Diesen Monat in Büchern: Logik der Misogynie, Wirtschaftskriege, Opiumkrieg, die Geschichte der Frauenbewegung, Bürokratie, Tulsa-Massaker, Frauen im Bundestag, Filme, Demokratie in der EU, Arbeit transformieren.
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Baustellen der EU, Albrecht Dürer, Äthiopien, Iran.
BÜCHER
Kate Manne - Down Girl. Die Logik der Misogynie (Kate Manne - Down Girl. The Logic of Misogyny)Woher kommt Frauenfeindlichkeit? Was treibt sie an? Ist sie ein weit verbreitetes Problem, oder handelt es sich um bedauerliche Einzelfälle? Die Debatte, die in diesem Jahrzehnt mit dem Herrenwitz, der Wahl Trumps, #MeToo, dem #aufschrei und vielen anderen Ereignissen verknüpft ist, leidet unter einem grundsätzlichen Unverständnis dieser Kategorien. Kate Manne versucht deswegen, eine Art Systematisierung der Misogynie zu erreichen und die Debatte auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Um das zu erreichen, setzt sie sich zuerst mit einem weit verbreiteten Problem auseinander. Gibt es überhaupt Männer, die Frauen hassen? Das ist nicht so eine blöde Fragestellung wie das auf den ersten Blick klingen mag, denn gerade Leute, die eher nicht progressiv oder wenigstens ideologische Nachbarn sind, haben oftmals Probleme damit. Schließlich leben die meisten Leute in Beziehungen, haben eine Schwester, die sie gerne haben, ein gutes Verhältnis zur Mutter. Manne zeigt zuerst auf, dass Misogynie damit nichts zu tun hat - Frauenfeindlichkeit verträgt sich sehr gut mit der individuellen Wertschätzung einzelner Frauen, wie auch der berühmt-berüchtigte schwarze Freund nicht gegen Rassismus immunisiert. Ein weiterer wichtiger Definitionsschritt Mannes ist die Unterscheidung von Sexismus und Misogynie. Manne betrachtet Misogynie als wesentlich spezifischere Art des Frauenhasses als bloßen Sexismus. Anhand diverser Praxisbeispiele zeigt sie auf, wo tatsächlich Hass Männerhandlungen antrieb. Wenig überraschend spielen die aktuellen Entwicklungen in den USA ebenfalls eine große Rolle, vor allem die Wahl des bekennenden Misogynisten Donald Trumps, der Wahlkampf Hillary Clintons und die seither in den USA entbrannte Debatte. Für Manne besteht kein Zweifel daran, dass Clinton ein Opfer misogynistischer Attacken war (wenngleich sie glücklicherweise von dem Urteil absieht, ob das wahlentscheidend war). Insgesamt ist der Erkenntniswert des Buches zwar durchaus ordentlich, aber ein Vergnügen war die Lektüre wahrlich nicht. Manne verliert sich gerne im typischen Jargon von eher links orientierten Geisteswissenschaften, voller Fremdwörter und ideologisch aufgeladener Konstruktionen, die die eigene Argumentation so viel besser wahrlich nicht machen. Stärker ist das Buch immer da, wo die Thesen mit Praxisbeispielen unterlegt werden können und den systematischeren Ansätzen mehr Leben eingehaucht wird.
Nils-Ole Oermann/Hans-Jürgen Wolff - Wirtschaftskriege. Vergangenheit und Gegenwart Spätestens seit Trumps Wahl sind Wirtschaftskriege ("always good and easy to win") wieder in aller Munde, aber ich erinnere mich noch gut an die 2000er Jahre und Steingart'sche Spiegel-Titel. So oder so ist es sinnvoll, sich dem Thema strukturiert anzunehmen. Oermann und Wolff unternehmen das in ihrem Buch und definieren auf der einen Seite Wirtschaftskriege rechtlich, während sie sie auf der anderen Seite in einen historischen Kontext stellen. Letzterer Teil ist der deutlich schwächste des Buchs. Der par-force-Abriss der britischen Kolonialgeschichte enthält sicherlich entscheidende Puzzleteile für das Thema, aber kann weder als repräsentativ für die gesamte Geschichte von Handelskriegen stehen noch ist er sonderlich gut gelungen; ohne viel Nuancen und unter Rückgriff auf beliebte Stereotype wird über 30 oder 40 Seiten dahinmäandert. Wesentlich ergiebiger ist die wesentlich systematischere Betrachtung von Handelskriegen unter ihren rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Auf der einen Seite gibt es für Handelskriege wie auch für reale Kriege ein Regelwerk, das von der UNO und der WTO sanktioniert ist. Dazu gehören im Übrigen auch die berühmt-berüchtigten Schiedsgerichte, deren Genese und Evolution von einem primär gegen die ehemaligen Kolonien gerichteten Instrument zu einem Werkzeug der transnationalen Konzerne beschrieben wird. Gleichzeitig folgen Handelskriege auch einer eigenen wirtschaftlichen Logik, in der Gewinn und Verlust sich nicht einfach gegeneinander aufrechnen lassen. Hier liegt die wahre Stärke des Buches, denn Oermann und Wolff zeigen auf, dass Handelskriege sich durchaus lohnen können, wenngleich sie es meistens nicht tun - aber das sie es eben gelegentlich tun, trägt zu ihrer anhaltenden Popularität bei. Abgerundet wird das Werk, wie könnte es anders sein, mit einer Diskussion Trumps und seiner Handelspolitik. Insgesamt empfehlenswert, trotz der Schwächen des historischen Teils und der streckenweise arg trockenen rechtlichen Darlegungen.
Michaela Karl - Geschichte der Frauenbewegung Nachdem "Down Girl" für mich eine ziemlich ambivalente Leseerfahrung war, hoffte ich in diesem Band einen leicht verständlichen Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung zu erhalten um vorhandene Wissenslücken zu decken. Sicherlich trug zur Erkenntnis dieser Wissenslücken auch die Serie "Mrs. America" bei, die ich seither gesehen habe. Aber Inspiration kommt aus den überraschendsten Quellen. Karl konzentriert sich in ihrem kleinen Bändchen auf die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA. Diese Selbstbeschränkung ist sicherlich weise; schon so droht man in der Masse an Namen und Titeln, die hier genannt werden, leicht den Überblick zu verlieren. Diesen Überblick verschafft Karl ihrem LeserInnenkreis. Sie ordnet dazu jeweils ihre länderspezifischen Querschnitte nach Epochen. Der Vorteil dieser Methode ist eine große Übersichtlichkeit der jeweiligen nationalen Feminismus-Diskurse; der Nachteil ist, dass die Verbindungen über Landesgrenzen hinweg ein wenig schärfer abgetrennt werden, als dies dem Verständnis immer zuträglich ist. Auch ist eine gewisse Übermüdung durch zahlreiche Namen und Titel nicht zu leugnen, genauso wenig wie die eher trockene Präsentation des Stoffs. Das wird durch die angenehme Prägnanz und Kürze des Texts und den weitgehenden Verzicht auf Jargon allerdings wieder wettgemacht.
Stephen Platt - Imperial Twilight. The Opium War and the end of China's last Golden Age In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen britische Händler, ihr Handelsvolumen mit dem chinesischen Kaiserreich immer weiter zu erhöhen. Voller Bewunderung für die kulturelle und zivilisatorische Rolle des Riesenreichs versuchten sie über Jahrzehnte vergeblich, vom Kaiser in Beijing als gleichberechtigte Macht anerkannt zu werden und Handelsverträge zu schließen. 1839 begann der Opium-Krieg, in dem Großbritanniens Militär kurzen Prozess mit dem chinesischen machte und sich das Recht erkämpfte, Rauschgift an eine zunehmen desolate chinesische Bevölkerung zu verkaufen. Platts Werk unternimmt es zu zeigen, wie dieser rapide Wandel - von einer euphorischen Bewunderung des konfuzianischen China zu einer rassistischen Verachtung des "degenerierten Orient" - innerhalb so kurzer Zeit vonstatten ging. Die Dynamiken sind grundsätzlich gegenläufig. Auf der einen Seite steht das chinesische Reich selbst, das mit inneren Unruhen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und es auseinanderreißenden Zentrifugalkräften zu kämpfen hatte. Dazu kam eine schon ins Komische abgleitende Korruption und Reformunfähigkeit. Auf der anderen Seite stand der Aufstieg Großbritanniens durch die Industrielle Revolution, dessen technologischen Sprünge es zu einer China militärisch überlegenen Supermacht machten. Aber auch kulturelle Aspekte spielen eine große Rolle. Wäre es nicht so tragisch, wären die vielen Irrungen und Wirrungen der Identitätspolitik, die die diplomatischen Desaster beider Seiten prägten, geradezu komödiantisch. Weder verstehen die Briten die Chinesen noch die Chinesen die Briten. Beide Seiten verbeißen sich in formalistischen Fragen, die für die andere Seite keine Bedeutung haben und laden diese innenpolitisch auf. Aristokraten ziehen ihre Länder aus verletzter Eitelkeit in den Krieg. "Imperial Twilight" zeigt vor allem, wie man Nationen nicht führen sollte, und es bleibt ein Wunder, wie ein Großbritannien ein Weltreich zusammenerobern konnte, das von so inkompetenten Gockeln geführt wurde. Die Lektüre ist absolut zu empfehlen und aus vielerlei Hinsicht absolut erhellend.
Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel - Politik des Zusammenhalts Kein moderner Staat kann ohne Bürokratie existieren. Selbst die Abschaffung der Bürokratie erfordert eine Bürokratie, wie zahlreiche Bürokratieabbaukommissionen über die Jahrzehnte und Jahrhundert bestätigen können. Kersten, Neu und Vogel unternehmen in diesem Band die Aufgabe, eine Art Liebeserklärung an die Bürokratie zu schreiben - nicht, weil sie Formulare gern haben, sondern weil sie Bürokratien als elementar für den Zusammenhalt der Gesellschaft sehen. Diese Argumentation ist ebenso spannend wie einleuchtend. In einer Gesellschaft, in der Aufgaben nicht mehr durch Eigeninitiative lösbar sind - wer wöllte sich statt einer kommunalen Müllabfuhr darauf verlassen, dass schon jemand das Ganze freiwillig organisieren werde? - braucht es die Bürokratie zwingend. Gleichzeitig werden an diese hohe Anforderungen gestellt. So beschäftigen sich die AutorInnen ausführlich mit dem Problem des Streikens in lebensnotwendigen Betrieben, dem Streikrecht für Beamte und den Anforderungen an Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, die eben manche Rechte der privatwirtschaftlich angestellten ArbeitnehmerInnen ob ihrer herausgehobenen Stellung nicht haben können - und dementsprechend auch gewisse Privilegien verdienen, sowohl theoretisch als auch durch ihre Arbeit in der Praxis. Als Antidot gegen gern gehegte Vorurteile absolut empfehlenswert.
Tim Madigan - The Burning. Massacre, Destruction, and the Tulsa Race Riot of 1921 Am 1. Juni 1921 überfielen fast zehntausend weiße Einwohner der Stadt Tulsa, Oklahoma, das segregierte Schwarzen-Viertel Greenwood, ermordeten mindestens 200 Einwohner - unterschiedslos Männer und Frauen, Alte und Kinder, Kranke und Gesunde -, plünderten die Häuser und brannten sie nieder. Greenwood war eine blühende, wahrscheinlich die blühendste, afro-amerikanische Community der damaligen Zeit, ein Vorbild für Afro-Amerikaner in der ganzen Nation. Eine folgende Untersuchung gab den Schwarzen die Schuld an dem Massaker, einzelne wurden eingesperrt, neue, verschärfte Gesetze erlassen und ein Schweigen über alles gebreitet. 50 Jahre lang war fast niemandem außer den Beteiligten selbst bekannt, dass eines der größten Massaker an Schwarzen der amerikanischen Geschichte überhaupt stattgefunden hatte, und die schwiegen - aus Furcht vor Mord im Fall der Schwarzen, aus Furcht vor Verurteilung im Fall der Weißen. Aber erst die Thematisierung des Massakers in der HBO-Fernsehserie "Watchmen" machte die Geschehnisse einem breiteren Publikum bekannt und hat zusammen mit der zweiten Welle von "Black Lives Matter" im Gefolge der Ermordung George Floyds 2020 zu einem gesteigerten Interesse an den Geschehnissen geführt. "The Burning" ist zwar noch von 2001, hat aber nichts von seiner gelungenen Recherche und großen Intensität verloren. Madigans Ansatz ist es, soweit wie möglich die Überlebenden selbst sprechen zu lassen (von denen es 2001 noch welche gab). Seine Erzählung der Geschehnisse, die zu dem Massaker führten, der eigentliche Ablauf des Massakers sowie seine Nachwehen sind eindrücklich und widersprüchlich - wie auch die Erinnerungen der Zeitzeugen. Das mag manchmal ein wenig frustrierend wirken, wie auch die ständige Nutzung des Wortes "Negro" in den Erinnerungen als unangenehmer Anachronismus erscheint, aber es sorgt für einen starken emotionalen Anker des Werkes. Gerade als Deutsche ist die Lektüre auch aus einem anderen Grund interessant: Was hier sichtbar wird ist enthemmter Rassenhass, der mit Opportunität und Gier gepaart wird. Die Parallele, die auch Madigan und denen, die die Geschehnisse erlebt oder später von ihnen nicht gehört haben nicht entgeht, ist die Reichspogromnacht von 1938. Im gesamten Dritten Reich beteiligte sich die Bevölkerung mit derselben Lust an der Unterdrückung der Juden wie die Weißen Tulsas an der der Schwarzen. Genauso wie in Tulsa plünderten Nachbarn den Besitz ihrer jüdischer Nachbarn, wenngleich - wir sind ja schließlich in Deutschland - die Ermordung hierzulande dann doch den Behörden überlassen wurde. Die Mechanismen aber sind dieselben. Auch wenn Madigan es nicht explizit herausstreicht ist doch auch auffällig, wie die Gewalt nicht von der rauen weißen Unterschicht ausgeht, sondern von der wohl situierten Mittelschicht - auch wenn diese später etwas anderes behauptet. Bürgerliche Frauen stürmten hinter ihren bürgerlichen Männern die Häuser von Schwarzen und stahlen deren Kleidung und Möbel, noch während die vorherigen Eigentümer von ihren Ehegatten zu Tode geprügelt wurden. Die Einzigen, die nicht mitplünderten, waren die 1% - sie machten das, wie sie es immer gemacht haben, danach, indem sie das wertvolle Land Greenwoods für sich aufkauften und gigantische Gewinne machten. "The Burning" ist ein Sittengemälde einer Zeit, die weit weg scheint und uns doch sehr nahe ist - nicht nur in zeitlicher, sondern auch geographischer Hinsicht. Für Amerikaner ist es der ständige Beweis, dass die Frage "Could it happen here?" keine Frage ist; für jeden Afro-Amerikaner ist sie seit fünf Jahrhunderten beantwortet, man muss sie nur fragen. Für alle Beobachter aber ist offenkundig, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, und wie schnell er reißen kann, wenn die Bedingungen gegeben sind. Ich möchte dieses Buch jedem und jeder ans Herz legen. Es ist eine wichtige Lektüre in diesen Tagen.
Thorsten Körner - In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten Von Beginn der Bundesrepublik an gab es auch Frauen im Bundestag. Gleichwohl spielen diese in den meisten geschichtlichen Abhandlungen praktisch keine Rolle. Thomas Körner schickt sich nun an, das zu ändern. Von der ersten Sitzungswoche 1949 bis in die Gegenwart untersucht er weibliche Abgeordnete, die die Republik mitgeprägt und Barrieren eingerissen haben. Einige Namen sind natürlich bekannt - Petra Kelly, Claudia Roth, Renate Schmidt, Angela Merkel. Aber die meisten der weiblichen Abgeordneten in diesem Band dürften einer breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt sein. Für die 1950er und 1960er Jahre geraten vor allem Frauen aus den bürgerlichen Parteien in Körners Fokus. Das mag überraschen, aber die Logik (die Körner nie selbst ausspricht) liegt auf der Hand: sexistische Strukturen kritisieren sich leichter von der Oppositionsbank, echte Erfolge lassen sich dort schwerer erzielen. Die erste Ministerin, die erste Rede, viele "erste" entstammen daher fast notwendig den Reihen der Union und FDP und durften sich mit dem bräsig-patriarchalischen Sexismus Konrad Adenauers auseinandersetzen. In den 1970er Jahren geraten dann Sozialdemokratinnen stärker ins Blickfeld, die sich mit dem Sexismus der Genossen (unter anderem Helmut Schmidts) auseinandersetzen müssen und in deren Reihen ein Kampf zwischen alten und neuen Frauen geführt wird - klassische Arbeiterinnen mit Ochsentour versus bürgerliche Frauen aus der Feminismusebewegung. Wenig überraschend ist die Erzählung der 1980er Jahre von den Grünen dominiert, die in der Frage der Frauenrechte und der Gleichberechtigung ein wahres Erdbeben auslösten, das einen fundamentalen Wandel der Republik wenn nicht auslöste, so doch zumindest wie unter dem Brennglas verstärkte und positiv fördernd begleitete. Umso bestürzender sind die Porträts der 1990er Jahre. Diese sind uns sehr nah, und das Ausmaß an Sexismus, das damals noch völlig normal war, ist geradezu erschreckend. Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Regierung des ausgewiesenen Machos Gerhard Schröder da so eine Trendwende einleiten würde, wo Merkel später den so angestoßenen Wandel eher passiv weiterlaufen ließ statt ihn zu fördern. Aber ihre Ära spielt in dem Buch schon keine Rolle mehr. Grundsätzlich will ich dieses Buch glühend empfehlen. Ich habe es selbst gelesen, weil Margarete Stokowski eine Empfehlung abgab; ihrer Stimme will ich die meinige hinzufügen.
Roger Ebert - The Great Movies Roger Ebert ist der absolute Titan der Filmkritik. Was Marcel Reich-Ranicki für die deutsche Literaturszene war, das war Roger Ebert für die amerikanische Filmszene. Und da in den meisten anderen Ländern keine großen eigenen Filmszenen bestanden und beschämenderweise immer noch nicht bestehen, vor allem nicht in Deutschland, ist er auch für unseren in cineastischen Fragen zweifellos amerikanisch geprägten Diskurs von größter Bedeutung. Beginnend in den 1990er Jahren schrieb Ebert eine zweiwöchige Kolumne, in der er die "Great Movies" besprach; jede Woche einen neuen, immer mit scharfem analytischen Blick. Allein, empfehlen kann ich diesen ersten Sammlungsband leider nicht. Zum einen, weil ich lügen müsste, auch nur ein Siebtel der darin besprochenen Filme zu kennen, was die offensichtlich Kenntnis voraussetzenden Kolumnen nur eingeschränkt zugänglich und gewinnbringend macht. Andererseits aber auch, weil Ebert schlicht in vielem nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Viele seiner Einschätzung rufen ein kleines Fremdschämen hervor, wie es Reich-Ranickis Auftritte aus heutiger Perspektive auch manchmal tun. Es sind die Kleinigkeiten; Phrasen, Abqualifizierungen, in denen sich das findet. Auch lässt sich als solche Autorität auf solchem Gebiet sicherlich eine gewisse Arroganz auch nicht vermeiden. Reich-Ranicki würde hier sicher einen Gesinnungsgenossen finden. Während es unzweifelhaft ein Genuss sein kann, Profis bei der Arbeit zuzusehen, ist auch der Stil bewusster, kompetenter Arroganz einer, der mir persönlich nicht behagt (vermutlich mit ein Grund, dass ich nie Zugang zu Helmut Schmidt gefunden habe). Aber andere mögen das anders sehen und wesentlich größeren Gewinn aus dem Werk ziehen.
Christoph Möllers/Linda Schneider - Demokratiesischerung in der Europäischen Union Die Demokratie in der EU ist dieser Tage ein bedrohtes Pflänzchen. In Polen und Ungarn haben sich Halb-Diktaturen entwickelt, die den Werten der EU Hohn lachen, ohne dass die Gemeinschaft in der Lage zu sein scheint, etwas dagegen zu unternehmen. Dies liegt unter anderem an der Struktur der Verträge, die einerseits ein Anklage-Verfahren im Konsens kennen - das angesichts der unheiligen Allianz der Rechtspopulisten in Warschau und Budapest kaum anwendungsfähig ist - und andererseits ein Vertragsverletzungsverfahren, das als weitgehend zahnlos gelten muss. Möller und Schneider zeigen in ihrer Studie in zwar reichlich trockener, aber sehr kompakter und sachkompetenter Weise auf, welche rechtlichen Möglichkeiten innerhalb der EU aktuell bestehen. Das Beispiel Österreichs und des Verfahrens angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ dient immer wieder als Negativfolie einer gescheiterten Intervention der EU. Einer Fallstudie Polens und Ungarns folgt dann eine größere und eher juristisch-formalistische Diskussion, wie die EU-Verfahren realistisch zu reformieren wären. Es liegt in der Natur der Sache, dass hier kein großer Wurf zu erwarten ist, weil man ja bei allen solchen Reformbestrebungen davon ausgehen muss, dass Betroffene wie Polen und Ungarn sich massiv dagegen sperren werden. Selbst so bleiben die ergänzenden Verfahren und kleinen Ausbauten, wie Möllers und Schneider sie vorschlagen, deprimierend unwahrscheinlich. Die Studie ist aber deswegen wertvoll, weil sie nicht nach dem Wünschenswerten fragt, sondern nach dem Möglichen - und interessierten Lesenden einen Einblick in den Gestaltungsspielraum der EU gibt.
Konrad Jürgens/Rainer Hoffmann/Christian Schildmann - Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission "Arbeit der Zukunft" Auch Gewerkschaften denken gelegentlich darüber nach, wie die Arbeit der Zukunft aussehen könnte. Das ist angesichts ihrer Überalterung und mangelnden Verankerung in den neueren und zukunftszugewandten Arbeitsformen mehr als notwendig. Die Hans-Böckler-Stiftung hat daher eine Kommission aus Experten verschiedener Bereiche - Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und so weiter - zur "Arbeit der Zukunft" gebildet, die den vorliegenden Band erarbeitet hat. Leider fand ich das Ergebnis insgesamt wenig ergiebig. Zum Einen ist allein das Layout des Buches abschreckend und versprüht einen 1970er-Jahre-Charme; gleichzeitig darf aber auch kaum ein Text länger als ein Absatz sein, bevor er durch einen Exkurs oder Denkanstoß unterbrochen wird. Es lässt sich der Eindruck nicht verhehlen, dass dieses Buch von einer Kommission geschrieben wurde. Das überrascht natürlich nicht, weil genau das der Fall ist, aber es sorgt dafür, dass die Notwendigkeit zu Formelkompromissen aus allen Texten heraus scheint. Steril und den Interessengruppen Rechnung tragend kommt hier nur wenig herum, was nicht in irgendeinem Leitartikel nicht bereits festgestellt worden wäre.
ZEITSCHRIFTEN
Aus Politik und Zeitgeschichte - Iran Iran ist nicht gerade ein Land, bei dem die meisten Leute wohlige Assoziationen haben. Gleichzeitig ist der Kenntnisstand der meisten Beobachter hierzulande wohl darauf beschränkt, dass da böse Mullahs regieren, die die Atombombe wollen. Ein bisschen Kontext in einer APuZ schadet da sicher nicht. Wenig überraschend beschäftigen sich die Aufsätze schwerpunktmäßig mit dem Atomabkommen des Iran, seinen Chancen und der Weiterentwicklung angesichts von Trumps bescheuertem Rückzug aus demselben, der Rolle der EU und der Chinas in dem ganzen Drama. Wenig überraschend dürfte die Erkenntnis sein, dass Iran angesichts der US-Aggression nun wieder verstärkt nach der Bombe drängt und dass die EU praktisch machtlos ist und kaum Einfluss auf die Geschehnisse hat, auch wenn sie ehrliches Interesse an einer Aufrechterhaltung des Friedensdeals hat. Mir noch nicht so bekannt war, wie abhängig der Iran mittlerweile von China ist. In den letzten fünf Jahren hat die chinesische Außenpolitik wirklich eine beeindruckende Expansion hingelegt und mittlerweile ihre Finger in vielen Weltregionen drin, in denen sie vormals keine Rolle spielten - und meist auf der Gegenseite der USA. Keine sonderlich beruhigende Konstellation. Die restlichen Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit dem inneren Aufbau Irans, etwa seinem Regierungssystem, der Rolle der Shi`ia und der wirtschaftlichen Lage im Kontext von Covid-19 (Kurzversion: katastrophal). Auch ein Beitrag zu Irans eigener expansiver Außenpolitik in Irak, Syrien und Libanon findet sich, von der man auch nicht eben behaupten kann, dass sie zur Stabilisierung der Region beiträgt. Ein wertvolles Heft, aber keines, das optimistisch stimmt.
Aus Politik und Zeitgeschichte - Äthiopien Äthiopien ist hier in Deutschland vor allem als poster child afrikanischer Hungerkatastrophen bekannt; gerade in den 1980er Jahren prägte das Land die Schlagzeilen in diese Richtung und ist seither eigentlich vom Radar westlicher Medien weitgehend verschwunden, sieht man einmal von der Berichterstattung über den vernichtenden Bürgerkrieg mit Eritrea in den 1990er Jahren ab. Dabei kann Äthiopien auf eine reichhaltige Geschichte zurückblicken. Das einzige nie kolonisierte Land Afrikas hat lange einen Führungsanspruch in der Region vertreten, und sein Kaiser Haile Selassie war eine prägende Figur nicht nur für die Popkultur. Auf diese Facetten geht das Heft ebenso ein wie auf die folgende marxistische Diktatur und die ethnischen Auseinandersetzungen, die dem Zerfall des Zentralstaats folgten. Ein großes Augenmerk liegt in dem Heft denn auch auf dem modernen Äthiopien und dessen aktuellem Hoffnungsträger, Abiy Ahmed. Äthiopien geht den Weg seinen vielen verschiedenen Ethnien weitgehende Autonomie einzuräumen, anstatt wie früher unter der Diktatur einer bestimmten Ethnie einen gewalttätigen Zentralstaat zusammenhalten zu wollen. Inwieweit das funktioniert, steht noch in den Sternen, aber eine gewisse Skepsis scheint durch manche der Beiträge und ist auch durchaus angebracht. Konzeptionell etwas schwer zu verstehen ist die Entscheidung, offensichtlich befangenen Autoren Raum in dem Heft zu geben, die Loblieder auf ihre jeweiligen Heldenfiguren singen dürfen. Bei einem Thema, bei dem praktisch niemand irgendwelche Vorkenntnisse mitbringt, ist diese Ankerheuristik extrem problematisch.
GEO Epoche - Albrecht Dürer Ich muss zugeben, dass weder die Renaissance und der Beginn der Neuzeit noch die Malerei sonderliche Interessengebiete für mich sind, aber ich lese die GEO Epoche immer gerne, weil das Team es bisher noch immer geschafft hat, mich für ihre jeweilige Themen zu interessieren. So auch dieses Mal. Der Schwerpunkt liegt tatsächlich auf den großen Malern, die auch gebührend betrachtet werden, aber die Redaktion schafft es gleichzeitig, deren Herausforderungen, Malstile und Sujets in den Kontext der Zeit einzubetten, so dass gleichzeitig eine Art Sittengemälde der Monarchen einerseits und des aufstrebenden Bürgertums andererseits entsteht. Der Nachteil dieses Ansatzes ist natürlich, dass die 99%, die sich Maler nicht leisten können, in solchen Betrachtungen nicht vorkommen. Dies ist generell ein Problem, gerade in der Populärgeschichte, und ich hoffe, dass die GEO Epoche dem in näherer Zukunft einmal abhilft.