Mittwoch, 2. Dezember 2020

NATO-Berater zocken bei der Zugfahrt in die Eurozone unpolitische Games - Vermischtes 02.12.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) INSTRUMENTALISIERUNGEN DES POLITISCHEN IN DIGITALEN SPIELEN

EG: Hm. Ich bin ja vorsichtig, was Ferndiagnosen bezüglich der politischen Intentionen von Entwickler*innen angeht. Aber eigentlich möchte man meinen, dass gerade bei Tom Clancy-Spiele und insbesondere der „Division“-Reihe niemand behaupten will, dass diese Spiele nichts mit Politik zu tun hätten: Ich meine: Ökoterroristen und eine Schläfereinheit der Strategic Homeland Security im ersten Teil und jetzt im zweiten Teil geht es um einen Coup im Weißen Haus! Das Polygon-Interview mit Terry Spier ist nachgeradezu surreal, wenn der Creative Director von The Division 2, mantrahaft wiederholt,dass weder die amerikanische Flagge am Cover, noch der Umstand, dass das Spiel in Washington DC nach einem Regierungsumsturz während eines Bürgerkriegs spiele, ein politisches Statement sei, sich dann aber doch ein Grinsen nicht verkneifen kann. Lügt er uns da bewusst an, oder ist er vielleicht doch irgendwie davon überzeugt? Zweiteres ist nicht ganz so abwegig, wenn ich mir in Erinnerung rufe, wie regelmäßig ich wütend auf Social Media angegangen werde, wenn ich über Politik in Spielen spreche. Das Wort “Politik” wird hier als Makel, als Verunreinigung des Spiels verstanden. Politik wird also als Verunglimpfung, als Vorwurf politischer Propaganda missverstanden. Davon wollen sich dann viele Entwickler_innen und Spieler_innen distanzieren. Auch die Vorstellung, dass manunbewusst politische Aussagen transportieren könnte – obwohl das halt ein völlig alltägliches und normales Phänomen ist – missfällt vielen. Es erinnert uns schmerzhaft daran, dass wir eben nicht durchgehend die Kontrolle über all unser Handeln und Denken haben, wie es uns ja eigentlich vom propagierten Individualismus unserer Gesellschaft suggeriert wird.

AG: Umgekehrt kann man aber auch sicher argumentieren, dass Politik zuweilen weniger alsInhalt, sondern als ästhetische Form in Spiele integriert wird. Das heisst, ein Spiel wie der jüngste Wolfenstein-Beitrag würde auf einer Erzählebene ohne seine historischen und politischen Hintergründe erstens gar nicht funktionieren. Zweitens ist eine politische Zuspitzung in einem Spiel, wenn sie bewusst ist, sicher auch ein sehr marketingaffines Gadget, mit dem man vielleicht polarisierende, aber gleichzeitig geradezu propagandistische Kampagnen starten kann, nur dass das Ziel der Propaganda hier nicht die Vermittlung von Politik über das Spiel, sondern umgekehrt des Spiels über Politik ist. Würdest du mir da zustimmen? (Arno Görgen/Eugen Pfister, Hypotheses)

Die Behauptung, Spiele seien inhärent unpolitisch, gehört zum Propagandakasten der #Gamergate-Crowd. Damit haben sie schon 2014 versucht, ihre (extrem politische) Sichtweise durchzusetzen. Das Private ist politisch, das gilt auch für Games. Und es gibt zahllose Beispiele dafür. Die Tom Clancy Games sind nur eines der albernsten dafür; wie um Gottes Willen soll ein Spiel, das auf den IPs von jemandem wie Tom Clancy basiert, unpolitisch sein?

Am virulentesten war die Debatte um "Kingdom Come: Deliverance", ein Spiel im Mittelalter, dessen Hauptautor eine explizite politische Agenda hatte und dessen Fans an jeder Stelle das Banner "unpolitischer" Spiele schwingen. Es ist ein reiner Kampfbegriff, der deswegen so gut verfängt, weil die ganze Branche immer noch in einem infantilen Zwischenstadium hängt, in der sie zwar ständig Anerkennung will, aber gleichzeitig jede Verantwortung ablehnt.

2) Die Kraft der bürgerlichen Systemkritik

Ein weiteres Phänomen der Wirkgeschichte Friedrich Engels ist von überraschend hoher aktueller Relevanz: die Kraft einer Systemkritik, die aus der bürgerlichen Herzkammer des Systems kommt. Friedrich Engels wurde am 28. November 1820 als Sohn eines vermögenden bergischen Industriellen geboren. Sein tiefer Einblick in die Zusammenhänge und Spielregeln des Unternehmertums seiner Zeit, seine herausragende Bildung, seine Sprachkompetenz, seine ökonomischen Ressourcen: All das entsprang seiner bürgerlichen Herkunft aus einer führenden (Wuppertal)-Barmer Textilfabrikanten-Familie. Es war die Grundlage dafür, sowohl theoretisch als auch politisch praktisch wirken zu können. [...] Die »Große Transformation« ist kein revolutionäres Projekt im Sinne von Marx und Engels mehr. Sie entsteht durch das Zusammenwirken vieler Einzelbausteine, getragen durch vielfältige »Change Agents« und flankiert durch eine dazu passende Politik. Deswegen erklärt der Grünenvorsitzende Robert Habeck, dass »radikaler Wandel keine Koalitionen scheuen sollte und insbesondere mit und nicht gegen den Rechtsstaat erfolgen muss«. Letztlich werden bürgerliche schwarz-grüne Bündnisse damit zum neuen Motor für den systemischen Wandel erklärt. Was damit als Parallele zu Engels bleibt: Die bürgerliche Selbsttransformation ist der Motor für die Systemveränderung. (Udo Schneidewind, SpiegelOnline)

Ich finde den Artikel aus politischer Sicht bemerkenswert. Das Selbst-Framing der Grünen als bürgerliche Partei läuft ja schon seit einiger Zeit (sehr zum Verdruss ihrer GegnerInnen), aber die offensive Betonung ihrer bürgerlichen Wurzeln, das explizite In-Kontext-Setzen ihrer Politik in bürgerliche Kategorien gibt den Grünen in der Eigendarstellung ein Profil, das sich maximal von als "links" empfundenen Elementen abgrenzt. Gleichzeitig stoßen sie in eine Lücke, die bereits seit langer Zeit verwaist ist, nämlich das linksliberale Spektrum.

Ich sehe diese Framing-Versuche als ein Signal für die Erwartung der Parteispitze, dass nach der Wahl 2021 eine schwarz-grüne Koalition kommen wird. Zwar zweifle ich nicht daran, dass die Partei gegebenenfalls auch für R2G zur Verfügung stünde, aber die Erwartung ist die einer "bürgerlichen" Koalition zwischen CDU und Grünen. Der Tonfall der Partei ist daher auch eher ein Stuttgarter Sound als einer aus Berlin. Ich denke, das ist wahltaktisch sicherlich kein Fehler. Sonderlichen Appetit für linke Politik scheint es in Deutschland ohnehin nicht zu geben. Selbst im Fall von R2G könnte die Partei da die Rolle übernehmen, die einst die FDP in der sozialliberalen Koalition der 1970er Jahre für sich einnahm.

3) Toxische Wortklauberei

Was für erfolgreiche Politik getan werden muss, ist auch klar: Europa muss seine Abhängigkeiten kontrollieren (etwa von Rohstoffen), Verwundbarkeiten minimieren (etwa bei der digitalen Infrastruktur) und sich so aufstellen, dass es Konflikte nicht verliert (etwa mit Russland oder China). Dafür brauchen die Europäer das notwendige Handwerkszeug. Im digitalen Bereich und im Handel kann Europa mithilfe von internationalen Standards Einfluss nehmen. Im Bereich Sicherheit und Verteidigung erlauben zum Beispiel konventionelle und Cyberfähigkeiten den Europäern, ihre Vorstellungen umzusetzen. Solche Potenziale machen Europa zu einem Akteur, mit dem andere zusammenarbeiten wollen, weil man mit Europa etwas erreichen kann. Anders formuliert: Man kann es sich nicht leisten, Europa gegen sich zu haben. Diese europäische Macht resultiert vor allem aus der Zusammenarbeit, zuallererst unter Europäern, aber auch mit anderen Partnern, ausdrücklich auch den USA. Denn Europas Fähigkeit, diese Kapazitäten aufzubauen, ist begrenzt. Deshalb besteht ein weiterer Teil einer Agenda des Handelns darin, der gegenwärtigen Autonomie-Wunschliste den politischen und finanziellen Preis gegenüberzustellen, den Europa dafür zahlen müsste. Dann werden die Europäer entscheiden müssen, in welchen Bereichen sie Prioritäten setzen und investieren wollen, um ihre Abhängigkeit von Partnern zu verringern, aber auch, wo sie Abhängigkeiten bewusst eingehen und welche Risiken sie deshalb akzeptieren müssen. (Claudia Major/Christian Möllig, SpiegelOnline)

Wir hatten bereits im letzten Vermischten die Probleme mit Europas "strategischer Autonomie" diskutiert, als Macron dieselbe einforderte. Und Major und Möllig haben völlig Recht wenn sie sagen, dass wenig Substanz in den rituellen Beschwörungen dieser Autonomie seitens Frankreichs und der Beschwörung des transatlantischen Verhältnisses seitens Deutschland besteht. Beides sind reine Chimären, die mit den Realitäten europäischer Sicherheitspolitik praktisch nichts zu tun haben. Die beständige Weigerung, jenseits dieser Worthülsen konkrete Politik zu machen, spiegeln sich auf den Feldern der Flüchtlings- und Migrationspolitik ebenso wie auf dem Gebiet der Bekämpfung des Klimawandels.

4) Große Koalition muss Beraterarmee reduzieren

Dass die Lage im griechisch-türkischen Grenzgebiet sehr viel komplizierter ist, dass deutsche Beamte mitunter in mutmaßliche Gesetzesbrüche verwickelt sind, demonstrieren nun interne Frontex-Dokumente. Statt Flüchtlinge aus Seenot zu retten, wie es das Seerecht vorschreibt, schleppen griechische Sicherheitskräfte Menschen systematisch auf das offene Meer. Der SPIEGEL hatte im Oktober gemeinsam mit den Medienplattformen Lighthouse Reports, Bellingcat, dem ARD-Magazin »Report Mainz« und dem japanischen Fernsehsender tv Asahi enthüllt, dass Frontex seit April bei mindestens sechs Pushbacks in der Nähe war. [...] Die Bundespolizisten mussten gewusst haben, dass hier Unrecht geschah. Jedenfalls schickten sie kurz nach dem Einsatz eine E-Mail an das Maritime Koordinierungszentrum in Piräus, verantwortlich für die Einheiten auf dem Meer. Die Deutschen wollten wissen, was mit den Flüchtlingen passiert sei. [...] Dabei ist Beobachtern seit Monaten klar, dass in der Ägäis systematisch Pushbacks stattfinden. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex selbst hat mehrere solcher Vorfälle eindeutig dokumentiert, wie SPIEGEL und »Report Mainz« berichteten. Doch für den 10. August haben die deutschen Frontex-Beamten nicht einmal einen »Serious Incident Report« angefertigt, wie bei mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen vorgeschrieben. (Giorgos Christides/Steffen Lüdke/Maximilian Popp, SpiegelOnline)

Das ist auch so was wie bei Trumps Lügen: JedeR weiß, dass die nationalen Grenzschutzbehörden, FRONTEX und so weiter illegale Pushbacks veranstalten und massiv die Menschenrechte brechen. Wir kriegen diese Nachrichten regelmäßig seit über einem Jahrzehnt, es ist praktisch offizielle Regierungspolitik, spätestens seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Und trotzdem tun die Medien und alle Beteiligten immer so, als wäre es ein Geheimnis, dass die EU-Staaten wenn nicht aktiv Flüchtlinge ertränken so doch zumindest die Umstände herbeiführen, in denen ihr Tod ein wahrscheinliches Ergebnis ist. Es gibt zahllose Videobeweise, Zeugenaussagen, alles. Und erneut, die offizielle (!) Politik lässt überhaupt keinen anderen Schluss zu. Aber alle tun so, als ob das nicht so wäre, und spielen bei jedem Einzelfall erneut die Überraschten und Entsetzten. Es ist nur noch widerlich.

8) Light in the tunnel or oncoming train?

This optimistic narrative is indeed itself a force to be reckoned with. As a self-fulfilling prophecy, it helps to bolster confidence and with it economic recovery. By analogy with the timeline of the eurozone crisis, one might think that we are back, eight years ago, in late 2012, in the months after the president of the European Central Bank, Mario Draghi, had cast a magic spell with his ‘whatever it takes’ commitment. For tens of millions of Europeans, the economic pain continued. But the panic was stopped. The foundation for a recovery had been laid. [...] We may have reached a turning point. But what if we have not? Imagine an alternative scenario. What if we are not in 2012 but in 2009? What if the relief we are experiencing is like the interlude of calm between the banking crisis of 2008 and the eurozone crisis that followed (as Erik Jones has helpfully framed it)? Imagine if the pain is only just beginning. In 2020 Europe’s economy has been on life support. Millions of jobs have been sustained by short-time working schemes. Guarantees of credit have been issued to staggering amounts. What if the support is ended prematurely? Unemployment surges. The economy continues to contract into 2021. Credit falls off a cliff. As recession takes hold, loans turn bad and losses cascade through the financial system. Europe’s banks, already in a weak position before the coronavirus shock, are caught napping. Their loss provisions in 2020 having been far lower than those made by their American counterparts, in 2021 they suffer a bloodbath. As their loan books deteriorate, weaker banks—above all in Italy—are downgraded to junk status, tightening their access to bond markets, further restricting their ability to lend. The failure to make good on the promise of 2012 to complete a banking union is exposed. Without credit the euro-area economy is paralysed. Unemployment surges by 2022 to 12 per cent. (Adam Tooze, Social Europe)

Ich bin grundsätzlich optimistisch, was eine Erholung der Wirtschaft 2021 angeht, aber ich betrachte die Wirtschaftspolitik der Regierung mit Sorge. Sowohl Merkel als auch Scholz spielen schon wieder die Schuldenfalken, als ob niedrige Schuldenstände gerade das vordringlichste Problem wären. Die Selbstständigen krebsen am Limit, zahlreiche Unternehmen sind angespannt.

Der Vergleich mit der Eurokrise ist dabei instruktiv. Wie Tooze völlig zurecht schreibt, wurden hier massive Fehler begangen. Diese nicht zu wiederholen sollte eine zentrale Aufgabe sein, aber stattdessen wirft man sich mit Genuss in genau die gleichen Fehlannahmen wie vor zehn Jahren.

9) GOP silence on Trump's false election claims recalls McCarthy era

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