisch, verantwortungslos und alles andere als nachhaltig zu führen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch sein Leben so führen sollte, sondern lediglich, dass es keine Institution geben darf, die ihn, mit welchen Mitteln auch immer, dazu zwingt, ein Leben nach ihren Vorstellungen zu führen – insbesondere nicht den Staat. Politik darf aus liberaler Sicht nicht den Versuch darstellen, einen Lebensstil durchzusetzen und sei er noch so umweltschonend, tolerant, multikulturell, kinderfreundlich und am Gemeinwohl orientiert. Für Liberale gilt allein das Recht des „Pursuit of Happiness“ – was immer das für den Einzelnen bedeutet." (Cicero.de)

    Aus einem auf SF gefundenen Link.

    der Herr Karl

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  6. Warum eigentlich immer nur Hayek? Milton Friedman ist noch nicht so lange tot wie er und hat unsere Situation wesentlich mehr beeinflusst..

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