Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Sebastian Kurz und das Balkan-Virus
Von all diesen Fehleinschätzungen bzw. der Verantwortung, auf die falschen ExpertInnen gehört zu haben entledigt sich Kurz, wenn er die "Schuld" jemand Anderem umhängt. Und diese Anderen sind mit groben Pinselstrichen "die Ausländer". In diesem Fall vor allem jene vom Balkan und aus der Türkei. In dieser Zuschreibung werden alle Menschen, die Familie in diesen Ländern haben, zu AusländerInnen gemacht - ganz gleich, ob sie in Österreich geboren wurden oder nicht. Der Verweis auf die "Herkunftsländer" unterstreicht das. Es suggeriert, die Loyalitäten lägen bei diesen "Herkunftsländern" und "die" hätten "uns" das Virus wieder "eingeschleppt", weil "die" ja unbedingt in diese Länder fahren mussten. Kurz tut so, als sei das etwas Anstößiges, dabei geht es hier um Familienbesuche, wie sie zigtausende andere Menschen zu diesem Zeitpunkt gemacht haben. Aber, wenn die Oma in Sarajevo statt irgendwo in Österreich wohnt, dann wird auf diese Menschen Schuld geladen. Das ist insofern dreist, als das Österreich ja eine der internationalen Drehscheiben der Virusverteilung war (Ischgl) und über den ganzen Sommer immer wieder Hotspots auftauchten (St. Wolfgang). Kurz ist wie der frisch ertappte Dieb, der "Haltet den Dieb!" schreit. (Natascha Strobl, Moment.at)
Kurz ist ein Demagoge, der sehr gut darin ist, sich in einem bürgerlichen Gewand zu tarnen. Der Mann ist großartig darin, eine tendenziöse Behauptung aufzustellen und danach zu erklären, er habe das nie gesagt. Und meist kommt er damit auch durch, wobei ihm eine freundlich gewogene Boulevardpresse in Österreich hilft (Stichwort Kronenzeitung). Mich erinnert die Corona-Kommunikationsstrategie ein bisschen an China: Wuhan und Ischgl waren beide die jeweiligen Ground Zeros der ersten Welle, und in beiden Fällen wurde das geleugnet und dann die Schuld auf AusländerInnen geschoben, die das Virus angeblich eingeschleppt hätten. Im Falle Chinas waren es amerikanische AgentInnen, im österreichischen Fall MigrantInnen vom Balkan. Eklig ist das in beiden Fällen.
2) Demokratisierung durch „Cancel Culture“
„Politische Korrektheit“ und “Cancel Culture” sind also Ausdruck des konservativen Beklagens eines gesellschaftlichen Machtverlustes. Nun kann es so aussehen, als laufe diese Interpretation auf die Affirmation reiner Machtpolitik ohne universalistische Geltungsgründe hinaus. Um diesen Einwand zu entkräften, ist es nötig, genauer zu erläutern, was es heißt, dass die emanzipativen Normänderungen auf die Erweiterung des demokratischen Projekts abzielen. Hierbei helfen radikaldemokratische Theorien, die zeigen, dass demokratische Deliberation nicht gleichberechtigt abläuft, sondern von Hegemonien durchzogen, die viele Menschen ausschließen. Das demokratische Projekt ist unvollendet und für seine stückweise Weiterentwicklung und Verbesserung auf die Neuverhandlung und Kritik seiner aktuellen Ausschlüsse angewiesen. Dafür ist Kritik nötig, beispielsweise an Sexismus, Rassismus und Transphobie. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“, also die konservativen Ausdrücke für diese radikale Kritik, sind deshalb nicht die Einschränkung der demokratischen Pluralität und Inklusivität, sondern ihre weitere Verwirklichung. Nur über die partikular formulierten Kritiken am Universalismus kann dieser stückweise realisiert werden. [...] Normverschiebungen auf der nicht-staatlichen Ebene und die Demokratisierung von Neutralitätsvorstellung auf der parastaatlichen Ebene sind also keine Einschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit, sondern Änderungen des Feldes des Sagbaren, die längerfristig mit darüber entscheiden, welche Positionen und Künste Gehör finden, und welche nicht. Davon sind tatsächliche und unmittelbare Einschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit durch Recht und Politik zu unterscheiden. [...] Emanzipative Gesellschaftskritik stellt keine Gefahr für die Kunst- und Meinungsfreiheit dar. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ tragen tatsächlich zur inklusiveren Verwirklichung der Demokratie bei. Doch in der aktuellen Debatte stehen sich die Forderung nach Meinungs- und Kunstfreiheit einerseits und Projekte der emanzipativen Gesellschaftskritik andererseits gegenüber. Weil die Forderung von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit dabei zur zentralen Strategie des konservativen Projekts geworden ist, ist es wichtig, ihren machtpolitischen Ge- bzw. Missbrauch klar von ihrer grundrechtlichen Dimension zu trennen. (Karsten Schubert, Verfassungsblog)
Ich teile die dargelegte Argumentation Schuberts, möchte aber hinzufügen, wie schwierig das alles voneinander zu trennen ist. Das macht aber die Trennung auf der einen und die Unternehmung auf der anderen nicht minder notwendig. Ich habe in meinen bisherigen Äußerungen zugegeben wenig Gewicht auf die unbestreitbaren Gefahren gelegt, die unter der "politischen Korrektheit", "Identitätspolitik", "Cancel Culture" oder wie auch immer man es aktuell nennen will, schlummern. Diese Befürchtungen sind ja nicht grundlos.
Sie machen aber die ganze Unternehmung weder überflüssig noch illegitim. Denn was die GegnerInnen konstant nicht anzuerkennen bereit sind ist, dass auch der Status Quo Einschränkungen mit sich bringt, seine eigene Form von "political correctness", "Identitätspolitik" und "Cancel Culture" aufweist. Jahrzehntelang wurde etwa die Identität der hetero-normativen Mehrheitsgesellschaft politisch gefördert, wurden abweichende Identitäten wie LGTBQ+-Menschen systematisch "gecancelt" (von der Strafbarkeit homosexueller Handlungen zu "don't ask, don't tell").
Letztlich ist die Frage immer, wie das ja auch Schubert formuliert, wo die Grenzen des Sagbaren verlaufen. Diese Grenzen existieren aber immer. Das anzuerkennen und dann gesellschaftlich auszudiskutieren ist der notwendige Schritt.
Prüfungen sind mit die stärksten „Influencer“ im Bereich Unterricht, Ausbildung oder Studium. Wenn Lehrende gefragt werden, weshalb sich der digitale Wandel nicht in ihren Lernsettings abbilde, sie ihren Unterricht nicht öffnen, agile Didaktik verwenden oder Projektarbeit anbieten, werden als Grund häufig „Prüfungen“ genannt. Schließlich mündet alles bei ihnen. Sie bestimmen die Abschlussnoten – und über Erfolg oder Misserfolg im weiteren Leben. Prüfungsformate beeinflussen somit massiv, wie und woraufhin gelernt wird. Stünde am Ende keine Prüfung, könnten Lernende und ihre individuellen Lernprozesse in den Mittelpunkt rücken – und nicht die jeweiligen Prüfungsformate. Wie individuelles Lernen mit standardisierten Prüfungsformate zusammenpassen soll, bleibt ohnehin ein Rätsel. Und wie sieht es mit der notwendigen Fehlerkultur aus, die im Rahmen der digitalen Transformation genannt wird? Zum Lernen gehören auch Fehler dazu sowie die Fähigkeit, sie zu erkennen, zu verstehen und zu verbessern. Bei Prüfungen hingegen werden Fehler bestraft und sind „schlecht“. Weshalb also nicht auf Prüfungen komplett verzichten und im letzten Schuljahr alle Leistungen wie in den Jahren zuvor erfassen? Abgesehen von den frei werdenden Ressourcen, die an anderer Stelle eingesetzt werden könnten, würde dadurch auch manches Leid erspart bleiben – bei den Geprüften, bei Eltern oder Prüfenden. Geht es denn in der Schule nicht darum, junge Menschen zu befähigen, ein mündiges und erfülltes Leben führen zu können? Was tragen Prüfungen dazu bei, oder was verhindern sie vielleicht? Diese Fragen verdienen eine Prüfung. (Dejan Mihaljovic)
Ich halte genauso viel von den aktuellen Prüfungen wie von Hausaufgaben, nämlich fast nichts. In den meisten Fällen sind sie überflüssig, allzu häufig sogar schädlich. Die Schule wie auch die Universität sind in einem völlig ungesunden Ausmaß auf Prüfungen geeicht. Ich erlebe das tagtäglich in der Schule: Die SchülerInnen zu irgendetwas zu motivieren, das nicht klausurrelevant ist, ist unglaublich schwierig, weil ihnen jahrelang eingeimpft wurde, nur Noten (die durch Prüfungen entstehen) als legitim anzuerkennen.
Umgekehrt bin ich gezwungen, ein ständiges "teaching to the test" zu betreiben. Anstatt Interessen zu fördern, eigenständiges Denken zu trainieren oder aktuelle Themen zu besprechen muss ich konstant Prüfungsformate eintrainieren, die so unglaublich künstlich sind, dass sie im Leben der SchülerInnen nie wieder eine Rolle spielen werden. Das ist ungeheuer frustrierend. Und es gäbe Alternativen! Aber ich darf sie nicht nutzen, weil die Prüfungsordnung das vorschreibt. Zum Heulen.
Ihre Herablassung gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Judikative zeigt die Regierung auch in ihrer Rhetorik zur Asyl- und Migrationspolitik. Auf dem Tory-Parteitag im Herbst verkündete die Innenministerin Priti Patel, dem «Missbrauch» des Einwanderungssystems durch «linke Rechtsanwälte und andere Gutmenschen» einen Riegel vorschieben zu wollen. Johnson schloss sich ihrer Einschätzung wie auch ihrer Wortwahl ausdrücklich an. [...] Johnsons politische Heimat, die Konservative Partei, hat sich in den letzten Jahren zu einer Gruppierung entwickelt, in der von der harten Brexit-Linie abweichende Stimmen nicht länger geduldet werden. Der bewahrende Grundgedanke eines klassischen Konservatismus ist für die heutigen Tories kaum mehr von Bedeutung. [...] Die Johnson-Regierung hat das Grundprinzip, dass vom Volk gewählte Ministerinnen und nicht die Beamtenschaft die Verantwortung für politische Fehlentscheidungen zu tragen haben, de facto ausser Kraft gesetzt. [...] Angesichts dieser doppelten Krise ist – ganz unabhängig von Johnsons psychologischem Profil oder seiner Popularität als Person – nicht zu erwarten, dass sich der Brexit als Wendepunkt erweisen wird. Der Schaden, welchen der Populismus der politischen Kultur und den rechtsstaatlichen Institutionen zugefügt hat, bleibt bestehen. Der Populismus selbst auch. (Helene von Bismarck, Republic.ch)
Das lange Essay von von Bismarck ist in seiner Gänze lesenswert, ich habe hier nur einige Ausschnitte zitiert. In meinem Artikel zum Putschversuch der GOP in den USA habe ich die Auswirkungen beschrieben, die die Verabschiedung vom Rechtsstaat einer Hälfte eines Zwei-Parteien-Systems hat. Großbritannien ist noch lange nicht dort, aber die Tories entwickeln sich mehr und mehr in die Richtung der GOP. Das ist extrem gefährlich. Einige weitere Punkte in diese Richtung werden in Fundstück 5 gemacht, weswegen ich den Faden dort noch einmal aufgreifen will.
5) How the Conservatives are morphing from a party of power to a party of protest
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