Montag, 29. Juni 2020

Bücherliste Juni 2020

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Logik der Misogynie, Wirtschaftskriege, Opiumkrieg, die Geschichte der Frauenbewegung, Bürokratie, Tulsa-Massaker, Frauen im Bundestag, Filme, Demokratie in der EU, Arbeit transformieren.

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Baustellen der EU, Albrecht Dürer, Äthiopien, Iran.

BÜCHER

Kate Manne - Down Girl. Die Logik der Misogynie (Kate Manne - Down Girl. The Logic of Misogyny)
Woher kommt Frauenfeindlichkeit? Was treibt sie an? Ist sie ein weit verbreitetes Problem, oder handelt es sich um bedauerliche Einzelfälle? Die Debatte, die in diesem Jahrzehnt mit dem Herrenwitz, der Wahl Trumps, #MeToo, dem #aufschrei und vielen anderen Ereignissen verknüpft ist, leidet unter einem grundsätzlichen Unverständnis dieser Kategorien. Kate Manne versucht deswegen, eine Art Systematisierung der Misogynie zu erreichen und die Debatte auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Um das zu erreichen, setzt sie sich zuerst mit einem weit verbreiteten Problem auseinander. Gibt es überhaupt Männer, die Frauen hassen? Das ist nicht so eine blöde Fragestellung wie das auf den ersten Blick klingen mag, denn gerade Leute, die eher nicht progressiv oder wenigstens ideologische Nachbarn sind, haben oftmals Probleme damit. Schließlich leben die meisten Leute in Beziehungen, haben eine Schwester, die sie gerne haben, ein gutes Verhältnis zur Mutter. Manne zeigt zuerst auf, dass Misogynie damit nichts zu tun hat - Frauenfeindlichkeit verträgt sich sehr gut mit der individuellen Wertschätzung einzelner Frauen, wie auch der berühmt-berüchtigte schwarze Freund nicht gegen Rassismus immunisiert. Ein weiterer wichtiger Definitionsschritt Mannes ist die Unterscheidung von Sexismus und Misogynie. Manne betrachtet Misogynie als wesentlich spezifischere Art des Frauenhasses als bloßen Sexismus. Anhand diverser Praxisbeispiele zeigt sie auf, wo tatsächlich Hass Männerhandlungen antrieb. Wenig überraschend spielen die aktuellen Entwicklungen in den USA ebenfalls eine große Rolle, vor allem die Wahl des bekennenden Misogynisten Donald Trumps, der Wahlkampf Hillary Clintons und die seither in den USA entbrannte Debatte. Für Manne besteht kein Zweifel daran, dass Clinton ein Opfer misogynistischer Attacken war (wenngleich sie glücklicherweise von dem Urteil absieht, ob das wahlentscheidend war). Insgesamt ist der Erkenntniswert des Buches zwar durchaus ordentlich, aber ein Vergnügen war die Lektüre wahrlich nicht. Manne verliert sich gerne im typischen Jargon von eher links orientierten Geisteswissenschaften, voller Fremdwörter und ideologisch aufgeladener Konstruktionen, die die eigene Argumentation so viel besser wahrlich nicht machen. Stärker ist das Buch immer da, wo die Thesen mit Praxisbeispielen unterlegt werden können und den systematischeren Ansätzen mehr Leben eingehaucht wird.

Nils-Ole Oermann/Hans-Jürgen Wolff - Wirtschaftskriege. Vergangenheit und Gegenwart Spätestens seit Trumps Wahl sind Wirtschaftskriege ("always good and easy to win") wieder in aller Munde, aber ich erinnere mich noch gut an die 2000er Jahre und Steingart'sche  Spiegel-Titel. So oder so ist es sinnvoll, sich dem Thema strukturiert anzunehmen. Oermann und Wolff unternehmen das in ihrem Buch und definieren auf der einen Seite Wirtschaftskriege rechtlich, während sie sie auf der anderen Seite in einen historischen Kontext stellen. Letzterer Teil ist der deutlich schwächste des Buchs. Der par-force-Abriss der britischen Kolonialgeschichte enthält sicherlich entscheidende Puzzleteile für das Thema, aber kann weder als repräsentativ für die gesamte Geschichte von Handelskriegen stehen noch ist er sonderlich gut gelungen; ohne viel Nuancen und unter Rückgriff auf beliebte Stereotype wird über 30 oder 40 Seiten dahinmäandert. Wesentlich ergiebiger ist die wesentlich systematischere Betrachtung von Handelskriegen unter ihren rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Auf der einen Seite gibt es für Handelskriege wie auch für reale Kriege ein Regelwerk, das von der UNO und der WTO sanktioniert ist. Dazu gehören im Übrigen auch die berühmt-berüchtigten Schiedsgerichte, deren Genese und Evolution von einem primär gegen die ehemaligen Kolonien gerichteten Instrument zu einem Werkzeug der transnationalen Konzerne beschrieben wird. Gleichzeitig folgen Handelskriege auch einer eigenen wirtschaftlichen Logik, in der Gewinn und Verlust sich nicht einfach gegeneinander aufrechnen lassen. Hier liegt die wahre Stärke des Buches, denn Oermann und Wolff zeigen auf, dass Handelskriege sich durchaus lohnen können, wenngleich sie es meistens nicht tun - aber das sie es eben  gelegentlich tun, trägt zu ihrer anhaltenden Popularität bei. Abgerundet wird das Werk, wie könnte es anders sein, mit einer Diskussion Trumps und seiner Handelspolitik. Insgesamt empfehlenswert, trotz der Schwächen des historischen Teils und der streckenweise arg trockenen rechtlichen Darlegungen.

Michaela Karl - Geschichte der Frauenbewegung Nachdem "Down Girl" für mich eine ziemlich ambivalente Leseerfahrung war, hoffte ich in diesem Band einen leicht verständlichen Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung zu erhalten um vorhandene Wissenslücken zu decken. Sicherlich trug zur Erkenntnis dieser Wissenslücken auch die Serie "Mrs. America" bei, die ich seither gesehen habe. Aber Inspiration kommt aus den überraschendsten Quellen. Karl konzentriert sich in ihrem kleinen Bändchen auf die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA. Diese Selbstbeschränkung ist sicherlich weise; schon so droht man in der Masse an Namen und Titeln, die hier genannt werden, leicht den Überblick zu verlieren. Diesen Überblick verschafft Karl ihrem LeserInnenkreis. Sie ordnet dazu jeweils ihre länderspezifischen Querschnitte nach Epochen. Der Vorteil dieser Methode ist eine große Übersichtlichkeit der jeweiligen nationalen Feminismus-Diskurse; der Nachteil ist, dass die Verbindungen über Landesgrenzen hinweg ein wenig schärfer abgetrennt werden, als dies dem Verständnis immer zuträglich ist. Auch ist eine gewisse Übermüdung durch zahlreiche Namen und Titel nicht zu leugnen, genauso wenig wie die eher trockene Präsentation des Stoffs. Das wird durch die angenehme Prägnanz und Kürze des Texts und den weitgehenden Verzicht auf Jargon allerdings wieder wettgemacht.

Stephen Platt - Imperial Twilight. The Opium War and the end of China's last Golden Age In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen britische Händler, ihr Handelsvolumen mit dem chinesischen Kaiserreich immer weiter zu erhöhen. Voller Bewunderung für die kulturelle und zivilisatorische Rolle des Riesenreichs versuchten sie über Jahrzehnte vergeblich, vom Kaiser in Beijing als gleichberechtigte Macht anerkannt zu werden und Handelsverträge zu schließen. 1839 begann der Opium-Krieg, in dem Großbritanniens Militär kurzen Prozess mit dem chinesischen machte und sich das Recht erkämpfte, Rauschgift an eine zunehmen desolate chinesische Bevölkerung zu verkaufen. Platts Werk unternimmt es zu zeigen, wie dieser rapide Wandel - von einer euphorischen Bewunderung des konfuzianischen China zu einer rassistischen Verachtung des "degenerierten Orient" - innerhalb so kurzer Zeit vonstatten ging. Die Dynamiken sind grundsätzlich gegenläufig. Auf der einen Seite steht das chinesische Reich selbst, das mit inneren Unruhen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und es auseinanderreißenden Zentrifugalkräften zu kämpfen hatte. Dazu kam eine schon ins Komische abgleitende Korruption und Reformunfähigkeit. Auf der anderen Seite stand der Aufstieg Großbritanniens durch die Industrielle Revolution, dessen technologischen Sprünge es zu einer China militärisch überlegenen Supermacht machten. Aber auch kulturelle Aspekte spielen eine große Rolle. Wäre es nicht so tragisch, wären die vielen Irrungen und Wirrungen der Identitätspolitik, die die diplomatischen Desaster beider Seiten prägten, geradezu komödiantisch. Weder verstehen die Briten die Chinesen noch die Chinesen die Briten. Beide Seiten verbeißen sich in formalistischen Fragen, die für die andere Seite keine Bedeutung haben und laden diese innenpolitisch auf. Aristokraten ziehen ihre Länder aus verletzter Eitelkeit in den Krieg. "Imperial Twilight" zeigt vor allem, wie man Nationen nicht führen sollte, und es bleibt ein Wunder, wie ein Großbritannien ein Weltreich zusammenerobern konnte, das von so inkompetenten Gockeln geführt wurde. Die Lektüre ist absolut zu empfehlen und aus vielerlei Hinsicht absolut erhellend.

Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel - Politik des Zusammenhalts Kein moderner Staat kann ohne Bürokratie existieren. Selbst die Abschaffung der Bürokratie erfordert eine Bürokratie, wie zahlreiche Bürokratieabbaukommissionen über die Jahrzehnte und Jahrhundert bestätigen können. Kersten, Neu und Vogel unternehmen in diesem Band die Aufgabe, eine Art Liebeserklärung an die Bürokratie zu schreiben - nicht, weil sie Formulare gern haben, sondern weil sie Bürokratien als elementar für den Zusammenhalt der Gesellschaft sehen. Diese Argumentation ist ebenso spannend wie einleuchtend. In einer Gesellschaft, in der Aufgaben nicht mehr durch Eigeninitiative lösbar sind - wer wöllte sich statt einer kommunalen Müllabfuhr darauf verlassen, dass schon jemand das Ganze freiwillig organisieren werde? - braucht es die Bürokratie zwingend. Gleichzeitig werden an diese hohe Anforderungen gestellt. So beschäftigen sich die AutorInnen ausführlich mit dem Problem des Streikens in lebensnotwendigen Betrieben, dem Streikrecht für Beamte und den Anforderungen an Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, die eben manche Rechte der privatwirtschaftlich angestellten ArbeitnehmerInnen ob ihrer herausgehobenen Stellung nicht haben können - und dementsprechend auch gewisse Privilegien verdienen, sowohl theoretisch als auch durch ihre Arbeit in der Praxis. Als Antidot gegen gern gehegte Vorurteile absolut empfehlenswert.

Tim Madigan - The Burning. Massacre, Destruction, and the Tulsa Race Riot of 1921 Am 1. Juni 1921 überfielen fast zehntausend weiße Einwohner der Stadt Tulsa, Oklahoma, das segregierte Schwarzen-Viertel Greenwood, ermordeten mindestens 200 Einwohner - unterschiedslos Männer und Frauen, Alte und Kinder, Kranke und Gesunde -, plünderten die Häuser und brannten sie nieder. Greenwood war eine blühende, wahrscheinlich die blühendste, afro-amerikanische Community der damaligen Zeit, ein Vorbild für Afro-Amerikaner in der ganzen Nation. Eine folgende Untersuchung gab den Schwarzen die Schuld an dem Massaker, einzelne wurden eingesperrt, neue, verschärfte Gesetze erlassen und ein Schweigen über alles gebreitet. 50 Jahre lang war fast niemandem außer den Beteiligten selbst bekannt, dass eines der größten Massaker an Schwarzen der amerikanischen Geschichte überhaupt stattgefunden hatte, und die schwiegen - aus Furcht vor Mord im Fall der Schwarzen, aus Furcht vor Verurteilung im Fall der Weißen. Aber erst die Thematisierung des Massakers in der HBO-Fernsehserie "Watchmen" machte die Geschehnisse einem breiteren Publikum bekannt und hat zusammen mit der zweiten Welle von "Black Lives Matter" im Gefolge der Ermordung George Floyds 2020 zu einem gesteigerten Interesse an den Geschehnissen geführt. "The Burning" ist zwar noch von 2001, hat aber nichts von seiner gelungenen Recherche und großen Intensität verloren. Madigans Ansatz ist es, soweit wie möglich die Überlebenden selbst sprechen zu lassen (von denen es 2001 noch welche gab). Seine Erzählung der Geschehnisse, die zu dem Massaker führten, der eigentliche Ablauf des Massakers sowie seine Nachwehen sind eindrücklich und widersprüchlich - wie auch die Erinnerungen der Zeitzeugen. Das mag manchmal ein wenig frustrierend wirken, wie auch die ständige Nutzung des Wortes "Negro" in den Erinnerungen als unangenehmer Anachronismus erscheint, aber es sorgt für einen starken emotionalen Anker des Werkes. Gerade als Deutsche ist die Lektüre auch aus einem anderen Grund interessant: Was hier sichtbar wird ist enthemmter Rassenhass, der mit Opportunität und Gier gepaart wird. Die Parallele, die auch Madigan und denen, die die Geschehnisse erlebt oder später von ihnen nicht gehört haben nicht entgeht, ist die Reichspogromnacht von 1938. Im gesamten Dritten Reich beteiligte sich die Bevölkerung mit derselben Lust an der Unterdrückung der Juden wie die Weißen Tulsas an der der Schwarzen. Genauso wie in Tulsa plünderten Nachbarn den Besitz ihrer jüdischer Nachbarn, wenngleich - wir sind ja schließlich in Deutschland - die Ermordung hierzulande dann doch den Behörden überlassen wurde. Die Mechanismen aber sind dieselben. Auch wenn Madigan es nicht explizit herausstreicht ist doch auch auffällig, wie die Gewalt nicht von der rauen weißen Unterschicht ausgeht, sondern von der wohl situierten Mittelschicht - auch wenn diese später etwas anderes behauptet. Bürgerliche Frauen stürmten hinter ihren bürgerlichen Männern die Häuser von Schwarzen und stahlen deren Kleidung und Möbel, noch während die vorherigen Eigentümer von ihren Ehegatten zu Tode geprügelt wurden. Die Einzigen, die nicht mitplünderten, waren die 1% - sie machten das, wie sie es immer gemacht haben, danach, indem sie das wertvolle Land Greenwoods für sich aufkauften und gigantische Gewinne machten. "The Burning" ist ein Sittengemälde einer Zeit, die weit weg scheint und uns doch sehr nahe ist - nicht nur in zeitlicher, sondern auch geographischer Hinsicht. Für Amerikaner ist es der ständige Beweis, dass die Frage "Could it happen here?" keine Frage ist; für jeden Afro-Amerikaner ist sie seit fünf Jahrhunderten beantwortet, man muss sie nur fragen. Für alle Beobachter aber ist offenkundig, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, und wie schnell er reißen kann, wenn die Bedingungen gegeben sind. Ich möchte dieses Buch jedem und jeder ans Herz legen. Es ist eine wichtige Lektüre in diesen Tagen.

Thorsten Körner - In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten Von Beginn der Bundesrepublik an gab es auch Frauen im Bundestag. Gleichwohl spielen diese in den meisten geschichtlichen Abhandlungen praktisch keine Rolle. Thomas Körner schickt sich nun an, das zu ändern. Von der ersten Sitzungswoche 1949 bis in die Gegenwart untersucht er weibliche Abgeordnete, die die Republik mitgeprägt und Barrieren eingerissen haben. Einige Namen sind natürlich bekannt - Petra Kelly, Claudia Roth, Renate Schmidt, Angela Merkel. Aber die meisten der weiblichen Abgeordneten in diesem Band dürften einer breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt sein. Für die 1950er und 1960er Jahre geraten vor allem Frauen aus den bürgerlichen Parteien in Körners Fokus. Das mag überraschen, aber die Logik (die Körner nie selbst ausspricht) liegt auf der Hand: sexistische Strukturen kritisieren sich leichter von der Oppositionsbank, echte Erfolge lassen sich dort schwerer erzielen. Die erste Ministerin, die erste Rede, viele "erste" entstammen daher fast notwendig den Reihen der Union und FDP und durften sich mit dem bräsig-patriarchalischen Sexismus Konrad Adenauers auseinandersetzen. In den 1970er Jahren geraten dann Sozialdemokratinnen stärker ins Blickfeld, die sich mit dem Sexismus der Genossen (unter anderem Helmut Schmidts) auseinandersetzen müssen und in deren Reihen ein Kampf zwischen alten und neuen Frauen geführt wird - klassische Arbeiterinnen mit Ochsentour versus bürgerliche Frauen aus der Feminismusebewegung. Wenig überraschend ist die Erzählung der 1980er Jahre von den Grünen dominiert, die in der Frage der Frauenrechte und der Gleichberechtigung ein wahres Erdbeben auslösten, das einen fundamentalen Wandel der Republik wenn nicht auslöste, so doch zumindest wie unter dem Brennglas verstärkte und positiv fördernd begleitete. Umso bestürzender sind die Porträts der 1990er Jahre. Diese sind uns sehr nah, und das Ausmaß an Sexismus, das damals noch völlig normal war, ist geradezu erschreckend. Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Regierung des ausgewiesenen Machos Gerhard Schröder da so eine Trendwende einleiten würde, wo Merkel später den so angestoßenen Wandel eher passiv weiterlaufen ließ statt ihn zu fördern. Aber ihre Ära spielt in dem Buch schon keine Rolle mehr. Grundsätzlich will ich dieses Buch glühend empfehlen. Ich habe es selbst gelesen, weil Margarete Stokowski eine Empfehlung abgab; ihrer Stimme will ich die meinige hinzufügen.

Roger Ebert - The Great Movies Roger Ebert ist der absolute Titan der Filmkritik. Was Marcel Reich-Ranicki für die deutsche Literaturszene war, das war Roger Ebert für die amerikanische Filmszene. Und da in den meisten anderen Ländern keine großen eigenen Filmszenen bestanden und beschämenderweise immer noch nicht bestehen, vor allem nicht in Deutschland, ist er auch für unseren in cineastischen Fragen zweifellos amerikanisch geprägten Diskurs von größter Bedeutung. Beginnend in den 1990er Jahren schrieb Ebert eine zweiwöchige Kolumne, in der er die "Great Movies" besprach; jede Woche einen neuen, immer mit scharfem analytischen Blick. Allein, empfehlen kann ich diesen ersten Sammlungsband leider nicht. Zum einen, weil ich lügen müsste, auch nur ein Siebtel der darin besprochenen Filme zu kennen, was die offensichtlich Kenntnis voraussetzenden Kolumnen nur eingeschränkt zugänglich und gewinnbringend macht. Andererseits aber auch, weil Ebert schlicht in vielem nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Viele seiner Einschätzung rufen ein kleines Fremdschämen hervor, wie es Reich-Ranickis Auftritte aus heutiger Perspektive auch manchmal tun. Es sind die Kleinigkeiten; Phrasen, Abqualifizierungen, in denen sich das findet. Auch lässt sich als solche Autorität auf solchem Gebiet sicherlich eine gewisse Arroganz auch nicht vermeiden. Reich-Ranicki würde hier sicher einen Gesinnungsgenossen finden. Während es unzweifelhaft ein Genuss sein kann, Profis bei der Arbeit zuzusehen, ist auch der Stil bewusster, kompetenter Arroganz einer, der mir persönlich nicht behagt (vermutlich mit ein Grund, dass ich nie Zugang zu Helmut Schmidt gefunden habe). Aber andere mögen das anders sehen und wesentlich größeren Gewinn aus dem Werk ziehen.

Christoph Möllers/Linda Schneider - Demokratiesischerung in der Europäischen Union Die Demokratie in der EU ist dieser Tage ein bedrohtes Pflänzchen. In Polen und Ungarn haben sich Halb-Diktaturen entwickelt, die den Werten der EU Hohn lachen, ohne dass die Gemeinschaft in der Lage zu sein scheint, etwas dagegen zu unternehmen. Dies liegt unter anderem an der Struktur der Verträge, die einerseits ein Anklage-Verfahren im Konsens kennen - das angesichts der unheiligen Allianz der Rechtspopulisten in Warschau und Budapest kaum anwendungsfähig ist - und andererseits ein Vertragsverletzungsverfahren, das als weitgehend zahnlos gelten muss. Möller und Schneider zeigen in ihrer Studie in zwar reichlich trockener, aber sehr kompakter und sachkompetenter Weise auf, welche rechtlichen Möglichkeiten innerhalb der EU aktuell bestehen. Das Beispiel Österreichs und des Verfahrens angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ dient immer wieder als Negativfolie einer gescheiterten Intervention der EU. Einer Fallstudie Polens und Ungarns folgt dann eine größere und eher juristisch-formalistische Diskussion, wie die EU-Verfahren realistisch zu reformieren wären. Es liegt in der Natur der Sache, dass hier kein großer Wurf zu erwarten ist, weil man ja bei allen solchen Reformbestrebungen davon ausgehen muss, dass Betroffene wie Polen und Ungarn sich massiv dagegen sperren werden. Selbst so bleiben die ergänzenden Verfahren und kleinen Ausbauten, wie Möllers und Schneider sie vorschlagen, deprimierend unwahrscheinlich. Die Studie ist aber deswegen wertvoll, weil sie nicht nach dem Wünschenswerten fragt, sondern nach dem Möglichen - und interessierten Lesenden einen Einblick in den Gestaltungsspielraum der EU gibt.

Konrad Jürgens/Rainer Hoffmann/Christian Schildmann - Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission "Arbeit der Zukunft" Auch Gewerkschaften denken gelegentlich darüber nach, wie die Arbeit der Zukunft aussehen könnte. Das ist angesichts ihrer Überalterung und mangelnden Verankerung in den neueren und zukunftszugewandten Arbeitsformen mehr als notwendig. Die Hans-Böckler-Stiftung hat daher eine Kommission aus Experten verschiedener Bereiche - Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und so weiter - zur "Arbeit der Zukunft" gebildet, die den vorliegenden Band erarbeitet hat. Leider fand ich das Ergebnis insgesamt wenig ergiebig. Zum Einen ist allein das Layout des Buches abschreckend und versprüht einen 1970er-Jahre-Charme; gleichzeitig darf aber auch kaum ein Text länger als ein Absatz sein, bevor er durch einen Exkurs oder Denkanstoß unterbrochen wird. Es lässt sich der Eindruck nicht verhehlen, dass dieses Buch von einer Kommission geschrieben wurde. Das überrascht natürlich nicht, weil genau das der Fall ist, aber es sorgt dafür, dass die Notwendigkeit zu Formelkompromissen aus allen Texten heraus scheint. Steril und den Interessengruppen Rechnung tragend kommt hier nur wenig herum, was nicht in irgendeinem Leitartikel nicht bereits festgestellt worden wäre.

ZEITSCHRIFTEN


Aus Politik und Zeitgeschichte - Europäische Baustellen Das Europäische Projekt ist, wie wir spätestens dank meiner Artikelserie zur Europäischen Union wissen, stets ein work in progress. Der Verweis darauf, dass es europäische Baustellen gibt, ist daher nicht sonderlich Erkenntnis bringend. Relevant ist, was danach kommt. Hier bietet das vorliegende APuZ-Heft ein disparates Bild. So ist die Betrachtung des Brexits und seiner Verwicklungen mit der Corona-Pandemie durchaus interessant, wenngleich wenig Neues vorgebracht wird. Deutschlands "Corona-Ratspräsidentschaft" stellt zwar korrekt diverse Felder fest, auf denen Deutschland theoretisch eine Führungsrolle in der EU einnehmen könnte, ist aber realistisch genug festzustellen, dass sich da wohl trotzdem wenig tun wird. Die Betrachtung der europäischen Energiepolitik ist wichtig; das Feld ist diffizil und fliegt viel unter dem Radar. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen auf der einen Seite und die Notwendigkeit des "Green Deals" auf der anderen stellen eine echte Zerreißprobe dar, vor allem wenn man bedenkt, welche sicherheitspolitischen Überlegungen damit verwoben sind.  Der Artikel zum Polexit ist für mich "viel Lärm um Nichts", aber er enthält noch einmal eine brauchbare Übersicht über die Rolle Polens in der EU. Wie sich die EU weiterentwickeln könnte ist so etwas wie das Herzstück des Hefts; hier werden verschiedene Szenarien aufgezeigt (vor allem Kernunionen) und deren Fallstricke erörtert. Zuletzt spannend ist die These Große Hüttmanns, dass wer den Brexit verstehe auch die EU und Großbritannien verstehe (mit der impliziten Annahme, dass das praktisch niemandem gelingt). Im letzten Artikel bekommen wir Beispiele für Austritte aus anderen Verbünden, aber ich empfand diese zu divers, als dass der Vergleich zur EU sonderlich erhellend wäre - mit der Ausnahme vielleicht, dass die Trennung nie komplett ist.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Iran Iran ist nicht gerade ein Land, bei dem die meisten Leute wohlige Assoziationen haben. Gleichzeitig ist der Kenntnisstand der meisten Beobachter hierzulande wohl darauf beschränkt, dass da böse Mullahs regieren, die die Atombombe wollen. Ein bisschen Kontext in einer APuZ schadet da sicher nicht. Wenig überraschend beschäftigen sich die Aufsätze schwerpunktmäßig mit dem Atomabkommen des Iran, seinen Chancen und der Weiterentwicklung angesichts von Trumps bescheuertem Rückzug aus demselben, der Rolle der EU und der Chinas in dem ganzen Drama. Wenig überraschend dürfte die Erkenntnis sein, dass Iran angesichts der US-Aggression nun wieder verstärkt nach der Bombe drängt und dass die EU praktisch machtlos ist und kaum Einfluss auf die Geschehnisse hat, auch wenn sie ehrliches Interesse an einer Aufrechterhaltung des Friedensdeals hat. Mir noch nicht so bekannt war, wie abhängig der Iran mittlerweile von China ist. In den letzten fünf Jahren hat die chinesische Außenpolitik wirklich eine beeindruckende Expansion hingelegt und mittlerweile ihre Finger in vielen Weltregionen drin, in denen sie vormals keine Rolle spielten - und meist auf der Gegenseite der USA. Keine sonderlich beruhigende Konstellation. Die restlichen Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit dem inneren Aufbau Irans, etwa seinem Regierungssystem, der Rolle der Shi`ia und der wirtschaftlichen Lage im Kontext von Covid-19 (Kurzversion: katastrophal). Auch ein Beitrag zu Irans eigener expansiver Außenpolitik in Irak, Syrien und Libanon findet sich, von der man auch nicht eben behaupten kann, dass sie zur Stabilisierung der Region beiträgt. Ein wertvolles Heft, aber keines, das optimistisch stimmt.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Äthiopien Äthiopien ist hier in Deutschland vor allem als poster child afrikanischer Hungerkatastrophen bekannt; gerade in den 1980er Jahren prägte das Land die Schlagzeilen in diese Richtung und ist seither eigentlich vom Radar westlicher Medien weitgehend verschwunden, sieht man einmal von der Berichterstattung über den vernichtenden Bürgerkrieg mit Eritrea in den 1990er Jahren ab. Dabei kann Äthiopien auf eine reichhaltige Geschichte zurückblicken. Das einzige nie kolonisierte Land Afrikas hat lange einen Führungsanspruch in der Region vertreten, und sein Kaiser Haile Selassie war eine prägende Figur nicht nur für die Popkultur. Auf diese Facetten geht das Heft ebenso ein wie auf die folgende marxistische Diktatur und die ethnischen Auseinandersetzungen, die dem Zerfall des Zentralstaats folgten. Ein großes Augenmerk liegt in dem Heft denn auch auf dem modernen Äthiopien und dessen aktuellem Hoffnungsträger, Abiy Ahmed. Äthiopien geht den Weg seinen vielen verschiedenen Ethnien weitgehende Autonomie einzuräumen, anstatt wie früher unter der Diktatur einer bestimmten Ethnie einen gewalttätigen Zentralstaat zusammenhalten zu wollen. Inwieweit das funktioniert, steht noch in den Sternen, aber eine gewisse Skepsis scheint durch manche der Beiträge und ist auch durchaus angebracht. Konzeptionell etwas schwer zu verstehen ist die Entscheidung, offensichtlich befangenen Autoren Raum in dem Heft zu geben, die Loblieder auf ihre jeweiligen Heldenfiguren singen dürfen. Bei einem Thema, bei dem praktisch niemand irgendwelche Vorkenntnisse mitbringt, ist diese Ankerheuristik extrem problematisch.

GEO Epoche - Albrecht Dürer Ich muss zugeben, dass weder die Renaissance und der Beginn der Neuzeit noch die Malerei sonderliche Interessengebiete für mich sind, aber ich lese die GEO Epoche immer gerne, weil das Team es bisher noch immer geschafft hat, mich für ihre jeweilige Themen zu interessieren. So auch dieses Mal. Der Schwerpunkt liegt tatsächlich auf den großen Malern, die auch gebührend betrachtet werden, aber die Redaktion schafft es gleichzeitig, deren Herausforderungen, Malstile und Sujets in den Kontext der Zeit einzubetten, so dass gleichzeitig eine Art Sittengemälde der Monarchen einerseits und des aufstrebenden Bürgertums andererseits entsteht. Der Nachteil dieses Ansatzes ist natürlich, dass die 99%, die sich Maler nicht leisten können, in solchen Betrachtungen nicht vorkommen. Dies ist generell ein Problem, gerade in der Populärgeschichte, und ich hoffe, dass die GEO Epoche dem in näherer Zukunft einmal abhilft.

Freitag, 26. Juni 2020

Richter und Polizisten bringen Atombomben nach Israel - Vermischtes 26.06.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) „No Way Out“ – Nuklearwaffen bleiben ein wichtiger Faktor in der internationalen Politik
Deutschland ist seit über 60 Jahren Nutznießer nuklearer Macht. Als Mitglied der NATO nimmt die Bundesrepublik den nuklearen Schutz durch die USA in Anspruch. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird diese Rolle jedoch kaum noch problematisiert. Eine sicherheitspolitische Diskussion, die sich seit Jahren in Leerformeln („mehr Verantwortung übernehmen“) erschöpft, blendet die nukleare Frage weitgehend aus. Nach der selbstzerstörerischen Nachrüstungsdebatte der Achtzigerjahre erschöpft sich der politische Diskurs in allgemeinen Forderungen nach Abrüstung und in gelegentlicher Kritik an einer als widersprüchlich empfundenen Politik der Nuklearmächte. Herausforderungen wie etwa das iranische oder nordkoreanische Nuklearprogramm spielen in der deutschen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle. Man denkt und handelt konventionell – im wahrsten Sinne des Wortes.  [...] Eine nukleare Alternative gibt es für Deutschland vorerst nicht. Die von manchen immer wieder ins Spiel gebrachte „europäische nukleare Option“ bleibt eine Chimäre. Die Vorstellung, ein durch wirtschaftliche Krisen und populistische Versuchungen angeschlagenes Europa könne nun ausgerechnet die härteste Nuss einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik knacken, weil der amerikanische Präsident seinen Verbündeten angeblich den nuklearen Schutz entzieht, verkennt die aktuelle Lage gleich in mehrfacher Hinsicht. In der EU gibt es keinen nuklearen Konsens, sondern einen massiven Dissens über die Legitimität nuklearer Abschreckung.  Die USA bleiben die einzige nukleare Schutzmacht für Deutschland. Dieser Schutz wird im Rahmen der NATO organisiert und nirgendwo sonst. Einen nuklearen Konsens, der sich auch in einer Strategie und den militärischen Fähigkeiten niederschlägt, gibt es nur in der NATO – und selbst dort muss er immer wieder aufs Neue mühsam errungen werden. Zwar entscheidet auch im Bündniskontext einzig der amerikanische Präsident über den Einsatz von Nuklearwaffen, doch die USA – und nur sie – haben den politischen Willen, die finanziellen Mittel und die militärischen Fähigkeiten, um ihre internationale Ordnungsrolle durch glaubwürdige nukleare Schutzversprechen zu untermauern. Diese Schutzversprechen sind zugleich ein wichtiges Instrument der nuklearen Nichtverbreitung, weil sie Anreize der Verbündeten dämpfen, sich selbst nuklear zu bewaffnen. Deshalb wird Amerika diese Rolle auch nicht aufgeben. (Michael Rühle, Ethik und Militär)
Ich wünschte es wäre anders, aber ich gebe dem Autor völlig Recht. Nuklearwaffen werden sicherlich auf absehbare Zeit ein Faktor in der Internationalen Politik bleiben und vermutlich an Bedeutung zunehmen, gerade anlässlich des "Rüstungskontrollwinters", in dem wir uns gerade befinden. Non-Proliferation als internationaler Konsens ist ja praktisch schon aufgehoben.
Gleichzeitig ist auch die Kritik an dem Mangel einer europäischen Politik auf diesem Feld absolut berechtigt. Große Teile Europas befinden sich aktuell unter dem Schutz des amerikanischen Nuklear-Schirms, aber mit der zunehmend erratischen US-Außenpolitik werden dessen Verlässlichkeit und Abschreckungspotenzial immer mehr in Frage gestellt. Französische Versuche, ähnliche Garantien abzugeben, sind bisher nicht eben mit einem großen Vertrauensvorschuss bedacht worden, und auf die Briten will ohnehin niemand bauen, schon gar nicht in dieser Frage.

2) Justice Gorsuch fires a torpedo at Trump's re-election
When Trump critics accused social conservatives of having sold their souls to a president unworthy of their adoration, the stock response was now "But Gorsuch!" Translation: Trump might have flaws, but he promised to deliver us the judiciary, and on that he's made good! No matter what happened over the coming decades in the political arena, conservatives had captured the courts, and that would ensure victories on the issues that really matter to the religious right: protecting the unborn and religious freedom, and limiting gay and transgender rights. [...] It's even possible to understand the popularity on the right of Trump's singularly combative style of politics as an expression of maximal frustration at the utter failure of conservatives to stop the courts' onward march toward progressive outcomes on social issues. The right actually wants victories on these issues — which means it wants to see decisions it considers wrongly decided overturned and majority opinions push back in the opposite direction. What the right has gotten instead is ... not much at all. Three Republican appointees co-authored the lead plurality opinion in Casey. Kennedy, appointed to the court by Ronald Reagan, wrote the majority opinion in Obergefell v. Hodges, which declared same-sex marriage a constitutional right. And now Gorsuch himself has repeated the humiliation with Bostock. [...] This doesn't mean presumptive Democratic nominee Joe Biden should expect to receive a bump in support from disaffected conservative evangelicals and Catholics. But it does mean the Trump campaign needs to anticipate these voters are now far more likely to sit this one out, convinced that the outcome of the election will make little difference to them. Social conservatives are likely to feel like they've been played for suckers. And on that they may well be right. (Damon Linker, The Week)
Ich halte das Urteil für generell überbewertet. Dass es seit ich es hier in meinen Entwurf eingestellt habe schon wieder völlig aus den Schlagzeilen verschwunden ist bestätigt mich in dieser Einschätzung. Zudem sind die Evangelikalen eine ungeheuer loyale Wählergruppe; ich sehe einfach nicht, dass die in relevanten Zahlen von der Wahlurne fern bleiben, weil das Urteil nicht in ihrem Sinne ausging. Ich mag mich natürlich irren. Ich will die Gelegenheit auch nutzen, um moderaten Liberalen zu widersprechen, die jetzt so tun als sei Gorsuch doch gar nicht so schlimm und man habe 2017 überreagiert. Der Mann ist 99% der Zeit schädlich. Dass er jetzt einmal von seiner erwartbaren Linie abweicht, ist natürlich gut, aber es ändert nichts daran, dass er auf einem gestohlenen Sitz sitzt und Merrick Garland mit Sicherheit um Längen besser gewesen wäre.

3) The Democratic establishment is getting desperate
The Democratic establishment views its primary task as managing and controlling its voters rather than trying to do what they want. They have convinced themselves that the country is unshakably conservative, and therefore the best they can do is hang on to power and occasionally pass milquetoast reforms. This attitude is extremely convenient for the establishment's fundraising and career prospects — by forestalling any egalitarian policies that might threaten the top 1 percent, they can rake in campaign contributions, plus cushy corporate consulting jobs and buckraking speech gigs after they leave office. That's how you get incumbents like Engel who can barely be bothered even to pretend they cater to the needs of their districts. The prospect of the slumbering Democratic base being awakened by candidates like Bowman, and demanding the party fight for progressive policies just as hard as Republicans fight for conservative ones, would blow up this comfortable arrangement. That strikes fear into the establishment. If Engel goes down, a whole slew of elderly Democratic bigwigs, previously comfortable in their deep-blue seats telling their voters what they can't have, might be next — especially since this is an open fight, not an under-the-radar upset as Alexandria Ocasio-Cortez pulled off. That is why all these party grandees are trying to save his skin. And as Alex Sammon argues at the The American Prospect, that also explains why the Congressional Black Caucus, which has consistently prioritized its insider connections, endorsed a white incumbent over a black progressive. (Ryan Cooper, The Week)
Engel hat die Vorwahl mittlerweile verloren, während Alexandria Ocasio-Cortez ihre mit über 70% triumphal gewonnen hat. 2018 ist also keine Eintagesfliege, sondern konstituiert einen Trend, der dem demokratischen Establishment mit Sicherheit schlaflose Nächte bereitet. Was da heranwächst, so fürchten sie, könnte die demokratische Tea Party werden - ideologisch gefestigte und eher randständige Aktivisten, die der Partei ihren Willen aufzwingen und nach und nach in ihrem Bilde formen. Diese Furcht ist sicher nicht unbegründet, wenngleich ich nicht glaube, dass die Entwicklung analog zur Tea Party erfolgen kann, weder in der Breite noch in der Tiefe. Dazu fehlt es an den radikalisierten Basisstrukturen (noch), dazu fehlen die mächtigen Geldgeber, ohne die Tea Party nie hätte erfolgreich sein können, dazu fehlt auch der Ton der "den Sorgen und Nöten der Bürger zuhören" der Leitmedien, der die radikalen Forderungen normalisieren würde.

4) Imagining the nonviolent state
The question nonviolence asks is what if the state put, at the least, equal energy and effort into developing tools of nonviolence and training agents in their use? What if it was more willing to absorb harm to itself than to inflict harm on others, precisely because that strategy would lead to more security, safety, and harmony for all? And what if it replaced its emphasis on punishment and reprisal with a courageous pursuit of forgiveness and change? This question does not need to start with the hardest cases — say, when the police are called to intervene in a live shootout. The vast majority of police calls are to nonviolent incidents. What if the agents who responded to those calls were, themselves, trained in the tools of nonviolence: mediators, crisis counselors, accident report writers, or even police without guns, batons, or tear gas? We have successful pilots, like the Cahoots program in Eugene, Oregon, and other cities are beginning to follow suit. San Francisco Mayor London Breed, for instance, has announced a police reform road map in which police will no longer respond to non-criminal complaints. And even in the cases where violence is ongoing, there may be space for nonviolent approaches. What if cities convened respected elders in the community who were prepared to answers calls for intervention — is it possible that deploying a beloved local priest, or teacher, might calm a violent situation that badges, guns, and shouted demands for compliance would escalate? (Ezra Klein, vox.com)
Dieses lange, lesenswerte Essay stellt eine grundsätzliche Frage: Schafft eine gewalttätige Gesellschaft einen gewalttätigen Staat oder umgekehrt? Erklärt sich also die mörderische Gewalt der US-Polizei aus einer besonderen Gewaltbereitschaft seiner Bevölkerung, oder ist diese Gewaltbereitschaft Resultat langer institutionalisierter Gewaltausübung? Was diese Debatte erschwert ist in meinen Augen die Sonderstellung der USA. Denn egal, was das Ergebnis der obigen Deliberation ist, kann weder die besondere Gewalttätigkeit der US-Gesellschaft noch ihrer Institutionen geleugnet werden. Die Leute, die angesichts der #BlackLivesMatter Demos darauf hinweisen, dass USA und Deutschland zwei Paar Stiefel sind, haben ja Recht. Das stellt, wenn man die Überlegungen durchgeführt hat, die Frage nach der Vergleichbarkeit. Ich gehe aber grundsätzlich davon aus, dass es sicherlich nicht schadet, die Institutionen zu reformieren, so oder so. Und das Szenario einer gewaltlosen Polizei ist auch nicht absurd, wie Beispiele einiger anderer Länder belegen. Hier ist noch viel Luft nach oben.

5) A Tale of Two Ordos: German Nationalism in Brown and Red
The AfD’s connections to ordoliberalism are many and well-known. The expert commission of the AfD at its origins included Mont Pelerin Society members and ordoliberals Roland Vaubel, Joachim Starbatty and Charles Blankart, and the party program articulated traditional demands for balanced budgets and global economic competitiveness. While these particular intellectuals have since left the party, the leadership and party program remains a fusion of opposition to inflation and state spending with ethnonationalist pronatalism and Islamophobia, the so-called “blue” and “brown” wings of the party. Aufstehen’s links to ordoliberalism are more surprising. Wagenknecht, the most important thinker and leader in Aufstehen, began appealing to ordoliberalism in the wake of the global financial crisis, when she was elected to the Linke leadership in 2011[...] Described by the center-left newsmagazine Der Spiegel as an “archliberal manifesto” that at times plays loose with ordoliberal policy commitments, Wagenknecht argued in her book that “Erhard’s promise” of “prosperity for all” had been broken, thus requiring what she called an “Erhard Reloaded” and a new economic order. [...] A new economic constitution is needed to “reform capitalism,” Wagenknecht argued. Framed by new principles, it would foster “real competition” through aggressive anti-monopoly regulation, incentivize new business creation with minimum quotas for bank lending to small and medium-sized enterprises, reel in the power of speculative financial markets, establish a progressive wealth inheritance tax, require worker representation on corporate boards, and raise the minimum wage. With her earlier language of class antagonism largely absent, Wagenknecht now prescribed welfare-state capitalism with a human face. [...] While one would think the renewed turn to the nation in the “corona crisis” would benefit the two Ordos, it seems to have stolen their momentum instead. In a time when the EU seems more riven with divisions than ever — particularly over the uneven burden of funding recovery from the pandemic and the lockdowns — it no longer comes off as bold or taboo-breaking to criticize Brussels. The world converging with the nationalists blunts the urgency of their demands (William Callison/Quinn Slobodian, Roar Magazine)
Für alle Freunde der Hufeisentheorie dürfte dieser Artikel ein wahrer Genuss sein. Die ideologischen Überlappungen zwischen Teilen der LINKEn (vor allem was sich um Lafoknecht herum organisiert hat) und der AfD sind aber kaum zu leugnen. Dass die jeweiligen Argumentationsmuster, Begründungen und Schlussfolgerungen sich radikal unterscheiden - geschenkt, das ist klar. Aber im Ergebnis sprechen die beiden Seiten doch eine erstaunlich ähnliche Sprache, die gemeinsame Feinde kennt. Nebenbei bemerkt fand ich die Erhard-Aneignung von Wagenknecht schon immer albern. Der Mann war alles, aber kein Linker, auch nicht aus der Perspektive der 2010er Jahre und den abgenudelten Spitzensteuersatz-Vergleichen. Aber sie hält es offensichtlich für eine Gewinnerstrategie.

6) Eins, zwei, Polizei
Im öffentlichen Diskurs um die Polizei funktioniert das Rechts-links-Schema wie nur noch auf wenigen Politikfeldern. Kritik an Polizeiarbeit ist eine linke Domäne, ihre Verteidigung eine Prärogative der Konservativen. Diese Politisierung führt zu Blockaden und vereitelt institutionelle Lernchancen. [...] Die Erwartungen an die Polizei sind in mehreren Hinsichten gestiegen. Als Teil der öffentlichen Gewalt muss die Polizei sich in einem Rechtsstaat an vielfältige juristische Normen halten, deren Dichte und Regulierungstiefe zunehmen: Gesetze, Erlässe, Dienstvorschriften normieren zugunsten vielfältiger Zwecke alle möglichen Tätigkeiten. Politische Erwartungen kommen hinzu, die manchmal die Priorisierung von Verfolgungen fordern und manchmal geringeren Kontrolldruck implizieren. Schließlich aber sollen auch zivilgesellschaftliche Normen erfüllt werden: Die Polizei agiert im öffentlichen Raum, sie soll mit Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren, teils hoheitlich, teils auf Augenhöhe, aber immer schnelle, klare und richtige Entscheidungen im Sinne von „Eins, Zwei, Polizei“ treffen. Die Folge: Statt Fehler, die in jeder Organisation vorkommen, als normale Vorgänge zu begreifen und als Lernchance für künftiges Handeln auszuwerten, pflegt man das Selbstbild, dass „keine Fehler“ vorkommen „dürfen“. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Polizei im Namen des Staates handelt, der ein Gewaltmonopol besitzt, und insofern eine ganz besondere Organisation ist, da die Ausübung körperlichen Zwangs durch andere Akteure in langen historischen Prozessen delegitimiert wurde. Die hohen Erwartungen infolge dieser Besonderheiten führen intern sogar zu einer „negativen Fehlerkultur“, weil die Beteiligten einen diffusen Druck verspüren. Sie entwickeln Strategien zur Vertuschung und Verschleierung von Fehlern. Abgewehrt werden unabhängige Kontrollinstanzen und Kennzeichnungspflichten, und zwar nicht nur durch die professionellen Interessenvertretungen dieser Berufsgruppe. Das Bild von staatlich verkörperter, männlich konnotierter Autorität erzeugt eine falsche Schuldkultur und Immunisierung. Ansätze zu organisierter Fehlersuche und institutionalisierter Abhilfe (Stichworte: Feedback, Supervision, Reporting System) stoßen auf Widerstand. Formelhafte Argumente wie die Abwehr eines „Generalverdachts“ zeigen an, dass auch punktuelle Kritik als ein Frontalangriff interpretiert wird, den es zurückzuschlagen gilt. (Milos Vec, FAZ)
Die Kritik der FAZ ist absolut berechtigt. Der Reflex, jede Kritik an der Institution Polizei sofort als "Generalverdacht" zu begreifen, dem man sich schützend in den Weg stellen muss, ist ungeheuer schädlich. Auf diese Art setzt man ganz, ganz schlechte Anreize für die Institution als Ganzes. Wir machen das auch bei keiner anderen Institution! Wo schließlich war die Warnung vor dem "Generalverdacht" am Bildungssystem, als berechtigte Kritik in der Coronakrise vorgebracht wurde (oder sonst)? Wo werden die fleißigen Verwaltungsangestellten vor dem "Generalverdacht" in Schutz genommen, ineffizient zu arbeiten? Die Polizei ist einer besonders hervorgehobenen Verantwortungsrolle. Sie sollte daher auch besonders sensibel im Umgang mit Kritik sein und nicht versuchen, sich abzuschotten.

7) In Israel rollt die zweite Welle an
Israel galt als eines der Länder, die das Coronavirus vorbildlich bekämpft und so beinahe ausgerottet hatten. Schon im März schloss es seine Grenzen, fuhr die Wirtschaft herunter und schränkte die Bewegungsfreiheit ein. Zeitweise durften Israelis sich maximal 100 Meter von ihren Häusern entfernen. Die strikten Maßnahmen drückten die Corona-Infektionen: Im Mai steckten sich pro Tag nur noch fünf Menschen neu mit dem Virus an. Es galt quasi als besiegt, Netanyahu sprach von einer "großen Erfolgsgeschichte". [...] Doch dann öffnete sich das Land im Eiltempo. Schon bald war von Corona nichts mehr zu spüren. "Die Menschen hatten das Gefühl: Es ist vorbei", sagt Cohen. "Sie vergaßen, dass sie das Virus ja immer noch weitergeben können." Wochenlang hatten die Israelis zu Hause gesessen: Selbst an Pessach, einem Familienfest vergleichbar mit Weihnachten, waren Besuche verboten. Nun holten viele nach, was sie verpasst hatten. Die niedrigen Fallzahlen wiegten das Land in Sicherheit. Mundschutzpflicht, Abstandsregelungen - all das schien inzwischen nicht mehr nötig. "Was wir brauchen, ist mehr Disziplin", sagt Cohen. "Davon haben wir weniger als andere Länder." [...] Als Infektionsherde erwiesen sich außerdem Schulen, die zusammen mit der Wirtschaft wieder aufmachten. "Sie wurden schnell zu Clustern", sagt Cohen. Mehr als vierzig Prozent der neuen Corona-Fälle seien Kinder, die sich im Unterricht angesteckt hätten. Inzwischen sind etwa 200 von 5000 Schulen im Land wieder geschlossen, weil sich dort Hotspots gebildet hatten. (Alexandra Rojkov, SpiegelOnline)
Ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass es nichts gibt, was in Deutschland eine zweite Welle verhindern kann. Der politische Druck, jegliche Maßnahmen so weit wie möglich zurückzunehmen und der überwältigende Wunsch zur Rückkehr nach "Normalität" (was auch immer man darunter versteht) danach garantieren das. Das einzige was hilft ist Verantwortungsgefühl aller. Und gerade hier haben wir massive Probleme. Ich denke, was notwendig ist ist eine schnelle Identifizierung neuer Cluster (wo Deutschland ja recht gut ist) und ein lokaler Lockdown auf diese Cluster (wo Deutschland eher schlecht ist, siehe Armin Laschet). Aber ein kompletter Lockdown, eine Rückkehr zu den Maßnahmen - es muss einiges passieren, um die Leute im Herbst wieder zu überzeugen, "richtiges" social distancing zu machen - und dieses einige wollen wir echt nicht erleben.

8) Gier ist geil
Diese Argumentationsmuster klingen ungemein vertraut. Es ist das typische Kalter-Krieg-Mindset. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion waren besessen von der Idee von "Glaubwürdigkeit", die nur durch "Stärke" von der Umwelt akzeptiert wird und dann entsprechend abschreckend wirkt. Diese Glaubwürdigkeitsspirale ist auch tief in die Logik der nuklearen Abschreckung eingebunden, sollte aber dennoch noch einmal als ein eigenes Element betrachtet werden.
Denn die Vorstellung, außenpolitisch "Kante zu zeigen", quasi besonders unnachgiebig zu sein und dadurch Respekt und Nachgeben des Gegenüber zu erreichen, ist ja auch anderen Staaten gemein, die nicht über Atomwaffen verfügen und spielte bereits vor Atomwaffen eine große Rolle. Trump ist quasi die auf die Spitze getriebene, jedem intellektuellen Anspruch entkleidete Kernvariante dieses Themas. Aber Xi und Modi spielen dieses Spiel genauso. Thatcher beherrschte es auch. Und so weiter.

Freitag, 19. Juni 2020

Privilegien und Sprache werden von mit Wahlzetteln bei Starbucks ausgeschenkt - Vermischtes 19.06.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Uns fehlen die Worte
Wir haben deshalb so wenige Worte, um über Rassismus zu sprechen, weil es nicht Teil unserer Kultur ist, über Rassismus zu sprechen. Das ganze Thema wird als Minenfeld empfunden, weil die oberste Priorität darin besteht, selbst kein Rassist zu sein. Viele Menschen betonen, wann immer es um Rassismus geht: „Ich sehe keine Hautfarbe! Ich beurteile jeden individuell.“ Und ich verstehe den Impetus. Sie WOLLEN sagen: „Ich bin kein Rassist, der Menschen nach ihrer Hautfarbe beurteilt.“ Was sie aber in Wirklichkeit sagen, ist: „Ich weigere mich, den Rassismus zu sehen, dem Menschen wegen ihrer Hautfarbe ausgesetzt sind.“ Denn Rassismus funktioniert – genau wie andere Unterdrückungsstrukturen – dadurch, dass er für Unbetroffene unsichtbar ist. Um ihn aufzulösen, müssen wir ihn sichtbar machen und über ihn sprechen. Denn wir alle können rassistisch sein, was uns nicht gleich den vernichtenden Stempel Rassist aufdrückt. Ich höre oft: „Man weiß ja gar nicht, was man heute noch sagen darf.“ Dazu Folgendes: Wenn du nicht weißt, was du sagen darfst, um deine Mitmenschen nicht zu verletzen, dann hast du sie nicht gefragt. Du hast nicht mit ihnen gesprochen. Und wir müssen sprechen. (Marina Weisband, Deutschlandfunk)
Diese Sprachlosigkeit ist etwas, das ich auch hier im Blog öfter feststelle. Das betrifft ja nicht nur Rassismus und Sexismus. Während die Innenperspektive beileibe keine Voraussetzung ist, um an der Debatte teilzunehmen - das wäre eine geradezu fahrlässige Perspektivverengung - braucht es doch meist eine Beschäftigung mit dem Gegenstand und der spezifischen Sprache, ein sich-vertraut-Machen mit dem Thema. Mir fällt das etwa immer wieder auf, wenn ich mit Stefan Pietsch oder Erwin Gabriel über Unternehmertum und Finanzwirtschaft und so was diskutiere. Ich habe überhaupt keinen Bezug zu diesen Lebenswelten, ich habe oft nicht mal das Vokabular, aber das dumpfe Gefühl, sie mit meinen unzureichenden, unpräzisen Worten zu triggern. Gleiches gilt, und das weiß ich sicher, bei Themen wie Rassismus oder Sexismus in die umgekehrte Richtung. Gerade das aber macht, um in einer positiven Note zu enden, Einrichtungen wie dieses Blog so wertvoll. Wir können ein bisschen Einblicke in die jeweilige Sprache bekommen, die Lebenswelten vielleicht etwas besser nachvollziehen. Zumindest, wenn wir das wollen.

2) Zwei People of Color fragen Deutschland Liebe Weiße, wie profitiert ihr von Rassismus?
Sie haben beide in sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, sich mit ihrem Weißsein auseinanderzusetzen. Was soll das bringen? APRAKU: Schwarze werden regelmäßig gefragt: Wie fühlt sich Rassismus an, erzähl doch mal! Ich habe ein Problem damit, meine persönlichen, echt schmerzhaften Erfahrungen zu teilen, damit Weiße etwas lernen können. Weiße können auch ganz gut Rassismus thematisieren, ohne dass wir nur über die schrecklichen Erfahrungen von Schwarzen sprechen. Denn das Minus, dass Schwarze Menschen erfahren – schlechterer Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt –, das ist das Plus für Weiße. Wir sind Teil eines rassistischen Systems. Deswegen ist es wichtig, dass auch Weiße sich fragen: Wo ist es für mich leichter gewesen? Wo habe ich in der Schule vielleicht ein Kind rassistisch beschimpft? Oder stand ich nur daneben und habe nichts gesagt? Und das kann zu der Frage führen: Muss ich mehr Verantwortung übernehmen? [...] Warum glauben Sie, ist es für Weiße so schwer, sich damit zu beschäftigen? OHANWE: Genau solche Fragen sollen jetzt Weiße beantworten. APRAKU: Wir leben in einem Land, das an Leistungsgesellschaft glaubt und dass jeder seines Glückes Schmied sei. Wenn sich dann herausstellt, ich habe mein Glück gar nicht selber geschmiedet, sondern jemand hat mir einen Koffer gegeben und da war mein Glück die ganze Zeit drin, ich habe den Koffer halt noch tragen müssen – wenn ihn nicht sogar jemand für mich getragen hat –, ist das eine unangenehme Erkenntnis. Außerdem meinen Menschen, wenn sie über Rassismus sprechen in aller Regel die bösen anderen und die Nazis. Den Vorwurf zu hören, man sei rassistisch, ist einer der schlimmsten. Wir müssen aber wegkommen von der Frage: Sind wir gute oder böse Menschen? Wir müssen uns bewusst werden, dass Rassismus durch Gesetze, Normen, Wertvorstellungen immer eine Rolle spielt. Niemand ist böse, weil er Privilegien hat, aber er muss sich fragen, welche Verantwortung daraus folgt. OHANWE: Ich will auch nicht, dass Weiße sich in Schuldgefühle stürzen. Aber die Situation ist da und jetzt müssen wir eben damit umgehen. Nur weil du als Weißer nicht dein halbes Gehalt als Reparationszahlung für die Herero hergibst, heißt das nicht, dass du gar nichts machen kannst. Wie – das muss jeder selbst wissen. Wir sind nicht die schwarze, moralische Instanz. (Sidney Gennies, Tagesspiegel)
Ich finde dieses Interview eine spannende Ergänzung zu gleich zwei Artikeln hier auf dem Blog. Einmal ist das "Privileg" von Thorsten, in dem er genau die oben erwähnten Gedanken des "check your privilege" umzusetzen versucht. Zum anderen ist das mein "Rassismus ist wie Brokkoli", in dem ich versucht habe, die weit verbreitete Fehlannahme, Rassismus sei in binärer Zustand, abzuschalten und mehr Sensibilität für seine Funktionsweise zu wecken. Beides finde ich sowohl im Kontext von Fundstück 1 als auch der Black-Lives-Matter-Proteste gerade sehr wichtig.

3) Starbucks bans employees from wearing anything in support of Black Lives Matter
A video from a top company executive reportedly sent with the memo warned employees that "agitators who misconstrue the fundamental principles" of the movement could seek to "amplify divisiveness" if the messages are displayed in stores. "We know your intent is genuine and understand how personal this is for so many of us. This is important and we hear you," the memo read. A company spokesperson confirmed the memo's authenticity to BuzzFeed and said that such messages are prohibited "to create a safe and welcoming" environment at Starbucks locations. "We respect all of our partners’ opinions and beliefs, and encourage them to bring their whole selves to work while adhering to our dress code policy," the spokesperson said. The development comes as protests have erupted around the country over the police killing of George Floyd in Minneapolis in late May. Video of his arrest reinvigorated support for the Black Lives Matter movement and has led to numerous companies showing support for it. (Jon Bowden, The Week)
Ich kann absolut nachvollziehen, warum Starbucks diese Entscheidung trifft. Im  Rahmen des Obergfell-Urteils, mit dem der Supreme Court 2015 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte, war Starbucks einem konzertierten Shitstorm von rechts ausgesetzt, bei dem Rechtsextreme von den Republicans im Kongress über FOX News zu den einschlägigen Twitterblasen und Talk Radio Stimmung gegen den Produzenten kaffeeähnlicher Getränke machten. Für den Umsatz der Firma war das nicht besonders hilfreich. Ich erwähne diese Episode hier so ausdrücklich, weil das danach praktisch nicht diskutiert worden ist. Stattdessen wird in der westlichen Welt vor allem in konservativen Kreisen permanent die Bedrohung der Meinungsfreiheit durch linke Aktivisten beklagt, vorrangig mit irgendwelchen Geschichten absurder studentischer Aktivisten (weil aller tiefgreifender Wandel dieser Welt ja immer von studentischen Aktivisten ausging). Gleichzeitig ist die gesamte Debatte auf dem rechten Auge blind. Und diese Einschränkung der Meinungsfreiheit ist tatsächlich massiv und gefährdet aktiv die Umsätze eines milliardenschweren, globalen Unternehmens! Da wird aber nicht in düsteren Tönen vor political correctness gewarnt. Das heißt übrigens nicht, dass das ein rein rechtes Phänomen wäre oder okay wäre wenn es von links passiert; ich finde es nur auffällig, wie unterschiedlich das rezipiert wird. Es ist ein mehr als schädlicher Doppelstandard.

4) Politischer Klimawandel
Der rechte Extremismus und der Rechtspopulismus waren recht erfolgreich in den vergangenen dreißig Jahren mit ihrem Projekt der Diskursverschiebung. Dennoch wäre es aber unangebracht, zu glauben, dass die modernen Gesellschaften sich wie auf einer schiefen Bahn nur in eine Richtung bewegen. Es kann paradoxerweise zeitgleich zu „Linksverschiebungen“ und „Rechtsverschiebungen“ kommen. Es ist ja sowieso eine der skurrileren Seiten unserer Debatten, dass Linke gerne über die rechte Hegemonie jammern, während die Rechten die Herrschaft eines linken Mainstreams beklagen. Und betrachtet man die Dinge nüchtern, haben beide irgendwie recht. [...] Aber gerade weil die emanzipatorischen Werte heute allgemeiner verbreitet sind, können sie als der „herrschende Mainstream“ angesehen werden. Welzel spricht von zwei „moralischen Stämmen“. Die einen halten progressive Werte hoch, die anderen lehnen sie ab – eher konventionelle Milieus. Und weil es in den konventionellen Milieus dagegen eine Gegenreaktion gibt, „sind sie für Rechtspopulisten besser ansprechbar“. (Robert Misik, Arbeit&Wirtschaft)
Misik argumentiert hier in eine Richtung, die ich auf dem Blog seit Längerem vertrete. Wir haben es definitiv sowohl mit einer Links- als auch mit einer Rechtsverschiebung von Diskursen zu tun, und ich würde auch soweit gehen zu sagen, dass die Gesellschaft sich insgesamt deutlich in die progressivere Richtung verschoben hat. Nur passieren diese Verschiebungen eben auf völlig anderen Feldern. Oder will irgendjemand abstreiten, dass sich auf dem Feld von Asyl-, Migrations- und Flüchtlingspolitik das Framing von Rechts praktisch komplett durchgesetzt hat? Dass auf dem Feld der Gleichstellung von Frauen und sexuellen Minderheiten das Framing von Links völlig dominiert? Ich glaube, wer diese Gleichzeitigkeit übersieht und sich allzu leicht in Fantasien des völligen Siegs dieser oder jener Geistesströmung ergibt, niemals die aktuellen Entwicklungen wird analysieren und immer in einem Reich der Fieberträume bleiben wird.

5) Tweet
Ich muss ehrlich sagen, ich kann diese Zahlen nicht verifizieren oder auch nur in Kontext setzen. Ich möchte dies daher mit einer Bitte und einer Feststellung stehen lassen. Einerseits die Bitte an die, die sich auskennen: Was hat es damit auf sich? Ist die Analyse dieses Tweets tragfähig? Und andererseits die Feststellung: Wir hatten in der Debatte zur Euro-Einführung ja die Behauptung seitens Stefan Pietschs, dass Italien et al die Euro-Gewinner und Deutschland der Euro-Verlierer sei, was ich damals schon bezweifelt habe. Diese Zahlen scheinen mir schon darauf hinzudeuten, dass das Thema deutlich komplexer ist und sich in diesen nationalistischen Kategorien nicht fassen lässt.

6) The history of the British Empire is not being taught
None of this seems to have been unusual. When I asked friends (well; Twitter), I found that most of those whose schools did cover the empire in any depth did so at GCSE or A-level – a point at which most kids had stopped studying history at all. And while some schools may have taught classes on the Atlantic slave trade, this was sometimes merely a necessary precursor to talking about Britain’s role in its abolition. That was certainly more likely to come up than the links between the slave trade and imperialism, or the role its profits played in shaping cities like Bristol and Glasgow, or the possibility it may have funded the Industrial Revolution. Not only don’t we talk about what the British Empire did to the world; we don’t talk about what it did to Britain. And because we don’t want to talk about empire, we talk surprisingly little about much else that was happening in the 18th or 19th centuries. Sure, those years were critical in terms of shaping both the country we live in and the world today. But on the other hand they’re a bit embarrassing, aren’t they? Best stick to the Tudors instead. (John Elledge, The New Statesman)
Der Geschichtsunterricht in Großbritannien ist fast legendär schlecht. Ich erinnere mich noch an einen Spiegel-Artikel von 2004 (or thereabouts), in dem das von einem Exil-Briten bemängelt wurde. Dazu trägt auch maßgeblich bei, dass anders als bei uns das Fach abgewählt werden kann, weswegen die GeschichtslehrerInnen versuchen müssen, den "coolen" Stoff zu machen und die SchülerInnen bei der Stange zu halten, was auf eine unbotmäßige Konzentration auf die Weltkriege hinausläuft. Auf der anderen Seite sind aber auch die Lehrpläne unterirdisch. Was im obigen Kommentar bemängelt wird kann ich aus eigener Anschauung bestätigen; ich habe im Referendariat eine Zusatzausbildung für bilingualen Geschichtsunterricht gemacht, in der wir auch britische Geschichtsbücher angeschaut haben, und die Konzentration auf die "Greatest Hits" der angeblichen britischen Geschichte (ohnehin ein irriges Konstrukt) mit "1066 and all that" und dann wieder auf den Imperialismus ist...problematisch, to say the least. Nicht dass unsere Deutschland-Zentriertheit im Bildungsplan so viel besser wäre, aber das britische Niveau ist schon echt unterirdisch. Der absolute Mangel an kritischem Hinterfragen der eigenen Geschichtsmythen, selbst von britischen Akademikern, betoniert diese Defizite und packt sie gleichsam unter das Brennglas. Die Churchill-Hagiographie, die sich dieses Land leistet, ist etwa völlig Banane.

7) Tweet
Ich zitiere mal meinen eigenen Tweet, weil das Format dieser Artikelserie nach einer Quelle verlangt und der Gedanke mir keinen eigenen Artikel rechtfertigt ;) Ich frage mich das angesichts dieser atemlosen Wahlkampf-Debatten aber immer wieder. In den US-Zeitungen ist das völlige Zerlegen des Slogans von "Defund the Police" gerade genauso angesagt wie vorher das Kritisieren studentischer Aktivisten und Beschwören ihrer Bedrohung der Meinungsfreiheit (siehe Fundstück 3 oder dieser Kommentarstrang). Dabei gibt es meines Wissens nach keine Gruppe mit irgendwelcher politischer Gestaltungsmacht oder auch nur mit halbwegs großer Vernetzung, die diese  Forderung aktuell vertritt. Stattdessen war es ein Slogan, der auf einigen Plakaten zu sehen war und sich sehr gut eignete, um im Wahlkampf als Waffe verwendet zu werden (wenig überraschend, würde ich auch nicht anders machen). Seither gibt es in den US-Medien eine Riesen-Diskussion um "Defund the Police", aber mir scheint, das fordert eigentlich gar niemand? Ist echt wild.

8) The coming political whiplash
These trends, combined with polls showing a big, rapid shift in the direction of support for Black Lives Matter, are convincing some on the left that the dam has finally broken — that years of quasi-fascist trolling by Trump has triggered a long-hoped-for lurch to the left in public opinion. But this is premature. The far more likely scenario is that the left will overreach — indeed, that it already has — and that even if a sizable portion of the electorate decides that it's time for Trump to go in November, this shift will be followed by a rapid rebound in the other direction. That's because we now live in an era of polarization and centrifugal ideological forces that aren't just going to be dissipated by a single electoral repudiation of the Republicans. Such is the dynamic in a time of tilt-a-whirl politics that a big landslide for the left might actually be the best possible scenario for the GOP, just as Trump himself was rocket fuel for Democrats in 2018 and perhaps this year as well. That's because while Trump has practiced and shown the electoral viability of a harder right form of politics, his distinctive incompetence and malevolent narcissism have made him an atrocious president by any measure. A Trump trouncing in 2020 would enable the GOP to coalesce around a less flamboyantly terrible model of leadership for the future of the party and the country. Tom Cotton, Nikki Haley, Mike Pompeo, Mike Pence, Marco Rubio, Tucker Carlson — any of these and possibly many other potential presidential candidates would be nicely set up by a Trump defeat for a strong run in 2024. But that scenario will not only be rendered more likely by Trump getting booted from the White House in November. It will also be advanced by the left overplaying its cards. (Damon Linker, The Week)
Ich teile die Befürchtungen Damon Linkers absolut und denke, er hat mit den beschriebenen Mechanismen grundsätzlich Recht. Ich denke allerdings, dass es dazu nicht kommen wird, denn die Democrats sind einfach viel zu moderat. Sollten sie tatsächlich die Regierungsmehrheit erringen, würden Chuck Schumer, Nancy Pelosi und Joe Biden die drei relevanten Organe anführen, während der Supreme Court weiterhin fest in der Hand der Rechten wäre. Sieht irgendjemand in dieser Konstellation einen krassen overreach kommen? Dazu schreibt auch Matthew Walters in seinem Artikel "The Revolution is not coming". Auch Ryan Cooper, der eine Chance für ein "Ende des war on crime" beschwört, ist sehr pessimistisch. Gleichzeitig gehe ich aber vollständig davon aus, dass der von Cooper beschriebene wiplash trotzdem mit voller Härte erfolgen wird. Der Grund dafür sind die Medien. Diese werden sich nämlich garantiert ihrer alten Routinen erinnern und jede Initiative der Democrats als linksradikale Übertreibung geißeln, wo sie vorher noch angesichts von Konzentrationslagern an der mexikanischen Grenze dem Bothsiderismus gefröhnt haben. Da habe ich keinerlei Zweifel.

9) America Is Giving Up on the Pandemic
But as the pandemic persists, more and more states are pulling back on the measures they’d instituted to slow the virus. The Trump administration’s Coronavirus Task Force is winding down its activities. Its testing czar is returning to his day job at the Department of Health and Human Services. As the long, hot summer of 2020 begins, the facts suggest that the U.S. is not going to beat the coronavirus. Collectively, we slowly seem to be giving up. It is a bitter and unmistakably American cruelty that the people who might suffer most are also fighting for justice in a way that almost certainly increases their risk of being infected. [...] Few people believe that the U.S. is doing all it can to contain the virus. A brief glance at Covid Exit Strategy, a site that tracks state-by-state progress, reveals that most states are not actually hitting the reopening marks suggested by public-health experts. Yet state leaders have not stuck with the kinds of lockdowns that suppressed the virus in other countries; nobody has suggested that cases must be brought to negligible levels before normal activity can resume. No federal official has shared a plan for preventing transmission among states that have outbreaks of varying intensity. The Trump administration did not use the eight weeks of intense social distancing to significantly expand our suppression capacity. What our colleague Ed Yong called “the patchwork pandemic” appears to have confused the American public about what is going on. The virus is not following one single course through the nation, but, like a tornado, is taking a meandering and at times incomprehensible path through cities and counties. Why this workplace but not another? Why this city or state but not others? (Alexis C. Madrigal, The Atlantic)
Dieser Aufgeben-Effekt scheint mir recht weit verbreitet  zu sein. Er ist menschlich auch sehr verständlich. Gerade der Erfolg der Präventionsmaßnahmen hat jedes Gefühl für die Dringlichkeit der Krise verschwinden lassen, und die auf die Gesamtbevölkerung gerechnet immer noch recht niedrige Zahl von Fällen tut ihr Übriges dazu. Wenn man von der Corona-Bedrohung immer nur hört, sie aber im eigenen Umfeld nicht erleben kann, wird sie irgendwann unwirklich. In den USA ist das besonders dramatisch, weil die Krisenpolitik der Trump-Regierung so chaotisch war. Nachdem bereits im Mai die Totenzahlen die des Vietnam-Kriegs überschritten, hat Covid-19 nun mehr Opfer gefordert als der Erste Weltkrieg. Wenn das so weitergeht, knacken die USA auch noch den Zweiten Weltkrieg. Die Wirkung, die von einer inkompetenten Regierung ausgeht, ist absolut verheerend. Man sieht das jenseits des Atlantiks ebenso deutlich wie jenseits des Kanals, wo Boris Johnson ein ähnliches Desaster hinterlassen hat.

10) Der Ernstfall
Ich habe dieses Problem mit schöner Regelmäßigkeit hier im Blog diskutiert, nur um jedes Mal die Kritik zurückzubekommen, dass ich da völlig übertreiben würde und es sich um Einzelfälle handle. Man fragt sich, wann der Punkt erreicht ist, an dem die Masse der Einzelfälle zu einem systemischen Problem wird. Dass gerade das KSK voll von Rechtsextremisten ist, ist seit Jahren ein offenes Geheimnis. Das jetzt als große und erschreckende Enthüllung zu sehen ist geradezu lächerlich. Von der Leyen hatte mit ihrer Aussage vom "Haltungsproblem" völlig Recht.

11) Wenn Männer über Männer reden, reden Männer Männern nach
Umfangreiches Forschungs­material für mehrere Sprachen – auch für das Deutsche – und mit verschiedenen Methoden zeigt aber konsistent: Wir Menschen denken seltener an Frauen, wenn wir generisch maskuline Formen hören. Bei Lesern, Patienten, Wissenschaftlern denken wir zunächst an Männer. [...] Gerade bei Berufs­bezeichnungen liegt der Einwand nahe, dass es nicht die Sprache ist, die diese einseitigen Zuschreibungen bewirkt, sondern stereotype Rollenbilder in der Gesellschaft. Bauarbeiter oder Chirurg nehmen wir als männliche Berufe wahr und denken eher an Männer. Kosmetik umgekehrt wird eher als weiblicher Beruf wahr­genommen, und deshalb denken wir beim Wort Kosmetiker … ebenfalls an Männer. Die generisch maskuline Form ist hier, wie Studien gezeigt haben, offen­sichtlich stärker als das Klischee. Es ist also die Sprache, die Männer in unsere Köpfe setzt, nicht das Stereotyp. [...] Manchmal geht es sogar um Leben und Tod. Männer haben bessere Möglich­keiten als Frauen, sich vor dem Corona­virus zu schützen, weil Masken und Schutz­kleidung für männliche Körper optimiert sind. Männer haben bessere Chancen als Frauen, einen Herz­infarkt zu überleben, weil die Symptome bei Männern bekannter sind und Medikamente vor allem an Männern erforscht wurden. Männer haben bessere Chancen als Frauen, einen schweren Auto­unfall zu überleben, weil Autos mit Crashtest-Dummys getestet werden, die der männlichen Anatomie nachempfunden sind. Nun lässt sich gut argumentieren, dass solche Effekte nicht viel mit Sprache zu tun haben, sondern vielmehr damit, dass Männer in vielen Bereichen immer noch im Vorder­grund stehen. Schaut man aber etwas genauer hin, so wird der Zusammen­hang mit Sprache sichtbar. Frauen wurden zu wenig mitgedacht, weil die Forscher, die Ärzte, die Ingenieure über lange Zeit zur Mehrheit Männer waren und die weibliche Perspektive auf die Frage­stellungen fehlte. (David Bauer/Marie-José Kolly, Republic.ch)
Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass die häufige gehörte Verteidigung des generischen Maskulinums - dass Frauen mitgemeint seien und dass es keine negativen Effekte habe - von Studie hinter Studie widerlegt wird. Sprache definiert unsere Umgebung und unsere Wahrnehmung. Auf welche Art und Weise man am Besten das Problem angehen sollte, weiß ich nicht. Mir ist klar, dass mein eigener Versuch der Etablierung des Binnen-I bestenfalls durchmischte Ergebnisse mit sich bringt. Aber ich bin nicht bereit, hier länger tatenlos zu bleiben. Dafür ist das Thema offensichtlich zu bedeutend. Über konstruktive Vorschläge wäre ich daher dankbar.