Dienstag, 9. Juni 2020

Mein Schattenkabinett

In Großbritannien ist es eine der verfassungsmäßigen Aufgaben der Opposition, ein so genanntes Schattenkabinett vorrätig zu haben - also eine Besetzungsliste aller Ministerien sowie des RegierungschefInnenamts, für den Fall, dass die aktuelle Regierung fällt und die Opposition mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Inzwischen ist die Institution hauptsächlich ein Wahlkampfvehikel, aber sie zwingt die Opposition auch, sich stets Gedanken dazu zu machen, wer welches Amt ausfüllen könnte - und diese Kandidaten, sich in die Materie einzuarbeiten. Das vermeidet weitgehend solche Desaster, wie Dirk Niebel zum Entwicklungsminister zu machen.

Die Konstruktion des Schattenkabinetts ist für Deutschland wegen seiner Koalitionsregierungen nicht wirklich geeignet. Ich will daher für diesen Artikel deswegen auf sie zurückgreifen, weil ich die verschiedenen Ressorts quasi mit meiner eigenen Lieblingsregierung besetzen möchte. Dabei habe ich eine erste und eine zweite Priorität; ich will ja nicht zu wählerisch sein. Ich habe mich an der Ressortaufteilung von Merkel IV orientiert, diese aber wo notwendig aufgebrochen. Insgesamt gäbe es wohl weniger Ministerien als die unten aufgeführte Liste. Es ist ein reines intellektuelles Fingerspiel; eine solche Regierung wäre weder zweckmäßig noch realistisch. Ich benutze diese Fingerübung um zu zeigen, welche politischen Ansichten und Prioritäten ich habe. Ich bin daher in den Kommentaren sowohl auf eure Meinung als auch auf eure eigenen Schattenkabinette gespannt. Without further ado, let's go.

Bundeskanzleramt

Grüne oder SPD

Ich wünsche mir als nächsteN BundeskanzlerIn eineN GrüneN. Stilecht mit gendergerechter Schreibung hier. Zum Einen, weil ich die Grünen aktuell für die Partei halte, die die weitreichendste Zukunftsvorstellung hat. Zum Anderen hat die Partei schlicht auch einmal die Chance verdient zu zeigen, was sie kann, wenn sie kann. Und da hilft die Richtlinienkompetenz ein ganz schönes Stück. Andererseits ist mein Schattenkabinett ziemlich disparat, ein leiser wandelnder Vermittlungsausschuss von einer Partei, deren lange Geschichte als Garant dafür funktionieren kann dass sie im Zweifel ihre eigenen Interessen für das große Ganze zurückstellt, wäre sicherlich auch kein Fehler.

Kanzleramtsministerium

SPD oder Grüne

Wo wir es gerade von stiller Verantwortlichkeit hinter den Kulissen haben, das ist ja quasi die Rollenzuschreibung für KanzleramtsministerInnen, und wer wäre besser geeignet diese Rolle auszufüllen als die SPD? Natürlich macht es aus machtarithmetischen Gründen am meisten Sinn, wenn dieselbe Partei Kanzleramt und den zugehörigen MinisterInnenposten besetzt, aber wir sind im vollen Fantasiemodus. Das Kanzleramtsministerium ist zwar nicht mal ein offizielles Ministerium und versteckt sich immer hinter dem "Minister für Besondere Aufgaben" (bisher noch immer ein Mann), aber das muss uns ja nicht stören.

Finanzen

LINKE oder SPD

Da ich mir für meine Regierung eine gewisse Ausgabenwilligkeit wünsche, möchte ich nicht das Risiko eingehen, auf irgendeinen verkappten Ordoliberalen zu stoßen, von denen in SPD und Grünen ja immer noch ein paar herumlaufen. Andererseits stand Olaf Scholz überraschenderweise vernünftiger Politik in der Corona-Pandemie deutlich weniger im Weg als man hätte annehmen können, so dass man auch den Sozialdemokraten noch einmal das Amt antragen könnte. Generell aber sollte sich hier mal die LINKE bewähren, das dürfte auch gleichzeitig disziplinierend wirken.

Inneres

FDP oder Grüne

Das ist ein Ministerium, das nach Bürgerrechtlern schreit. An dieser Stelle wären sowohl PolitikerInnen der FDP als auch der Grünen willkommen, von denen man hoffen darf, dass sie am wenigsten der Versuchung erliegen werden, in der Polizei vorrangig ein erotisches Instrument staatlicher Durchsetzungsgewalt zu sehen. Da auf diesem Feld dringend Reformen unternommen werden müssen, die CDU, LINKE und SPD eher nicht zuzutrauen sind, sollte einer dieser Parteien das Feld beackern. Ich würde der FDP als selbst erklärter Bürgerrechtspartei hier einfach einmal einen Vertrauensvorschuss gönnen und sie ranlassen.

Bau und Heimat

Grüne oder LINKE

Aktuell befinden sich diese Ressorts im Innenministerium, aber das ist mehr Seehofers persönlicher Zuschnitt als eine sonderlich sinnvolle Kombination. Ich würde diese Bereiche aus zwei Gründen am Liebsten bei den Grünen sehen. Einerseits ist der Bau wie kaum ein anderes Feld geeignet, klimapolitische Maßnahmen umzusetzen, und dazu reif für eine generelle Politikwende. Andererseits ist ebenso notwendig, den Heimatbegriff progressiv zu vereinnahmen und ihn nicht reaktionärer Nostalgie zu überlassen.

Auswärtiges

CDU oder Grüne

Aktuell gibt es nur noch anderthalb Parteien in Deutschland, die halbwegs sinnvolle außenpolitische Positionen haben, seit die SPD und FDP völlig abgedriftet sind. Deswegen muss dieses Amt beinahe zwingend an die CDU fallen. Ansonsten wäre es noch von den Grünen besetzbar, die ebenfalls noch realistische außenpolitische Perspektiven haben, aber den Rest der deutschen Parteien würde ich gerade nicht weiter als bis zum Außenzaun lassen wollen.

Wirtschaft

LINKE oder Grüne

Jede der R2G-Parteien ist mir grundsätzlich für dieses Ressort recht, aber wie bei den Finanzen denke ich, dass die LINKE hier eine gute Gelegenheit zur Bewährung für sinnvolle Politik hätte. Bei den Grünen könnte man eine stärkere klimapolitischere Ausrichtung der Wirtschaftsförderung erwarten, während die SPD für meinen Geschmack viel zu sehr an verkrusteten Strukturen festhält.

Energie

Grüne oder SPD

Hier gibt es eigentlich keine echte Wahl, das Ministerium muss an die Grünen gehen. Die Zukunftsaufgabe, die Energieversorgung nachhaltig zu gestalten, wird aktuell nur von dieser Partei als solche begriffen und mit der notwendigen Ernsthaftigkeit angegangen. Im schlimmsten Fall könnte man das Ministerium der SPD geben und sie ihr business as usual treiben lassen. Die anderen dürfen, analog zum Außenministerium, nicht weiter als bis zum Eingangstor kommen.

Justiz

FDP oder Grüne

Wie auch das Innenministerium braucht es für das Justizministerium bekennende Bürgerrechtler, und davon gibt es aktuell nur zwei Schattierungen: gelb oder grün. Bisher hat die FDP ihre beste Figur konsistent im Justizministerium gemacht, und ich sehe keine große Notwendigkeit, es einer anderen Partei zu überlassen. Nirgendwo sonst kommen liberale Instinkte so gut und konstruktiv zur Geltung wie hier.

Verbraucherschutz

Grüne oder LINKE

Beim Thema Verbraucherschutz haben sich die Grünen bereits unter der Rot-Grünen Regierung zwischen 1998 und 2005 positiv hervorgetan, während die CDU/CSU nicht gerade brilliert hat, um es mal milde auszudrücken. Es gibt für mich keine Frage, dass die Zuständigkeit hier bei den Grünen liegen muss, wenngleich koalitionsarithmetisch im Notfall auch die LINKE heran gelassen werden könnte, die wenigstens die notwendige Bereitschaft mitbringt, sich mit der Industrie anzulegen - obwohl das Thema nicht gerade ihr Spezialgebiet ist.

Arbeit und Soziales

LINKE oder SPD

Überhaupt keine Frage, dieses Ministerium muss an die LINKE und würde in einer R2G-Regierung auch an sie fallen. Es ist ihr Leib- und Magenthema; hier hat sie meisten Vorschläge, Visionen und Kritikpunkte, nirgendwo wäre die Partei besser aufgehoben, um zahlreiche viel zu lang vernachlässigte Baustellen endlich anzugehen. Ansonsten macht die SPD üblicherweise einen soliden, wenngleich im reformerischen Kleinklein verhafteten Job.

Verteidigung

CDU oder Grüne

Hier gilt dasselbe wie für das Außenministerium. Die einzigen beiden Parteien, die eine annehmbare sicherheitspolitische Plattform haben, sind die CDU und die Grünen, und zwar emphatisch in dieser Reihenfolge. Niemand anderes sollte an den Bendlerblock herangelassen werden.

Ernährung und Landwirtschaft

Grüne oder SPD

Ein weiterer grüner Kernkompetenzbereich ist Ernährung und Landwirtschaft, vor allem Letzteres. Zwar könnte sicher auch die SPD den Job passabel ausfüllen, aber für die traditionell urbane Partei wäre das ein ziemlicher Fremdkörper (von der LINKEn gar nicht zu reden). Nein, die Förderung ökologisch-nachhaltiger Landwirtschaft, vielleicht der Versuch, endlich die überkommende EU-GAP zu reformieren, dazu eine ernährungspolitische Förderung gesunder Ernährung - all das sind grüne Kernthemen.

Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Grüne oder LINKE

Auch hier wären mir die Grünen am Liebsten, weil sie die mit Abstand progressivsten Haltungen in diesen Fragen mitbringen und die vernünftigsten Konzepte haben. Meine Zweitwahl LINKE basiert auf deren ebenfalls recht progressiver Frauenpolitik, aber zu Familien haben sie recht wenig zu sagen. Zumindest ist das mein Gefühl. Die LINKE sieht das Thema glaube ich hauptsächlich aus der Ungleichheitsperspektive.

Gesundheit

SPD oder Grüne

Ich bin grundsätzlich ein großer Fan der Bürgerversicherung und der Beschneidung des Privatversicherungssystems als Parallelsystem, und das ist ja eine SPD-Forderung seit immer und ewig. Auch sonst vertraue ich den Sozialdemokraten, sowohl die Kosten des Systems in Grenzen zu halten als auch auf sozialen Ausgleich zu achten. Ich denke, die Grünen würden das ähnlich machen.

Verkehr

Grüne oder LINKE

Bei der Neuorganisation des Verkehrs sind einmal mehr die Grünen gefragt. Weg von dem massenhaften Invididualverkehr, mehr Förderung des ÖPVN, mehr Förderung grüner Verkehrskonzepte und so weiter, all das ist der Partei wie auf den Leib geschneidert. Eine Alternative wären noch die LINKEn, weil die die wenigsten Probleme hätten, sich mit den mächtigen Lobbyinteressen anzulegen, die jede vernünftige Verkehrspolitik aktuell verhindern.

Digitale Infrastruktur

LINKE oder FDP

In einer ganz speziellen Hufeisenlösung würde ich mir für dieses Ressort entweder eineN LINKEn- oder FDP-MinisterIn wünschen. Meine Präferenz wäre die LINKE, weil die massiven Investitionen, die zum Aufholen der bisherigen Versäumnisse notwendig sind, am ehesten mit einer Partei zu machen sind, die hier wenig Berührungsängste hat. Auf der anderen Seite hat sich die FDP in den letzten Jahren als Digital-Partei zu profilieren versucht und wäre zwar eine Katastrophe, was den Ausbau betrifft, ist aber randvoll mit Reformideen in praktisch jeder gesellschaftlichen Nische, wo man mehr mit Digitalem machen könnte. Kann man das klonen?

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Grüne oder SPD

Dass dieses Ministerium an die Grünen geht ist denke ich klar. Sie sind die Partei, die am ehesten die Jahrhundertaufgabe des Klimawandels angeht, und das ist das Ressort, in dem das erledigt wird. Auch im Naturschutz sind sie am ehesten unterwegs, und der Atomausstieg war eh von Anfang an ihr Baby. Wenn es unbedingt sein muss kann die SPD hier auch übernehmen, aber die würden halt einfach den Status Quo vor sich hin verwalten.

Bildung und Forschung

Grüne oder FDP

Die Grünen scheinen als die bildungsaffinste Partei (man denke nur an ihre Verankerung in Schulen und Universitäten) eine ordentliche Wahl zu sein. Zukunftszugewandt und innovativ aufgestellt sind sie auch, so dass sie nicht neuen Entwicklungen im Weg stehen, und dazu liberal. Aus diesen Grünen wäre auch die FDP eine ordentliche Besetzung für das Ministerium; traditionell gibt es hier weniger Investitionen zu tätigen, sondern vor allem Impulse zu setzen, und die FDP ist wie die Grünen eine eher innovationsfreundliche, disruptive Partei - und das brauchen wir.

Zusammenarbeit und Entwicklung

FDP oder CDU

Diese Belegung mag etwas überraschen, aber wir sollten Dirk Niebels katastrophale Amtszeit vergessen und stattdessen noch einmal schauen, welche Ansätze die FDP für dieses Ministerium plant. Niebel wurde zurecht für seine Verwandlung des Ministeriums in eine Lobbyismus-Außenstelle kritisiert, und er war rundheraus eine Fehlbesetzung. Aber die Idee, das Ministerium für strategische Zusammenarbeit zu nutzen, ist nicht falsch, denn die bisherige Entwicklungshilfe-Idee ist eine Sackgasse, und eine, aus der R2G keine Anstalten auszubrechen macht. Ähnliches wie für die FDP gilt für die CDU, aber ich bin in dem Fall für den Underdog.

Ein kleines Fazit: Wenig überraschend dürfte meine Präferenz für die Grünen sein. Auffällig finde ich, wie selten die SPD bei mir Platz 1 belegt, und wenn, aus welchen Gründen. Mein Verdacht ist, dass es vielen Leuten so geht. Kein Problem, wenn die Partei an der Regierung ist, aber wenn nicht, auch Recht. Das Problem der SPD ist nicht, dass die Leute sie ablehnen, sondern dass sie ihnen schlicht egal ist.

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