Samstag, 5. Dezember 2020

Die braune Gretchenfrage

 

Es ist etwas über zwei Jahre her, dass die Frage "Sag, wie hältst du's mit der AfD?" die CDU erschütterte. Mühsam vereinte sich die Partei damals um den Konsens, dass eine Zusammenarbeit jedweder Form mit den Rechtsextremen ausgeschlossen sei. Zu den PolitikerInnen, die sich seinerzeit dem Dammbruch entgegenstellten, gehörten etwa Thomas Bringmann, Paul Ziemiak, Jens Spahn oder Annegret Kramp-Karrenbauer. Auf ihrer Seite, aber aus Furcht um ihre Wähleranteile und ihr öffentliches Profil eher im Hintergrund, standen Leute wie Armin Laschet oder Norbert Röttgen, während einige andere sich aus dem gleichen Grund im Hintergrund hielten, aber kein Problem mit dem Ergebnis der Dammbrechenden hätten; hier wäre vor allem Friedrich Merz zu nennen. Die Saboteure dagegen fanden sich vor allem im Osten der Republik, in Gestalt von Holger Stahlknecht oder Michael Kretschmer. Wenig überraschend ist es auch dort, wo Ende dieser Woche ein weiterer Akt dieses Dramas geschrieben wurde.

Der Handlungsort ist Sachen-Anhalt. Hier regiert seit 2016 die erste und bislang einzige "Kenia-Koalition" Deutschlands, ein ebenso unsicheres wie unnatürliches Bündnis aus CDU, SPD und Grünen, das sich in Abwehr zu den radikalen Rändern der deutschen Politik versteht und nicht ohne Grund starke Erinnerungen an die Große Koalition der Weimarer Zeit weckt. In dieser fanden sich die demokratischen Kräfte der ersten Republik von 1928 bis 1930 in einem Kraftakt zusammen, ehe sie an einem Streit um eine minimale Reform des Arbeitslosenversicherungsbeitrags zerbrach.

Ein ähnlicher Streit um eine scheinbare Bagatelle bilden denn den Handlungsrahmens des Dramas. Anlass für den Konflikt war die Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent pro Kopf und Quartal, aber man sollte nicht wie manche eher mit dem Rechtsruck sympathisierende Zeitgenossen annehmen, dass hier eine sachpolitische Auseinandersetzung um die Höhe des Rundfunkbeitrags des Pudels Kern war, wenn man mir die Fortsetzung der Faust-Metaphern zugestehen mag (ratet mal, was ich gerade wieder unterrichte...).

Denn gegen diese Erhöhung stellten sich zwei Parteien: die CDU und die AfD. Und sie taten es aus ideologischen Motiven, einer Ablehnung des Systems der Öffentlich-Rechtlichen selbst. Es wäre allerdings ein Fehler, das als Einladung für einen Diskurs zum Thema zu verstehen, denn man durchaus an anderer Stelle führen kann. Ob die Gebührenfinanzierung des riesigen Apparats der Öffentlich-Rechtlichen so noch wünschenswert ist, ist durchaus diskutierwürdig. Aber darum ging es nicht. Die AfD lehnt den Rundfunkbeitrag wie jede rechtspopulistische Partei ab, weil sie ein gewogeneres Mediensystem haben wollen (die Forderung der Abschaffung der GEZ findet sich auf Parteiplakaten der NPD und der Republikaner bereits seit Jahrzehnten). Und die echte oder scheinbare Orientierung der Öffentlich-Rechtlichen auf der politischen Linken ist Teilen von CDU und FDP schon lange ein Dorn im Auge, genauso wie das gebührenfinanzierte System an sich. Und all das kann man debattieren. Nur, erneut, darum ging es hier nicht.

Stattdessen nutzte der sächsisch-anhaltinische CDU-Parteichef und Innenminister Holger Stahlknecht die Auseinandersetzung, um die Machtfrage gegen seinen eigenen Ministerpräsidenten Reiner Hasselhoff zu stellen. Dabei geht es um deutlich mehr als darum, wer Ministerpräsident wird; ich kann nicht einmal sagen, ob Stahlknecht diesen Posten anstrebte (Parteivorsitzender war er ja schon). Worum es stattdessen ging war die strategische Ausrichtung der CDU. Zur Erinnerung: Im eingangs erwähnten Grundsatzstreit der CDU 2018 erging ein formeller Parteitagsbeschluss, der jedwede Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss. In der Bundespartei war das vergleichsweise unumstritten; niemand will mit der Bundes-AfD zusammenarbeiten. In den Ländern dagegen ist es weitaus kontroverser: Hier waren es vor allem die Landesverbände Sachsen und Sachsen-Anhalt, die eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht ausschließen wollten.

Der Streit blieb 2018 letztlich unentschieden. Zwar setzte sich die demokratischere Fraktion innerhalb der CDU durch. Aber letztlich wurde der Konflikt nur vertagt und wartete darauf, bei nächster Gelegenheit wieder hervorzubrechen. Da sich Kramp-Karrenbauer als zu schwach erwies, die CDU unter sich zu einigen und zu führen, steht wie 2018 erneut eine Vorsitzendenwahl an. Vermutlich wäre der Konflikt ohne Corona schon früher ausgebrochen. Jetzt, mit dem anstehenden (virtuellen) Parteitag im Frühjahr, bricht er wieder hervor.

Holger Stahlknecht nutzte in Sachsen-Anhalt also die routinemäßige Anhebung des Rundfunkbeitrags als Anlass, die Machtfrage zu stellen und die CDU auf einen AfD-freundlicheren Kurs zu zwingen. Das Mittel der Wahl war ein Interview in der "Volksstimme". Hier erklärte Stahlknecht:

Wird die Koalition nächste Woche platzen?
Nochmal: Wir bleiben bei unserer Position. Der Ball liegt jetzt im Feld von SPD und Grünen. Ich gehe davon aus, dass sich beide ihrer staatspolitischen Verantwortung bewusst sind und nicht von sich aus die Koalition beenden.

Und wenn doch?
Dann käme es zu einer CDU-Minderheitsregierung und zur regulären Landtagswahl am 6. Juni 2021.

Dieses Manöver ist ungefähr auf demselben Level taktischer Brillanz wie Andrea Ypsilantis Versuch, 2008 eine Minderheitenregierung in Hessen zu starten, ohne mit der LINKEn zusammenzuarbeiten. Denn im sächisch-anhaltinischen Landtag gibt es nur zwei aktuell nicht koalierende Fraktionen: die LINKE, die die Unterstützung der Rundfunkbeiträge bereits angekündigt hatte, und die AfD, die aus ihrer Feindschaft demgegenüber keinen Hehl machte. Eine Mehrheit für diese von Stahlknecht zur Prinzipienfrage geadelte Entscheidung, über die eine Koalition gebrochen werden müsse, gab es nur mit der AfD. Dieses durchsichtige Manöver war genauso offensichtlich wie die Angewiesenheit Ypsilantis auf die Stimmen der LINKEn 2008 auch jenseits der Ministerpräsidentinnenwahl.

Entsprechend entschlossen musste die Reaktion ausfallen. Stahlknecht stellte die Machtfrage offen, und sie musste beantwortet werden. Allein, Stahlknechts Hoffnung war, dass SPD und Grüne ihm den Gefallen tun und analog zur Großen Koalition 1930 von sich aus den Koalitionsbruch begehen und den Weg zu einer Rechtsregierung freimachen würden. Allein, die Mitte hielt. Anstatt dass SPD und Grüne Geburtshelfer der ersten schwarz-braunen Zusammenarbeit wurden, beantwortete Ministerpräsident Hasselhoff die Machtfrage und entließ Stahlknecht, der noch am selben Tag als CDU-Vorsitzender zurücktrat (oder zurückgetreten wurde, da bin ich etwas unsicher).

Ausgestanden ist die Krise damit noch lange nicht, denn Hasselhoff kann sich nicht gerade auf eine solide Mehrheit seiner eigenen Partei stützen, und auch ist noch nicht ausgemacht, dass die SPD und Grünen die Koalition nicht doch noch sprengen. Die Tagesschau zeichnet vier Szenarien nach, die möglich sind, und ich kenne mich viel zu wenig in der sächsisch-anhaltinischen Landespolitik aus, um irgendwelche belastbaren Prognosen abgeben zu wollen. Stattdessen will ich bei dem entscheidenden Punkt bleiben, nämlich der Gretchenfrage, die zu stellen bestimmte Teile der CDU nicht unterlassen wollen: Sag, wie hältst du's mit der AfD?

Stahlknechts offensichtlicher Versuch, über eine AfD-Tolerierung einer CDU-Minderheitenregierung den Damm zu brechen, ist für den Moment gescheitert. Aber das ist kein einzelner Renegat. Die AfD ist absolut bereit für dieses Manöver und hat dies auch öffentlich kundgetan. Und die betreffenden Teile der CDU lechzen geradezu nach einer Erweiterung ihrer Machtoptionen über die SPD und Grünen hinaus (die Aussicht auf schwarz-gelbe Regierungen scheint weitgehend beerdigt zu sein).

Wenig überraschend findet sich dieser Streit auch auf Bundesebene wieder. Armin Laschet versucht dabei in bester Merkel'scher Manier durch eine möglichst offene, nicht festgelegte Positionierung zu glänzen, während sich Friedrich Merz und der in den letzten Wochen zu einem ernsthaften Wettbewerber gemauserte Norbert Röttgen an den jeweiligen Endpunkten der Linie positionierten.

Zuerst zu Röttgen. Er beging diese Woche den Coup, Paul Ziemiak an prominenter Stelle in sein Team zu rekrutieren. Das ist eine ziemlich klare Absage an die AfD und die Elemente der Partei, die eine Zusammenarbeit mit ihr wünschen. Gleichzeitig bildet die ebenso diese Woche angekündigte Rekrutierung von Ellen Dimuth als Nummer 2 und Chefstrategin eine Geste in Richtung derer, die eine hervorgehobene Rolle für Frauen in der CDU fordern und sich mittlerweile auch für Frauenquoten ausgesprochen haben. Diese Zukunftsentscheidungen für die CDU verbergen sich, wie wir gleich sehen werden, hinter einigen scheinbar sachpolitischen Konflikten.

Auf der anderen Seite steht Friedrich Merz. Er unterstützte Stahlknecht in dem Streit um die "Rundfunkgebühren". Erneut, dieser sachpolitische Konflikt ist reine Deckung. Eine Unterstützung im Streit um die "Rundfunkgebühren" ist eine Unterstützung für den Koalitionsbruch, und eine Unterstützung des Koalitionsbruchs ist eine Unterstützung der Zusammenarbeit mit der AfD. Friedrich Merz ist nicht dumm; diese Mechanismen sind auch ihm klar. Er stellt sich allerdings öffentlich gerne dumm und erklärt, dass die Mehrheitsverhältnisse im Landtag für eine Minderheitsregierung "irrelevant" seien. Das dürfte nicht nur für PolitikwissenschaftlerInnen eine Neuheit sein, gibt aber den eigenen AnhängerInnen eine Feigenblatt, hinter dem sie sich verstecken können.

Die Tarnung hinter solchen scheinbar sachpolitischen Fragen erstreckt sich, wie ich jüngst im Artikel zu Friedrich Merz dargestellt habe, auch auf andere Felder. Sowohl in der FDP - Merz' unbestritten favorisiertem Bündnispartner - als auch in den rechten Teilen der CDU hat sich etwa das Entfachen eines Kulturkampfs ums Gendern als eines dieser politischen Signale etabliert. Wenig überraschend nutzte es auch Holger Stahlknecht in demselben Interview in der "Volksstimme":

Die anderen, also auch SPD und Grüne, drohen mit Koalitionsbruch, sollte es eine gemeinsame Abstimmung von CDU und AfD geben. Wie bewerten Sie dieses Agieren?
Dieses Agieren ist eine Verformung, eine Pervertierung der Demokratie. Es dient nicht mehr dem Wohl des Volkes. Es ist der Abschied von staatspolitischer Verantwortung. Das Parlament wird für taktische Manöver genutzt.

Das macht die CDU nicht mit. Die CDU lässt sich nicht erpressen. Meine CDU ist nicht braun, sie ist nicht blau. Sie ist eine Volkspartei mit breiter Spanne.

Meine Aufgabe als Landesvorsitzender ist es, für den notwendigen Ausgleich zu sorgen, was ich auch tue. Ich beobachte mit Sorge, dass wir zunehmend eine von einer intellektuellen Minderheit verordnete Moralisierung erleben. Diese entfernt sich völlig von dem, was das Alltagsleben der Menschen bestimmt.

Konkret?
Niemand spricht jeden Tag über Gendersprache. Und niemand überlegt sich jeden Tag, ob das, was er sagt, politisch immer so superkorrekt ist. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Menschen das Gefühl bekommen, sie dürften nicht mehr sagen, was sie denken. Ich habe das als Innenminister in der Flüchtlingskrise erlebt. Da äußerten Bürger Sorge, ob die Integration gelingt, und dann wurden sie in die rechte Ecke gedrängt.

Mittlerweile sind wir doch so weit, dass bei einer geselligen Runde Zitronen ausgegeben werden müssen, damit bei einem politisch verunglückten Witz jeder, der vielleicht geneigt ist zu lachen, vorsorglich in die Zitrone beißt. Auch da sollten wir uns den Anstand bewahren, selbstverständlich, aber auch Gelassenheit. Wir sollten uns nicht zu einer verkniffenen Gesellschaft verformen lassen. (Michael Bock, Volksstimme)

Das zeigt einmal mehr die taktische Überlegenheit der CDU. Sie ist in der Lage, message discipline aufrechtzuerhalten. Stahlknecht muss geradezu Interview-Gewalt aufwenden, um das Thema hier unterzubringen, indem er erst eine völlig aus dem Zusammenhang gerissene und absurd scharfe Attacke auf "die Eliten" unterbringt, um so eine Nachfrage zu erzwingen, die ihm dann seinen Generalangriff auf Gendern erlaubt. Ähnlich tat es ja auch Merz. Niemand debattiert gerade über dieses Thema, es wird von den Konservativen ganz bewusst auf die Agenda gesetzt. Genauso wie der Rundfunkbeitrag ist es eine völlige Bagatelle, unglaublich niedrigschwellig, aber gleichzeitig geeignet, um Emotionen zu wecken. Es ist hervorragende politische Kommunikationsarbeit. Und es zeugt vom Bündnis dieser Gruppierungen.

Ich würde dringend empfehlen, danach in den kommenden Wochen und Monaten die Augen offenzuhalten. Wer sich zu diesen scheinbaren Sachfragen wie positioniert, wer sie zu Grundsatzentscheidungen macht und versucht, sie in der öffentlichen Debatte zu lancieren, macht darin die eigene Positionierung deutlich. Die Gretchenfrage mag eigentlich die AfD betreffen. Aber so, wie Faust durchaus bewusst ist, dass hinter der Frage nach der Religion weit mehr verborgen ist als eine Diskussion seiner Kirchgang-Gewohnheiten am Sonntagmorgen, so steckt hinter Rundfunkbeitrag und geschlechtergerechter Sprache in Verordnungen weit mehr als nur Verordnungskram. Man sollte sich nicht davon blenden lassen. Hasselhoff tat es zumindest nicht. Das Zeichen, das er setzte, ist ermutigend. Hoffen wir, dass er, Röttgen und die anderen die Oberhand behalten.

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