Montag, 1. Juni 2020

Ist die EU demokratisch? - Teil 1: Genesis

Die Europäische Union ist ein Projekt, das viele Gegner hat. Kaum ein Vorwurf wird so oft gegen die Europäische Union erhoben wie der, dass sie undemokratisch sei. Selbst EU-Befürworter tun sich schwer damit, sie von diesem Vorwurf grundsätzlich freizusprechen. Ihre arkanen Strukturen helfen ihr dabei nicht unbedingt; ein Verfassungsschaubild der EU löst nicht nur eine erbitterte Diskussion darüber aus, ob sie überhaupt eine Verfassung hat oder eine haben darf, sondern sieht auch aus, als sei eine Rotte McKinsey-Berater mit einem Organigramm angerückt. Ich will versuchen, mich dieser Frage zu stellen, aber angesichts dessen, dass die meisten Leute die Struktur der EU überhaupt nicht kennen und nicht wissen, wie diese einzuordnen ist, werden wir nicht umhin kommen, eine Art Grundlagenkurs vorzuschieben.
Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlief sie viele verschiedene Stadien, wandelte ihre Natur mehrmals. Infolgedessen ist sie komplex, ein organisch gewachsenes Konstrukt, das zwar mit ihrer ursprünglichen Konzeption nur noch wenig gemein hat, aber nichtsdestotrotz von ihr geprägt ist. Der erste Punkt muss daher eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte sein, um sehen, woher sie kommt und wohin sie geht.

Auferstanden aus Ruinen

Im Jahr 1945 stand Europa an einem Scheideweg. Das Nazi-Reich war zerschlagen, zerstört, zerteilt und besetzt. Aber dasselbe galt für viele andere europäische Staaten auch. Frankreich war zwar nicht so getroffen wie nach dem Ersten Weltkrieg, aber von der deutschen Besatzung ausgeblutet und zumindest in Teilen zerstört. Die alliierten Armeen waren gegen erbitterten Widerstand der deutschen Truppen durch Belgien und die Niederlande vorgestoßen und hatten mühsam Italien durchquert. Großbritannien war finanziell und wirtschaftlich ausgeblutet und hatte Bombenschäden zu beseitigen. Von den Verheerungen Osteuropas, die das Ausmaß der Zerstörung in Deutschland oft genug übertrafen, wollen wir gar nicht anfangen.

Für alle Beteiligten galten zwei grundsätzliche Prämissen. Auf der einen Seite wurde Deutschland, anders als 1918, besetzt und als eigenständiger Faktor komplett ausgeschaltet. Auf der anderen Seite sollte der folgende Frieden dieses Mal deutlich nachhaltiger sein als nach Versailles. Demontage und Teilung Deutschlands galten daher in vielen Diskussionen, wenngleich nicht allen, praktisch als gesetzt.

Doch schnell kamen zwei Faktoren auf, die diese Prämissen hinfällig machten.

Faktor eins war der beginnende Kalte Krieg. Die sich abzeichnende Realität war, dass die Nachkriegsordnung, Deutschland von allen vier Siegermächten gemeinsam zu verwalten, nicht aufrechtzuerhalten war. Die sowjetisch besetzte Zone (SBZ), aus der sich später die DDR entwickeln sollte, war perspektivisch nicht für den wirtschaftlichen Zugriff der Westalliierten zu halten.

Das bedingte Faktor zwei: Die Besatzungszonen waren allein nicht lebensfähig. Statt Gewinn in Form von Reparationen und Demontagen aus ihnen ziehen zu können, wurden sie zu Zuschussunternehmungen. Großbritannien, das während des Krieges aus Lebensmittelrationierung verzichtet hatte, musste diese 1946 einführen, um seine Zone mit Lebensmitteln versorgen zu können. Frankreich stand vor einer noch größeren Herausforderung.

Es überrascht daher wenig, dass die USA und das UK sich bereits 1946 zusammentaten und ihre Zone von nun an gemeinsam verwalteten, um die Kosten zu reduzieren und möglichst schnell eine eigenständige, lebensfähige Zone zu erhalten. Frankreich wehrte sich dagegen, weil es noch darauf hoffte, größere Gebietsgewinne (vor allem die Saar) und Reparationsleistungen zu bekommen. Doch aus dem zerstörten Deutschland ließ sich einerseits wenig ziehen, und andererseits war Frankreich wirtschaftlich wesentlich zu schwach, um gegen den Widerstand seiner Verbündeten eine eigenständige Deutschlandpolitik fahren zu können.

Einige weitsichtige Politiker erkannten bereits damals, dass Frankreichs Sicherheitsbedürfnis nicht würde aus einer Niederhaltung Deutschlands gestillt werden können, sondern nur aus einer Symbiose. Am berühmtesten ist hier Winston Churchills Rede von 1946, in der er die Vision der "Vereinigten Staaten von Europa" entwarf, die sich um eine Achse zwischen Frankreich und Deutschland herum (wenngleich mit einem deutlich dominanten Frankreich) entwickeln sollten. Pointiert nahm er dabei Großbritannien heraus. Während er chauvinistisch (wenngleich korrekt) Frankreich den Großmachtanspruch absprach und es auf den Kontinent verbannte, nahm er ihn für Großbritannien (ungleich weniger korrekt) sehr wohl an.

Hintergrund war, dass Churchill das Empire als Kraftreserve sah, das es Großbritannien ja auch erlaubt hatte, den Krieg durchzustehen. Er hatte da gewisse Erfahrungen aus erster Hand. Diese Erfahrungen aber verstellten ihm den klaren Blick. Churchill stellte sich Großbritannien als eigenständigen Akteur zwischen USA und UdSSR vor, quasi als Brücke zwischen den USA und den USE. Bereits ein Jahr später zeigte die Unabhängigkeit des "Kronjuwels" Indien, was für eine Fantasterei das war. Die Labour-Partei, die gegen den Fantasten Churchill 1945 die Wahlen gewonnen hatte, war da schon weiter und baute Großbritannien mit einem auf innenpolitische Reformen gerichteten Blick vom Empire zum modernen Staat um - einem modernen Staat, der seinen Platz in Europa und nicht in Weltmachtspielereien hatte.

Einstweilen aber beobachtete Großbritannien die europäischen Vorgänge noch aus wohlwollender Distanz. Es war an den Franzosen, über den eigenen Schatten zu springen. Deutschland hätte, auch nach der Schaffung der Trizone 1947, der Einführung der Mark 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949, mehr als vermessen gewirkt, in diese Richtung zu agieren.

Die beiden Personen, die mit diesem Schattensprung am bekanntesten verknüpft sind, sind Robert Schuman und Jean Monet. Schuman war der französische Außenminister, während Monet ein Unternehmer mit hervorgehobener Rolle bei der Koordination der britischen und französischen Kriegswirtschaft und damit ein Experte für wirtschaftliche Verflechtungen war.

Sie traten nun an den ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer, heran und machten ihm einen spektakulären Vorschlag. Konkret ging es um die Schaffung einer gemeinsamen Behörde, die supranational und damit den Staaten übergeordnet sein sollte. Diese Behörde, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, kurz: Montanunion), sollte die Montanindustrie beider Länder gemeinsam verwalten. Die Montanindustrie (Bergbau und Eisenverarbeitung) besaß damals noch eine hervorgehobene Stellung, weil sie sowohl als Grundstoffhersteller für alle weiteren Industrien als auch für den Aufbau und Unterhalt einer Rüstungsindustrie entscheidend war.

Die Motive Frankreichs für diesen Zug sind verhältnismäßig leicht zu durchschauen. Einerseits würden sie so, anders als in Weimar, klare Kontroll- und Zugriffsrechte auf die deutsche Montanindustrie haben. Eine verdeckte Aufrüstung à la "Schwarzer Reichswehr" wäre so unmöglich. Andererseits würde die Versorgung der französischen Eisenindustrie mit Kohle sichergestellt werden. Und zuletzt wurde die französische Eisenindustrie vor der deutschen Konkurrenz geschirmt. Statt sich auf einen ruinösen Preiskampf mit der überlegenen deutschen Konkurrenz einlassen zu müssen, konnten gemeinsame Quoten und Märkte eingeteilt werden. Ein ähnlicher Versuch war in Frankreich mit der Schaffung von Kartellen und Schutzzöllen bereits im nationalen Alleingang in der Zwischenkriegszeit unternommen worden und kläglich gescheitert.

Doch auch für Deutschland hatte das Vorhaben einige verlockende Aspekte. Zwar schwächte es effektiv die deutsche Industrie, da diese freiwillig auf Wettbewerbsvorteile zu verzichten hatte. Aber dem stand der ungehinderte Zugriff auf den französischen Markt ohne ruinöse Schutzzollwettbewerbe gegenüber. Wesentlich bedeutender aber war der politische Effekt der EGKS. Die Selbstfesselung der deutschen Montanindustrie bedeutete, die französischen Vorbehalte gegen die Bundesrepublik deutlich zu reduzieren.

Da solche Vorbehalte seitens Frankreich die Beziehungen nicht nur zwischen diesen beiden Staaten, sondern auch mit den anderen Kriegssiegern in der Zwischenkriegszeit erheblich belastet hatten, konnten hier enorme Spannungen abgebaut werden. Deutschland war aber nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg auch ein internationaler Paria; vor 1955 hatte es nicht einmal das Recht, eine souveräne Außenpolitik durchzuführen. Frankreichs ausgestreckter Arm war das erste normale Auftreten der neuen Bundesrepublik auf dem internationalen Parkett, und da diese Einigung sehr im Sinne Großbritanniens und der USA waren, die keine Lust auf eine Wiederholung der ständigen Reparationsstreitigkeiten aus der Zwischenkriegszeit hatten, stand dem Abkommen auch nichts im Wege.

So entstand die Keimzelle der späteren europäischen Union aus Erwägungen heraus, die heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Die Montanindustrie erwähnt man eigentlich nur noch im Rahmen der Strukturkrise, und bei Saarland und Ruhrgebiet denken wir an Problemzonen, nicht an das pulsierende Herz der Wirtschaftstätigkeit. Das deutsche Militär beunruhigt in Frankreich allenfalls angesichts seiner Defizite und der weit verbreiteten Weigerung der Deutschen, es einzusetzen. Und Reparationen werden allenfalls in Griechenland und Polen als Thema betrachtet und dienen auch dort eher als Folklore.

Alle Wege führen nach Rom

Die EGKS, so viel wird man sagen dürfen, war ein klarer Erfolg. Weitere Schritte zu einer europäischen Einigung waren bereits vorher unternommen worden. Um die Hilfen des Marshallplans, mit dem die USA Europa wieder aufbauen zu helfen unternahmen, vernünftig zu koordinieren, war bereits 1948 die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet worden. Im selben Jahr hatten sich Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich und Großbritannien im "Brüsseler Pakt" zur "Westunion" zusammengeschlossen, einem Militärbündnis, das damals noch eine starke anti-deutsche Stoßrichtung hatte, aber für unsere Zwecke vor allem wegen seiner langfristigen und verlässlichen Kooperationsperspektive relevant.

Bereits 1954 wurde die Westunion zur Westeuropäischen Union umgewandelt, in der auch Deutschland bald Mitglied wurde. Ihr Zweck war offensichtlich damals bereits eine Abwehr möglicher sowjetischer Aggression. Dieses Militärbündnis ist im Geiste bis heute Teil der EU, wenngleich es seit dem Lissabonner Vertrag 2009 in der allgemeinen Beistandsklausel aufgegangen und folgerichtig 2011 aufgelöst worden ist.

Bereits 1949 wurde zudem der Europarat gegründet. Diese britische Initiative sollte die UN-Menschenrechtscharta in Europa absichern. Dem lag die klare Erkenntnis zugrunde, dass nur eine supranationale Institution dies bewerkstelligen könnte - der Europäische Gerichtshof. Dessen Einrichtung wurde durch die 1950 ratifizierte Europäische Menschenrechtserklärung noch weiter flankiert.

Ich führe diese Entwicklungen hier deswegen auf, weil die Genese der Europäischen Union sehr häufig unzulässig auf ein reines Wirtschaftsbündnis verkürzt wird. Diese Erzählung kommt interessanterweise sowohl von ihren linken als auch ihren rechten Kritikern. Linke Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um die Defizite besonders hervorzuheben. Rechte Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um eine Rückbesinnung auf angebliche Kernkompetenzen zu fordern. Beides führt in die Irre.

Die Europäische Einigung war von Beginn an ein mehrgleisiges Projekt. Sie war bereits in ihrer Anlage eine Werteunion: Die Menschenrechtscharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Einrichtung eines übergeordneten Gerichtshofs zur Durchsetzung dieser Werte noch vor der Einrichtung der EGKS sollten dies deutlich machen. Sie war aber auch ein militärisches Projekt, eine Absicherung sowohl gegen ein Wiedererstarken Deutschlands als auch gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion. All diese Anlagen müssen bedacht werden, denn sie werden später in eine kohärente Form gebracht werden müssen.

Der Erfolg der EGKS gebar logische Folgeschritte. Neben der wirtschaftlichen Verschränkung Frankreichs und Deutschlands schien es sinnvoll zu sein, auch die politische und militärische Einheit anzugehen. In den frühen 1950er Jahren wurden hierzu mehrere Pläne ersonnen. Möglicherweise ist Stalins Störfeuer mit dem Wiedervereinigungsangebot von 1952 auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Es erwies sich letztlich als überflüssig. Die Begeisterung für eine weitergehende Integration hielt sich in beiden Ländern in Grenzen. Die Deutschen wollten Autonomie und sahen Frankreich als Werkzeug dafür, während in Frankreich die Garde jener Politiker, die unbedingt die nationale Souveränität als Großmacht erhalten wollte, an Auftrieb gewann.

Die Pläne einer politischen Einheit wurden stillschweigend begraben. Wesentlich krachender war der Tod der militärischen Einheit. Französische Vorschläge einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die eine Zusammenlegung der französischen und einer neu zu schaffenden deutschen Armee vorsah, scheiterten 1954 in der Nationalversammlung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA und Großbritannien, die ihre Besatzungskosten durch einen deutschen Militärbeitrag zu reduzieren hofften, die Gründung einer eigenen deutschen Armee forciert - der Bundeswehr.

Die Europäische Einigung hatte damit, keine zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs, bereits einen empfindlichen Schlag und eine erste Krise erlitten. Die französische Grundsatzentscheidung, von einer Union abzusehen, legte damit das Fundament für die kommende Wirtschaftsgemeinschaft - und schuf einen Präzedenzfall für alle weiteren Integrationsschritte. Wo Widerstand auftrat, legte man das Projekt auf Eis, wo es Spielräume gab, setzte man es fort.

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