Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Der deutsche Staat verachtet Selbstständige und Kreative
»Soloselbstständige« ist ein ebenfalls sozialdemokratisch geprägtes Wort, das auf halbem Weg zum Kampfbegriff ist. Absurderweise zielt es darauf ab, ob Selbstständige Angestellte haben oder nicht. Selbstständige arbeiten seit ungefähr immer gemeinschaftlich intensiv in Netzwerken – definiert werden sie trotzdem über die Festanstellung. Auch hier schwingt mit, dass die doofen Selbstständigen nicht Teil der Gemeinschaft sind, nämlich »solo«. Stephan Weil beschwert sich genau deshalb, dass jetzt der Staat einspringen müsse mit Transferleistungen an die fiesen unsolidarischen Selbstständigen. Dieser Satz ist eine Unverschämtheit planetarischen Ausmaßes, weil »Transferleistung« bedeutet, dass es keine Gegenleistung gibt und nie gab. Transferleistung heißt Almosen. Abgesehen davon, dass Weil tut, als hätten Selbstständige keine Steuern bezahlt, sind es SPD und Union, die seit zwanzig Jahren versäumen, funktionierende Instrumente zu gestalten, die nicht Festangestellte in die Sozialsysteme einbinden könnten. Es gibt reichlich Lippenbekenntnisse zur Wissensgesellschaft oder zur Kreativ- und Kulturindustrie, aber die mit Abstand wichtigste Arbeitsform dafür wird geringst geschätzt. Ist gut genug, ein bisschen Glanz und Schmuck ins Haus zu bringen, aber im Zweifel sollen die Kreativen und Selbstständigen bitte aus dem Weg gehen und diejenigen nicht nerven, die richtig arbeiten. Also fest angestellt. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Generell wird eine Verachtung gegenüber bestimmten Berufsgruppen und eine Privilegierung von anderen, zumindest in der Wertschätzung, deutlich. Ich habe ja am Wochenende explizit darüber geschrieben, dass Lehrkräfte und Eltern wenn nicht benachteiligt werden so dem Staat doch zumindest scheißegal sind. Aber Lobos Kritik an der Ignoranz gegenüber Selbstständigen und der Absolutsetzung des "Normalarbeitsverhältnisses" gehört da auch mit rein. Genauso wie beim Mindestlohn ist es auffällig, dass die Agenda2010-Reformen zwar angetreten sind, um diese alten Absolutsetzungen aufzubrechen, aber auf halbem Weg stehengeblieben sind.
So wurden zwar Initiativen zur Stärkung der Selbstständigkeit unternommen, wie etwa die Ich-AG, und es gab eine Menge entsprechender Rhetorik. Aber die krassen Nachteile des Selbstständigenstatus', besonders was die Absicherung angeht, wurden nie in Angriff genommen. Man denke allein an die Rentenkassen. Letztlich ist das ein Beispiel, das gut die Kritik aufzeigt, die ich sonst eher im gesellschaftspolitischen Teil hier anspreche: Prämissen sind wichtig und prägen Strukturen. Wird davon ausgegangen, dass der Festangestellte in Vollzeit der Standard ist, wird alles andere als Abweichung betrachtet, als unnormaler, vielleicht temporärer Zustand. Und das hat Konsequenzen, von den Corona-Hilfen für Selbstständige zu der Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt.
2) Trump is winning
Trump’s post-election fight has been designed to short-circuit each of these steps.
- Trump will not leave the public eye.
- His insistence that he won increased the activation of the Republican base.
- The base’s acceptance of his claim forced the partisan media to toe his line and even created demand for more partisan options when Fox wavered in its willingness to deny reality. (The explosion of Newsmax and OAN as they went full-2020 Truther can only force Fox further away from the mainstream and into outright propaganda.)
- This entire dynamic has stopped cold any questions of blame assigning or intra-party fighting.
- Consider: It is the Democrats—who won a large victory!—who are engaged in recriminations and the re-thinking of their electoral pitch. There has been absolutely none of this—zero—on the Republican side. You can’t ask “what went wrong” when you’re not allowed to admit that you lost.
- The next generation of ambitious elected Republicans isn’t just frozen in place. They’re subjugated. They’ve looked at the voters and realized that the best path forward is demonstrating absolute fealty to Trump. Which means that their incentive is to outbid their peers in expressing support for Trump’s claim of victory.
I’ve said it before and I’ll say it again: For anyone who wants a future in Republican politics, the price of admission is not admitting that Joe Biden won the 2020 election. You have to either skirt this reality, or outright deny it. But this isn’t just a question of a fact, it’s a mindset. Because it means that the minimum ante for Republican politics is now support for an insane conspiracy theory. (Jonathan Last, The Bulwark)
Ich halte es immer noch zu früh, um solch pauschale Urteile zu fällen. Stefan Pietsch hatte in den Kommentaren zu meinem Artikel ja ähnlich argumentiert, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Trump versuchen wird, seinen Einfluss aufrechtzuerhalten. Ob es ihm gelingt, ist völlig unklar. Noch nie hat ein Präsident nach seiner Abwahl versucht, die komplette Kontrolle über seine Partei zu wahren und danach wieder anzutreten. Und nein, Grover Cleveland zählt nicht.
Völlig wirr bleibt auch, wie sich die Democrats verhalten, als hätten sie die Wahl verloren. Ja, es lief nicht so toll wie man es sich vorgestellt hatte, aber umgekehrt würde niemals eine solche Introspektive, ein solch schmerzhaftes Sich-in-Frage-Stellen vorkommen, und würde das auch völlig anders geframt werden. Ein Sich-in-Frage-Stellen übrigens, das völlig seine Berechtigung hat; es ist nur so völlig wirr, dass bei den Republicans nicht der leiseste Zweifel besteht und auch von außen nicht erhoben wird.
3) The Cabinet Selection Process Is Veering Off Course
Heitkamp represented the corporate Ag establishment, a stalking horse for the big seed and meat processing and dairy conglomerates that have been mowing down family farmers for decades. When coastal liberals say that rural Americans vote against their own interests, they’re mistaken, because those interests are assuredly not being met by Big Ag and its backers. It’s led to hollowed-out communities, families giving up livelihoods that have lasted generations, and significant despair. That’s what the fight was about: Big Ag versus a new way forward. Biden chose Big Ag. [...] But the so-called “compromise” choice was Tom Vilsack, Ag Secretary under Obama for both terms. However, he is fully aligned with Heitkamp’s corporate Ag, export-driven strategy. Vilsack spent the past four years as a dairy industry lobbyist with a trade group called the U.S. Dairy Export Council; almost no other agricultural sector has grown more concentrated in that time, led by Dairy Farmers of America, a for-profit cooperative being sued by its own farmers for colluding to hold down milk prices. I’ve talked to a lot of family farmers over the past few years, for my book and other reporting. Vilsack’s name is a four-letter word to them. [...] Biden sought throughout the campaign to return normalcy to Washington, to put adults back in charge and show that experience matters. That’s not how things are working out, and the process badly needs to get back on track. (David Dayen, prospect.org)
Der Zentrist Biden ernennt zentristische PolitikerInnen auf Ministerialposten? Color me shocked. Die Überraschung darüber, welches Personal Biden bevorzugt, kann nur auf einer kollektiven Sinntäuschung beruhen. Einmal durch die permanente Propaganda von rechts, dass irgendwie die radikale Linke an die Macht kommen würde (ein ausgeleiertes Narrativ, das bei jeder Wahl völlig ungeachtet der Kandidierenden erneut ausgepackt und trotzdem mit schöner Zuverlässigkeit aufgegriffen wird), andererseits durch AktivistInnen von links, die sich etwas vorgemacht haben. Biden ist wie Obama auch ein moderater Zentrist, und entsprechend wählt er sein Personal aus. Das kann man bedauern (das tu ich sicherlich), aber überraschen kann es nicht. Und Bidens Auswahlprozess enthält ja neben solchen eher dem rechten Flügel der Democrats zuzurechnenden Personen auch einige Zuckerlis für die Linken in der Partei. Fast so, als wäre der Mann ein Zentrist, der die komplette Partei befrieden will...
Nachdem wir das aus dem Weg haben, bleiben wir für einen Moment bei Vilsack spezifisch. Ich bin nicht genug in der Materie drin, um beurteilen zu können, inwieweit der Mann elektorales Gift für die ländlichen Regionen ist. Es ist ja nun nicht eben so, als ob die Trump-Regierung nicht mit Lobbyisten für Big Ag am Start gewesen wäre, was die Landbevölkerung nicht gerade davon abhielt, ihr Kreuz bei ihm zu machen. Ich denke vielmehr, dass AktivistInnen solche Personalien wesentlich zu überschätzen neigen.
4) Ach ja, der Tod, da war doch was
Das Gesundheitsministerium lässt Plakate aufhängen, die zum Masketragen, Lüften, Kontaktreduzieren auffordern. Auf einem der Plakate sieht man einen Mann, dazu das Zitat: »Ich will bald wieder in meine Stammkneipe. Dafür trag' ich jetzt Maske.« Auf anderen Plakaten sieht man andere Leute, sie sagen: »Ich will wieder reisen« oder »Ich will wieder in mein Lieblingsrestaurant«. Alles nachvollziehbare Wünsche, ich teile das alles, aber: Ist es das? Wäre es sinnloser Alarmismus oder zu viel Pathos, zu sagen: Hallo, es sterben gerade richtig viele Menschen – wäre das nicht Motivation genug? Sind die Leute so kalt, dass sie die Aussicht auf Biertrinken und Sushi so viel mehr berührt als die Tatsache, dass jeden Tag Hunderte Menschen sterben? [...] Verdrängung des Leidens anderer ist bis zu einem gewissen Grad ein Überlebensmechanismus. Sie ist aber, wenn sie zum Prinzip wird, ein Tötungsmechanismus. Deswegen ist es ein schlechtes Argument, wenn rücksichtsloses Verhalten in der aktuellen Welle der Corona-Pandemie damit erklärt wird, dass die Leute Skireisen, Shoppen, Glühweintrinken in engen Gruppen, heimlich zu Hause treffen, Ausnahmen über »Ausnahmen«,... dass sie das ja bräuchten, um psychisch irgendwie noch klarzukommen. Ja, sicher, es wird ihnen wohl schon guttun. Aber um welchen Preis? Wäre es für diejenigen, die sich jetzt trotz der extrem ernsten Lage immer noch unvorsichtig verhalten, nicht doch etwas sinnvoller, das Thema Tod irgendwie präsenter zu machen? Nicht, um den Leuten noch mehr Drama zuzumuten, sondern um die Leute besser zu schützen? (Margarete Stokowski, SpiegelOnline)
Ich lasse die Fragen mal stehen, ich kann sie nämlich auch nicht beantworten. Auf der einen Seite bin ich emotional bei Stokowski, aber auf der anderen Seite bezweifle ich, dass Plakate mit großen Warnungen vor schrecklichem Erstickungstod im Intensivbett ihre Funktion erfüllen würden. Das völlige Missverhältnis der diskutierten Themen, von Glühwein zum Skiurlaub, mit der Schwere der Pandemie - sowohl was den Krankheitsverlauf als auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen angeht - ist augenfällig, aber ich bin von einem Kommunikationsstandpunkt aus sehr unsicher, wie das besser zu machen ist. Würde eine drastische Kampagne zu Corona analog zu den Bildchen auf Zigarettenpackungen helfen? Keine Ahnung. Bin gespannt auf eure Meinung.
5) Querdenker wählen laut Untersuchung häufig Grüne, Linke und AfD
Sozialstrukturell handele es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter betrage 47 Jahre, 31 Prozent hätten Abitur, 34 Prozent einen Studienabschluss, der Anteil Selbstständiger sei deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. "Bei der letzten Bundestagswahl haben nach unserer Befragung 21 Prozent die Grünen und 17 Prozent die Linke gewählt. Der AfD haben 14 Prozent ihre Stimme gegeben. Bei der nächsten Bundestagswahl wollen nun aber 30 Prozent der AfD ihre Stimme geben", sagte Nachtwey. Charakteristisch für die neue Bewegung sei eine Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien. "Es ist eine Bewegung, die mehr von links kommt, aber stärker nach rechts geht, sie ist jedoch enorm widersprüchlich." [...] Stattdessen sei für viele Querdenker, die die Gefahren des Coronavirus leugneten, ein ausgesprochener Hang zur Naturromantik charakteristisch: So vertrauen 41 Prozent der Befragten ihren "Gefühlen mehr als Institutionen und Experten", stark ausgeprägt sei der Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleich zu behandeln. (ZEIT)
Diese Ergebnisse überraschen mich keine Sekunde. LINKE und AfD profitieren seit jeher von Leuten, die in irgendeiner Art und Weise dagegen sind. Ehrlich gesagt überrascht mich die Beharrungskraft der LINKEn angesichts der Herausforderung durch die AfD generell; die hat völlig neue Wählerpotenziale erschlossen, statt zu sehr an den bisherigen ProtestwählerInnen zu kannibalisieren. Genausowenig überraschend ist, dass sie die massive Gewinnerin unter den "QuerdenkerInnen" ist; schließlich ist sie auch die einzige Partei, die aktiv um CoronaleugnerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen wirbt (ein strategisches Problem übrigens, um das ich die LINKE nicht beneide).
Dass ein so ordentlicher Anteil von den Grünen kommt sollte ebenfalls nicht überraschen. Ich habe hier im Blog schon öfter meinem Unmut über den Esoterikerflügel dieser Partei Luft gemacht, und das kommt eben davon, wenn man drei Jahrzehnte lang die Globuli- und ImpfgegnerInnenfraktion hofiert. Für die grüne Parteiführung wird, je näher die Regierungsverantwortung rückt, der Umgang mit dieser speziellen Gruppe (Stichwort Prenzlauer Berg) immer schwieriger, schon allein, weil sie sehr aktiv, gut vernetzt und gut situiert ist. Auch ein Problem, um das ich die Parteiführung nicht beneide.
6) Die Fehler von ARD und ZDF
Doch die Union war nicht der alleinige Helfer der AfD. ARD und ZDF haben selbst viel dazu beigetragen, dass Kritik an ihnen auf breite Resonanz stößt: weil sie sich bis heute weigern, endlich jene grundlegende Kritik ernst zu nehmen, die ihnen nicht nur aus dem rechten Spektrum entgegenschlägt. Der Unmut quillt seit Jahren aus allen Ecken der Gesellschaft, und er hat nur am Rande etwas mit den eher lächerlichen 86 Cent pro Monat zu tun, die ARD, ZDF und Deutschlandradio künftig mehr bekommen sollen (nach etlichen Jahren ohne Steigerung). [...] Die simple Frage, die die öffentlich-rechtlichen Sender beantworten müssen, lautet: Wozu gibt es sie? Oder genau: Warum braucht es sie heute noch? Was ist wirklich der Kern des Auftrags, der ihnen das Privileg zugesteht, von jeder Bürgerin und jedem Bürger Geld zu verlangen? Das sind sehr berechtigte Fragen, und es wäre wichtig, sie zu beantworten. Oder: für eine inhaltliche Begründung zu kämpfen. So wie es der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Schweiz tat, als seine Abschaffung per Referendum drohte. Es war ein heilsamer Schock. Denn siehe da: Die Schweizer ließen sich überzeugen. Mit Argumenten. [...] ARD und ZDF dagegen verweigern sich bislang einer großen Debatte. Sie tragen die Monstranz ihrer verfassungsgerichtlich bestätigten Demokratierelevanz vor sich her und scheinen zu glauben, dass diese Letztbegründung ausreicht. Ausgerechnet die Öffentlich-Rechtlichen scheuen, wenn es um sie selbst geht, die Öffentlichkeit. Selbst jetzt, da jene gefährliche Allianz aus CDU und AfD droht, schweigen die Intendantinnen und Intendanten. Statt Leidenschaft für die gute eigene Sache zu zeigen, verweisen sie bloß darauf, dass das Karlsruher Gericht auf ihrer Seite stehe. [...] Es braucht einen Neuanfang. Die Öffentlich-Rechtlichen und die Rundfunkpolitik müssen endlich die Grundlagen von ARD und ZDF neu diskutieren. In einer breiten gesellschaftlichen Debatte, an deren Ende vielleicht ein schlankerer Rundfunk steht, der sich auf seine Stärken und den Kern seines Auftrags besinnt. Der aber zugleich von den Fesseln befreit wird, die ihn daran hindern, in der digitalen Medienwelt flexibel zu sein. Und am schönsten wäre: Am Ende entscheiden darüber, wie in der Schweiz, die Beitragszahler. (Markus Brauck, SpiegelOnline)
Ich kann mich der Argumentation nur anschließen. Ich habe mittlerweile allerdings einige Analysen gelesen, nach denen so viel Geld nicht zu sparen ist, selbst wenn man das Fett wegschneidet. Die Fußballrechte der Bundesliga etwa verringerten wohl den Beitrag um nicht mal einen Euro, schneidet man das komplette Unterhaltungsprogramm raus, käme man demnach auf kaum zwei Euro weniger. Ob nun aber 52 Euro im Quartal oder 46 Euro im Quartal macht den Kohl nicht wirklich fett. Wöllte man das substanziell verringern, bräuchte es demnach quasi die Abschaffung zahlreicher Sender. Und das hielte ich für deutlich zu weit geschossen.
Grundsätzlich zustimmen will ich aber der Argumentation, dass besonders ARD und ZDF mehr Überzeugungsarbeit leisten müssten. Die verstecken sich effektiv hinter dem Bundesverfassungsgericht und hoffen, es auf diese Art hinzubekommen. Dabei gäbe es durchaus genug Gründe, die Dinger so zu behalten. Wenn ich bei den europäischen Nachbarn schaue, was die teilweise für eine Nachrichtenlandschaft beieinander haben, oder wenn man im QuerdenkerInnenmilieu schaut, die eher abgenabelt von den Öffentlich-Rechtlichen sind, kriegt man das Gruseln. Trotz aller Schwächen profitiert die deutsche Demokratie doch deutlich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
7) Wie der Klimaschutz im deutschen Bermudadreieck verschwindet
Und ausgerechnet der Mann, der die Kohlekommission leitete, Sachsens langjähriger Ministerpräsident Stanislaw Tillich, ist heute Aufsichtsratsvorsitzender bei der Mibrag, der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft. Hier hat also ein CDU-Politiker über den Kohleausstieg verhandelt, der anschließend von der Kohleindustrie engagiert wird. Ein Ausstieg, der in Deutschland erst 2038 erfolgen wird – viel zu spät, um die Klimaziele einzuhalten. Die Entschädigungszahlungen für die Kohlekonzerne sind ein Lobby-Meisterstück: Firmen wie die Mibrag erhalten Milliardenentschädigungen für eine Industrie, die aus wirtschaftlichen Gründen sicherlich schon früher als 2038 vom Netz gegangen wäre. Das ist so, als hätte die Bundesregierung Schreibmaschinenfabrikanten 1990 Steuergeld gegeben, um 2010 die Produktion einzustellen. Lobbyisten beeinflussen jedes Ressort: Von den CDU-Mitgliedern im Agrarausschuss des Bundestages haben acht von zehn einen direkten Bezug zur konventionellen Landwirtschaft, also etwa zu Düngerherstellern oder Fleischproduzenten. Energieriesen und Interessen gesteuerte Thinktanks haben wiederum einen besonders guten Draht ins Wirtschafts- und Verkehrsministerium. Thomas Bareiß, CDU-Abgeordneter und parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschafts- und Energieministerium, ist zudem Mitglied im Berliner Kreis der CDU, einer Splittergruppe, die den menschengemachten Klimawandel verharmlost und den Weltklimarat als "Weltrettungszirkus" bezeichnet. Auf Anfrage schreibt Bareiß, er vermöge nicht zu beurteilen, ob der Mensch den Klimawandel vollständig verursache. [...] "Die konservativen CDU-Kreise hängen letztlich am alten System: Weil zuerst die Grünen Erneuerbare durchsetzten, ist ihnen diese Energieform per se suspekt", sagen Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums. Hätte RWE vor zwanzig Jahren angefangen, Windräder und Solarpaneele zu bauen, wären das Wirtschaftsministerium und die CDU sicherlich begeistert gewesen. Sie vertrauten bis heute mehr den Großkonzernen als lokalen Lösungen mit Wind und Sonne. (Annika Joeres/Susanne Götze, ZEIT)
Der Artikel nennt für den furchtbaren Verhinderungs-Lobbyismus hauptsächlich Beispiele aus der CDU, aber natürlich ist das kein Problem, das sich in dieser Partei erschöpft. Sie war nur die letzten 16 Jahre durchgehend an der Macht und hatte entsprechend viel mehr Optionen. Zudem besitzt sie natürlich schon seit Jahrzehnten eine enge Verflechtung mit diesen Industrien. Aber auch die SPD war immer gut dabei, diesen Verhinderern auf den Leim zu gehen. Besonders schlimm ist der professionelle Dampfplauderer Sigmar Gabriel, der quasi im Alleingang die Energiewende torpediert hat.
Mein größerer Punkt bei dem Ganzen aber ist: Diese Leute verstehen nichts von Wirtschaft. Zwar wirft sich die CDU gerne in die Pose derer, die total wirtschaftskompetent, pragmatisch und so weiter sind, aber letztlich sind sie vor allem wirtschaftsnah. Und das ist ein Unterschied, denn wer Sümpfe trocken legen will, darf bekanntlich nicht die Frösche fragen. Den Willen der Großkonzerne auszuführen, mag manchmal durchaus auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll sein. Aber manchmal eben auch nicht. Auch das ist übrigens kein reines CDU-Problem, auch die SPD hat einen ungesunden Hang zu Großkonzernen und ihren Interessen.
8) Darf's noch ein bisschen Antisemitismus sein?
Deutsche Intellektuelle und deren staatlich alimentierte Einrichtungen sprechen sich gegen einen Boykott Israels aus. Ohne Wenn und Aber. In aller Entschiedenheit. Um dies noch einmal klar und eindeutig zu betonen, haben sie jetzt einen Aufruf veröffentlicht. Darin fordern sie, dass Vertreter jenes Israel-Boykotts, den sie unzweideutig ablehnen, auch in Zukunft staatlich geförderter Teil deutscher Debatten über Israel und den Nahostkonflikt sein sollen. Weil man sonst ja „wichtige Stimmen“ gewissermaßen auch boykottieren würde, und das auch noch durch „missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“, wie es in dem Plädoyer heißt. Wer das für einen Widerspruch hält, der zeigt nur, dass er von Diskurs ab einem bestimmten Niveau keine Ahnung hat. Schließlich setzt Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, „eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.“ [...] Wenn deutsche Intellektuelle den Notstand ausrufen, weil sie die Meinungsfreiheit und den freien Diskurs gefährdet sehen, dann geht es um Israel. Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ hat sich einzig dazu gegründet, dafür einzustehen, dass man Israel-Boykotteure nicht boykottieren soll. Die Sehnsucht, in deutschen Kirchen und auf deutschen Bühnen Narrative vom bösen Israeli zu erzählen, ist dabei vor allem die Sehnsucht der Einladenden und des Publikums – bisher jedenfalls ist noch kein Fortschritt für die Menschen im Nahen Osten durch Vorträge im Gemeindehaus von Bad Salzuflen erzielt worden. Es geht um deutsche Diskurse. Nichts schränkt diese und den deutschen Horizont derart ein wie dieser vermaledeite Verzicht auf eine Perspektive, in der die Verbrechen der Nazis aufgewogen werden durch die Verbrechen der Israelis an den Palästinensern. (Dr. Deutsch, Salonkolumnisten)
Die ständigen Verirrungen deutscher Intellektueller in den antisemitischen Dunstkreis, wenn es um Israel geht, entzieht sich jeder politischen Gesäßgeographie. Der Blödsinn findet sich in der Linken - ob der LINKEn oder dem Corbyn-Flügel der Labour spielt da keine große Rolle - in der Palästinenserromantik genauso wie in der unreflektierten Parteinahme für Staaten, die gegen die USA sind. Und er findet sich auf der eher Rechten, wo wirre Ideen um den "Schuldkult" kursieren und allerlei anti-modernistische Klischees gerne im antisemitischen Gewand daherkommen. Man denke nur an den starken Überlapp, den das gerade in Polen oder Ungarn hat. In Deutschland haben wir die Sondersituation, dass die Konservativen die unbedingte Freundschaft zu Israel zur Staatsräson gemacht haben, was sowohl die konservativen Parteien als auch die konservative Presse größtenteils immunisiert - in auffälligem Kontrast zu unseren europäischen Nachbarn. Da sieht man mal, welche positive Wirkung political correctness haben kann.
9) Trumps Todesliste
Trump und seine Regierung inszenieren sich kurz vor ihrem Abgang noch einmal als konsequente Hardliner in Sachen Todesstrafe. Künftig sollen neben dem Tod durch die Giftspritze auch andere Methoden der Hinrichtung wie Erschießungen, der elektrische Stuhl oder der Einsatz von tödlichem Gas erlaubt sein. Das geht aus der Änderung einer Vorschrift für die Ausführung der Todesstrafe bei auf Bundesebene verurteilten Straftätern hervor, die am vorigen Freitag (Ortszeit) im Amtsblatt der Bundesregierung veröffentlicht wurde. Danach sollen ab dem 24. Dezember Exekutionen nach allen Hinrichtungsmethoden durchgeführt werden können, die in dem Bundesstaat legal sind, in dem das Urteil ergangen war. Hinrichtungen in den USA erfolgen meist per Injektion einer tödlichen Mischung von Medikamenten, doch in manchen Staaten sehen Gesetze auch Alternativen vor. In Mississippi und Oklahoma etwa werden auch der Einsatz von Gas, der elektrische Stuhl und Erschießungskommandos grundsätzlich zugelassen. In Tennessee war im Dezember ein Häftling auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. [...] Trump hat die Wiedereinführung von Hinrichtungen auf Bundesebene durchgesetzt, nachdem es dort seit 2003 keine Hinrichtung mehr gegeben hatte. Die Todesstrafe war seitdem zwar weiter verhängt, aber nicht vollstreckt worden. Der Rechtsstreit um die Wiederaufnahme der Hinrichtungen hatte sich bis vor das oberste Gericht in Washington gezogen, die Regierung setzte sich schließlich durch. Die ersten drei Exekutionen waren daraufhin im Juli im Bundesgefängnis in Terre Haute im Staat Indiana per Giftspritze durchgeführt wurden. Sieben weitere gab es seitdem. (Helmut Ortner, Salonkolumnisten)
Der Atlantic-Journalist Adam Serwer hat 2018 in
seinem berühmten Essay die mittlerweile zu
einem Buch ausgearbeitete These formuliert: "
The cruelty is the point". In meinen Augen bleibt das der wichtigste Artikel zum Verständnis Trumps und seiner AnhängerInnen. Wer diese fundamentale Erkenntnis nicht anerkennt - dass bewusste Grausamkeit eine Hauptmotivation sowohl Trumps als auch seiner AnhängerInnen ist - der wird das Phänomen dieses Präsidenten nie verstehen können. So auch hier. Die Wiedereinführung von Erschießungskommando und elektrischen Stuhl, die Wiederaufnahme der Todesstrafe auf Bundesebene, das hastige Ab-Exekutieren einiger Verurteilter auf den letzten Metern der Administration, es entspringt demselben Animus der die Regierung dazu brachte, Kinder in Käfige in Konzentrationslagern zu sperren und von ihren Eltern zu trennen. Es ist Grausamkeit, um grausam zu sein. Es ist widerlich.
10) Deutschlands fatale Schuldenpanik
Richtig ist, dass der Bundesfinanzminister kein Problem hat und hatte, an den Finanzmärkten Leute zu finden, die deutsche Staatsanleihen kaufen, damit er mit dem Geld dann enorm viele Corona-Hilfen oder Investitionen zahlen kann. Anders als etwa der Kollege in Italien, der im Zweifel dann schon mal Zinsaufschläge bieten muss. Nur hat das nichts mit der schwarzen Null der vergangenen Jahre zu tun – da haben die Italiener sogar höhere Überschüsse vor Zinsen erwirtschaftet als wir. Es liegt schlicht daran, dass Deutschlands Staatsanleihen seit Jahrzehnten zu jenen Anlagen gehören, die als sichere Hafen für zappelige Anleger gelten. Wie Gold oder Schweizer Franken. [...] Dass das auch nicht anders wäre, wenn es in den vergangenen Jahren keine schwarze Null gegeben hätte, lässt die Entwicklung in den USA vermuten, die ebenfalls als finanzkapitalistische Fluchtburg gelten – und wo das Staatsdefizit mit sechs Prozent der Wirtschaftsleistung schon vor Corona so hoch war wie jetzt in Deutschland. Jetzt sind es 15 Prozent, ähnlich wie in Großbritannien. Ohne dass Anleger (bislang) davongerannt sind. Auch in den USA sind die Zinsen auf Staatsanleihen 2020 gefallen. In Frankreich, wo es ebenfalls vor Corona keine Überschüsse gab, liegen die Sätze wie bei uns unter null. (Wolfgang Fricke, SpiegelOnline)
Ich sehe das Ergänzung zu Fundstück 7, als ein Beispiel wirtschaftlichen Analphabetismus', der sich als Vernunft tarnt. Die "Regeln" bezüglich Schuldenständen und Staatsanleihen, die in der Öffentlichkeit ständig ausgegeben werden - dass etwa bestimmte Schuldenstände bestimmte Konsequenzen hätten, dass Überschüsse Ausdruck gesunder wirtschaftlicher Lage sind und so weiter - werden durch die Realität beständig widerlegt, aber trotzdem permanent wieder ausgegeben. Das soll kein Plädoyer für Schulden aus Prinzip sein, aber für differenzierte Betrachtungen und einen Abschied von lieb gewonnenen Narrativen, die halt nicht mehr als ordoliberale Gutenachtgeschichten sind.
11) Where the GOP draws the line
Aus der Perspektive eines Kontinentaleuropäers ist es extrem schwer zu verstehen, warum die AmerikanerInnen so fanatisch ihre riesigen Verteidigungsausgaben verteidigen (pun not intended). Es ist absolut faszinierend, dass das einzige Politikfeld ist, auf dem noch ein überparteilicher Konsens existiert. Da wird sogar ein Trump'sches Veto völlig problemlos überstimmt, wo sich die Abgeordneten sonst in absoluter Furcht in Linientreue vor der Bedrohung durch Trumps Tweets unterwerfen, um ja keine innerparteiliche Konkurrenz zu bekommen. Aber auf diesem Feld fühlen sie sich alle bombensicher und ignorieren den Präsidenten vollständig. Geld für neue Kampfjets ist auf der Prioritätenliste offensichtlich wesentlich höher als die Rettung der Demokratie. Aber warum? Sind es nur die Wahlspenden der Rüstungsindustrie? Wo kommt das her? Es ist mir unbegreiflich.
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