Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Trumps Fehler rächen sich erst jetzt
Doch im Angesicht der Armut und dem Leid der Bevölkerung verweisen die iranischen Hardliner vor allem auf die USA als Verantwortlichen. Diese Strategie zeigte in den vergangenen Jahren immer größeren Erfolg, was vor allem mit Donald Trump zusammenhängt. Der ehemalige US-Präsident begegnete der iranischen Führung vor allem mit Härte. Er inszenierte groß den US-Austritt aus dem Atomabkommen mit dem Iran, feierte sich für die Tötung des Generals Qassem Soleimani. Der iranische Militärstratege war der Kopf hinter vielen Anschlägen und Angriffen, die den Westen aus dem Nahen und Mittleren Osten drängen sollten. Im Iran aber war er sehr beliebt, nach seiner Tötung durch eine US-Drohne im Irak kamen in Teheran Hunderttausende zu einem Trauermarsch zu seinen Ehren. Unter Trump wurden nicht nur die Sanktionen gegen den Iran verschärft, sondern die USA begannen einen Wirtschaftskrieg, um die Diktatur vom internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem abzuschneiden. Darunter leidet vor allem die iranische Bevölkerung und es war nicht schwer für das Regime, ihr westliches Feindbild zu propagieren. (Patrick Dieckmann, T-Online)
Ich bin ein Gegner der Trump'schen Iranpolitik. Ich halte das Kündigen der entsprechenden Abmachungen des Atomdeals für fatal, weil es die Glaubwürdigkeit der USA massiv beschädigte (anders als angeblich fehlende Härte und/oder Länge von Militärschlägen, die die amerikanischen Falken immer mit Verweis auf die "Glaubwürdigkeit" einfordern). Aber was mir in diesem Artikel fehlt ist der blick auf die Handlungsfähigkeit (agency) des Iran selbst. Es wird suggeriert, als habe der Iran überhaupt keine eigene Gestaltungsmacht und reagiere quasi nach Naturgesetzen oder rein emotional. Die Verhängung von Sanktionen hat das Regime in Teheran genauso zu einem Teil unter seiner Kontrolle wie der Autokrat im Kreml die gegen Russland. Die Sanktionen sind ja keine Konstante, sie existieren wegen spezifischen Verhaltens und sind daran gekoppelt. Das Problem von Trumps Politik war ja gerade, diesen kausalen Zusammenhang aufzulösen und die Sanktionen einfach "just because" zu verhängen (wie auch gegen Kuba, nebenbei bemerkt).
Aber man muss sich eben klar machen, dass das Regime in Teheran eine bewusste Entscheidung trifft, wenn es die Bevölkerung unter Sanktionen leiden lässt, wenn es die doch beschränkten Ressourcen Irans in den Aufbau militärischer Kapazitäten und die Unterstützung von Terrororganisationen steckt, wenn es versucht, Nuklearwaffen in die Hände zu bekommen. Und natürlich auch, wenn es entsprechend eskaliert. Klar was Soleimani beliebt im Iran, aber der Kerl wurde ja nicht auf der Promenade von Teheran getötet, sondern bei der Durchführung von Terroraktionen in einer anderen Nation. Das sollte man nicht unter den Teppich kehren.
2) Scheiternder Dialog der Gerichte: Wie die europäische Rechtsgemeinschaft zu erodieren droht
Was aber lässt sich dagegen tun? Für die Freunde des Verfassungspluralismus gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit: noch mehr miteinander zu reden. Der Madrider Europarechtsprofessor Daniel Sarmiento etwa forderte zuletzt auf seinem Blog, der EuGH müsse künftig etwas mehr „Empathie“ zeigen, um durch „bedachte und wohlüberlegte Urteile“ die nationalen Gerichte besser zu „überzeugen“. Vielleicht aber müssen wir uns auch zugestehen, dass dieses Modell einfach nicht dauerhaft funktionieren kann. Es stimmt schon, die Idee eines offenen Verbunds, in dem eine Gruppe verantwortungsvoller Gerichte partnerschaftlich und ohne Hierarchien einen gemeinsamen europäischen Verfassungsdiskurs entwickelt, hat etwas Sympathisches an sich. Aber letztlich ist sie auch eine Schönwetter-Konstruktion, die wenig Schutz bietet, wenn die Winde des Zeitgeists wieder in Richtung Nationalsouveränismus wehen. Die Vorbehalte des deutschen Bundesverfassungsgerichts mögen in den 1970er Jahren sinnvoll gewesen sein, solange es noch keinen wirksamen europäischen Grundrechteschutz gab. Heute dienen sie immer mehr allein dem eigenen institutionellen Machterhalt und bedrohen den Zusammenhalt in der EU. Sobald wir europäischen Bürger das nächste Mal die Gelegenheit haben, durch einen Konvent die europäische Verfassungsordnung zu gestalten, sollten wir deshalb für Klarheit sorgen: Europarecht bricht nationales Recht, ohne Wenn und Aber. Wenn die europäische Rechtsgemeinschaft eine Zukunft haben soll, dann können wir sie nicht mit 28 nationalen Vorbehalten versehen. Zum Schutz der Werte, die uns wichtig sind – Menschenwürde, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit –, ist der EuGH kein bisschen schlechter geeignet als die nationalen Verfassungsgerichte. Wir sollten ihm deshalb als letztentscheidender Instanz unser Vertrauen schenken. (Manuel Müller, Europäischer Föderalist)
Müllers Artikel legt anschaulich dar, wie die Gefährdung des europäischen Rechtsstaats nicht nur von Ungarn und Polen, sondern auch von Deutschland ausgeht - vor allem von Karlsruhe und seinem Allmachtsanspruch. Das ist hier in der Bundesrepublik Gesetz - die Rechtsprechung des BVerfG für das Grundgesetz ist endgültig. Aber dasselbe gilt natürlich erstmal für die obersten Gerichtshöfe von Warschau und Budapest auch, die wir aus guten Gründen für ihre Urteile kritisieren. Müller thematisiert im obigen Absatz gut das grundlegende Dilemma: eine Parallelexistenz oberster Gerichte, die beide letztgültige Instanz sein wollen, kann auf Dauer nicht funktionieren, und wir sind langsam an dem Punkt, wo das Beharren Karlsruhes auf seiner durchaus eigenwilligen (obgleich in sich stimmigen) Auslegung des Grundgesetzes unbeabsichtigt den Bruch der EU nach sich ziehen könnte.
Ich wüsste aber nicht, wie sich dieser Konflikt auflösen lässt, und das ist das Deprimierende. Es ist schließlich völlig unrealistisch, dass der große Kompromiss, der das Problem für alle 27 EU-Staaten löst und dann durch Plebiszite in den Mitgliedsstaaten angenommen wird, auch nur auf europäischer Ebene diskutiert wird, geschweige denn, dass so eine Anstrengung ernsthaft unternommen und dann zum Erfolg führen würde. Viel eher wird sich der aktuelle Zustand weiterschleppen, und beide Seiten werden darauf hoffen, dass die jeweils andere in den entscheidenden Punkten nachgibt. Aber das kann nicht ewig so weitergehen gehen. Das aktuell laufende Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland wegen des letzten BVerfG-Urteils ist letztlich nur ein Symptom dieser Krise.
3) Freundschaft muss Maxime werden
Wer Russland den Kampf ansagt, ist selbstverständlich nicht an Entspannung oder gar einem »Gemeinsamen Haus Europa« interessiert. Es werden im Gegenteil propagandistisch neue Feindbilder geschürt, um einen Waffengang gegen Russland vorzubereiten. Sicher, noch ist es nicht so weit. In der Diskussionsendung »Kontrovers« im Deutschlandfunk sprach der Grüne Manuel Sarrazin davon, ein Krieg gegen Russland sei »unrealistisch«. Einen Angriff auf Russland als unrealistisch zu bezeichnen, zeugt sicher nicht von überzeugter Kriegsgegnerschaft. Zugleich wird die Präsenz deutscher Truppen im Rahmen der Nato an der russischen Westgrenze im Baltikum verstetigt und mit »Defender 2021« die schnelle Verlegung nach Osten geübt. Auch US-Atombomber sind am Manöver beteiligt. Säbelrasseln, Konfrontationsgeschrei und Kriegsgeheul prägen die deutsche Öffentlichkeit zunehmend. Jeder, der widerspricht, wird als Kreml-Marionette abgestempelt. Das darf getrost als Teil einer moralischen Mobilmachung und Kriegsvorbereitung gewertet werden. [...] Weit weist man den Vorwurf des Russland-Hasses von sich, aber doppelte Standards beim Umgang etwa mit den Massenmördern der USA, ihren Präsidenten Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden, die Tausende Menschen per Tötungsbefehl in den vergangenen Jahren weltweit ermorden ließen, fallen ins Auge. [...] Es kann nur eine Lehre aus dieser furchtbaren Barbarei geben: Freundschaft mit Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken muss Maxime deutscher Politik werden. (Sevim Dagdalen, Neues Deutschland)
Wenn ich solche Artikel von einflussreichen Politiker*innen bei der LINKEn lese, kann ich über die Vorstellung, die Grünen und die SPD würden im Bund R2G angehen, nur lachen. Eine Partei mit dieser Position kann in der Bundesrepublik nicht in Regierungsverantwortung kommen, das ist quasi ausgeschlossen. Wie wollen Grüne und SPD eine Koalition mit jemand eingehen und deutsche Außenpolitik betreiben, der der Überzeugung ist, dass die Grünen (!) einen Krieg gegen Russland in Betracht ziehen würden (!!) und dass dieser durch die aktuelle Bundesregierung im Verbund mit den USA aktiv vorbereitet (!!!) werde? Wie will man jemand die entscheidende Stimmgewalt über die deutsche Außenpolitik geben, der "Freundschaft" mit Russland fordert und die letzten amerikanischen Präsidenten als "Massenmörder" verunglimpft? Dagdalens Position ist in der LINKEn keine Außenseiterposition, die steht damit im Mainstream der Partei. Nein, Teile der Basis der Parteien mögen von R2G träumen. Aber niemand auf der Funktionärsebene wird bereit sein, dieses Risiko einzugehen, solange das die Plattform der LINKEn ist.
Sie wissen, dass das mit der Parteiferne in Rundfunkgremien von draußen oft anders gesehen wird.
Aber es ist so. Die lassen sich im Fernsehrat doch nicht von schwarzen oder roten Staatskanzleien Kandidaten reinmauscheln. Ich führe da vorher auch keine Gespräche mit den Beteiligten, um bereits etwas anzubieten. Und noch mal, ich hätte es wirklich seltsam gefunden, wenn es überhaupt keinen Gegenkandidaten, keine Gegenkandidatin gegeben hätte. [...]Eine Sache, die Ihnen immer wieder nachgetragen wird: 2018 hatten Sie sich parteiisch pro Grüne geäußert. Begleitend zu ihrer Berichterstattung hatten Sie über die „frische grüne Doppelspitze“ getwittert und die damit verbundene „Aufbruchsstimmung“ gelobt.
Dass ein Tweet aus 2018 immer noch hoch gebracht wird, zeigt doch, dass danach anscheinend nicht viel zu finden ist. Auf so einem Parteitag ist eine besondere Atmosphäre, da lässt man sich mal hinreißen. Ich breche mir aber überhaupt keinen Zacken aus der Krone, wenn ich sage, ich würde diesen Tweet ganz bestimmt nicht noch mal so absetzen. Ich habe danach eine ganz klare Twitter-Etikette fürs ganze Hauptstadtstudio eingeführt.Wissen Sie, wieviel Follower Sie haben?
Irgendwas über 50 000.Darunter Kevin Kühnert.
Und viele viele andere. Herr Maaßen folgt mir auch. Sie suchen sich ihre Follower ja nicht aus. (Markus Ehrenberg, Tagesspiegel)
Das ist also der große Skandal der Tina Hassel? Ein Tweet aus dem Jahr 2018? Und dazu der erbärmliche Versuch, ihr Kevin Kühnert anzuhängen. Die Argumente der "die ÖR sind alle grün gefärbt"-Crowd sind so offensichtlich in bad faith, das ist ja kaum zu ertragen. Das Einzige, was die Geschichte mit diesem Tweet zeigt, ist der professionelle Standard der ÖR: kam einmal im Überschwang vor, war ein Fehler, wir haben es seither korrigiert. Die Springerpresse fährt in der Zwischenzeit eine Kampagne nach der anderen, aber das stört natürlich niemand.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung setzte Scheuer in seinem Terminkalender jedenfalls klare Prioritäten. Seit Amtsantritt im März 2018 durfte die Autoindustrie bei 80 Treffen direkt beim Minister vorsprechen. Umweltverbände konnten davon nur träumen. Die größten Organisationen BUND, Nabu, Greenpeace, WWF und Deutsche Umwelthilfe kamen zusammen nur auf ein einziges Gespräch. [...] Das passe zum Kampf des Ministers gegen härtere Klimaschutzvorgaben für die Autoindustrie. Das Ministerium hält dagegen. [...] Doch auch Umweltgruppen sind empört. "Wir haben den Minister mehrfach um Gespräche gebeten, bekamen aber keine Reaktion", sagt Jens Hilgenberg, Leiter Verkehrspolitik beim BUND. Es sei bedauerlich, dass der Verkehrsminister Gespräche in einer entscheidenden Phase für den Klimaschutz und den Umbau des Mobilitätssektors so einseitig führe. An Gespräche mit Scheuer bei der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität kann sich beim BUND niemand erinnern. Scheuer habe sich äußerst rargemacht, sagt Hilgenberg. "In der Arbeitsgruppe Klimaschutz im Verkehr war der Minister kein einziges Mal anwesend." (Markus Balser, Süddeutsche Zeitung)
Es gibt niemand im Kabinett Merkel IV der auch nur annähernd so inkompetent und schädlich ist wie Andreas Scheuer. Der Mann ist quasi das lebende Gegenargument zu Proporzregeln, der Beweis, dass mit der Größe des Versagens die eigene Immunität wächst. Über die letzten vier Jahre hat der Mann Milliarden verschleudert, und wenn es gerecht zugehen würde in der Welt wäre er Mittelpunkt riesiger Skandale gewesen und längst zum Rücktritt gezwungen. Aber Minister*innen treten in Deutschland ja irgendwie nur zurück, wenn sie ihre Doktorarbeiten plagiieren.
Neben all den Fuckups, die Scheuer als Verkehrsminister bisher zu verantworten hat, ist seine generelle Ausrichtung eine Katastrophe. Die Fixierung auf Autos und das aktive Behindern anderer Verkehrsmittel, vor allem der Bahn, sind geradezu pathologisch. Glücklicherweise wurden die meisten aktuellen Bahn-Projekte noch vor seiner Ägide angestoßen und laufen einfach nebenher weiter (Stichwort Deutschland-Takt). Am schlimmsten aber ist, dass der Kerl gute Chancen hat, in der Regierung Laschet auch wieder vertreten zu sein. Das allerdings würde gut ins Bild passen.
6) There’s a Primal Reason for Our Collective Culture War Madness
The flip side of this is that all of us, both those at the top and those at the bottom, feel continual stress if the hierarchy is constantly changing and we're unsure of our status and how we're expected to act. This has been the case for the past 50 years, and over time it has driven both liberals and conservatives into a sort of stress-driven madness. This is why it often seems like things are getting worse even though they're actually getting better. That's what continual stress does. None of this means we should stop our efforts to gain racial, ethnic, gender, and sexual equality. We need to do it regardless of the cost. Still, we don't have a bunch of separate "culture war issues" that one side or the other locks onto now and again. It's all one thing and it's been a 50-year war so far. And in a country like ours, which is even more dedicated to hierarchies than most of our peers, 50 years of this stuff is enough to drive us all into low-grade hysteria. This is a generational issue, and it won't fully go away until (a) we get close to equality and (b) the last generation that's been scarred by hierarchy changes finally dies off. At best, that's probably 20 years for the former and 30 or 40 for the latter. In other words, hierarchy-induced madness will continue to consume us for another half century or so. This was all well understood and discussed routinely a few decades ago. Today it isn't, either because it feels like 2+2=4 or because we've collectively decided to pretend that other forces are at work. And other forces are at work! Still, at the very deepest level, it's our primate minds that have driven us into a fever of resentment and constant tension. And it ain't over yet. (Kevin Drum, Jabberwocky)
In diese Richtung habe ich ja konsistent ebenfalls argumentiert. Das Hinterfragen bestehender Hierarchien und Privilegien hat schon immer zu Konflikten geführt. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall, als "hinter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" ausgelüftet wurde, und das ist heuer der Fall, wo die Vorrangstellung bestimmter Gruppen herausgefordert wird. Dieser Prozess wird noch eine Weile dauern, da bin ich ganz bei Drum. Er wird mit einem neuen Status Quo enden. Und im Rückblick wird der Widerstand gegen den Wandel genauso verquert aussehen wie aus heutiger Perspektive der Widerstand gegen den gesellschaftlichen Wandel der 1960er Jahre.
Die politischen Angriffe auf Die Grünen und ihre Kandidatin wiederum waren absolut vorhersehbar und sind auch frei jeglicher Originalität. Umso beschämender, dass die Kampagne genau hierfür keine überzeugenden Abwehrmechanismen erarbeitet (und getestet) hatte. Und auch, dass man die Kandidatin offenbar nicht davor bewahren konnte, sich selbst immer neue Stolperfallen zu stellen. Die Wucht, mit der Baerbock in den Umfragen nach unten stürzte und im Juni im ZDF sogar auf dem letzten Platz hinter Wagenknecht, Lindner, Spahn notiert, spricht Bände. Sie war zwar nie ein wirkliches Zugpferd, aber jetzt wird sie zur Belastung. Im Lager der Grünen hofft man jetzt auf den Wetterbericht. Aber diese Kandidatur ist am Ende – und kann nur noch durch ein Wunder gerettet werden. [...] Die Union ist der eigentliche Bremsklotz Deutschlands auf dem Weg in die Zukunft. Herrschte wirklich Wechselwille im Land, dann müsste man als erstes die Union in die Opposition schicken. Die Union bremst auf allen wichtigen Politikfeldern und wirkt auf Bundesebene auch noch mit einer Ministerriege, die jede Pannenstatistik anführt. Von Scheuer zu Spahn, von Seehofer zu Kramp-Karrenbauer, von Klöckner zu Karliczek und Altmaier. Die bekommen alle durch die Bank weg nichts auf die Reihe, bremsen aber, wo sie können, alle zwingend notwendigen Transformationsprozesse in Wirtschaft, Sozialem, Umwelt, Bildung, Tierschutz … you name it, they failed it. Aber die Union ist trotz sinkender Anteile der unbestrittene Marktführer auf dem bundesdeutschen Parteienmarkt. Sie lebt von einer alles in allem doch recht treuen und dadurch am Ende auch stabilen Wählerklientel. Die Union muss sich sehr, sehr anstrengen, um in Deutschland eine Bundestagswahl zu verlieren – und die anderen müssen sich sehr, sehr anstrengen, um sie zu gewinnen. [...] Der einzige, der Laschet noch gefährlich werden kann, ist Olaf Scholz. Ja, jener Olaf Scholz, den alle schon wieder einmal fröhlich ab- oder in Grund- und Boden geschrieben haben. Seinem Standing in der Bevölkerung hat das nicht wirklich geschadet. Er bleibt weiter im oberen Drittel der Beliebtheitsskalen und führt bei einigen Instituten auch in der Kanzlerfrage. Nicht weltbewegend weit, aber immerhin. Scholz hat kein Kompetenzproblem, das hat dafür seine Partei. Die Werte bezüglich der Zukunftskompetenz der SPD sind durch die Bank weg niederschmetternd. (Frank Stauss)
Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Idee eines Kanzler Scholz. Klar, das kann sich noch als eine Art Ninja-Kandidatur herausstellen, aber das wäre mehr als merkwürdig. Anders als Baerbock und Laschet ist Scholz als Kanzlerkandidat nie ernsthaft durchleuchtet worden, was natürlich ein Vorteil für ihn ist, es aber demokratie-legitimatorisch nicht ganz unproblematisch.
Ich bin aber völlig bei Stauss, wo es um den "Marktführer am Parteienmarkt" geht. Die CDU ist Regierungspartei by default; sie regiert immer, wenn sie nicht aktiv davon abgehalten wird. Und da die Grünen offensichtlich nicht darauf brennen, sie abzulösen - siehe der völlig unterirdische Wahlkampf - sieht es derzeit gut aus für Laschet. Wie übrigens yours truly bereits im Frühjahr prophezeit hat.
8) Wer Rassismus nicht bei sich erkennt, kann ihn nicht aufklären
Die Minimalqualifikation, um rechtsextreme Umtriebe in der Polizei aufzuklären, ist nicht, kein Rechtsextremist zu sein. Sie ist, das Thema ernst zu nehmen und zu verstehen. Zu wissen, dass rechte Gewalt nicht erst bei einer geladenen Waffe anfängt oder einem Hakenkreuz an der Hauswand oder einem Stein im Schaufenster. Rassistische Haltungen unter Polizistinnen und Polizisten haben für die Betroffenen schwerwiegendere Konsequenzen, was sich etwa beim Beispiel von Racial Profiling zeigt, wenn Personen aufgrund ihres Aussehens in Personenkontrollen geraten oder in bestimmte Milieus eingeordnet werden, nur weil sie den falschen Nachnamen haben. Die meisten Menschen haben rassistisches Denken verinnerlicht, das lässt sich so einfach nicht ablegen. Es gibt Debatten über Begriffe wie den der Rasse im Grundgesetz. Es wäre zu wünschen, wir wären weiter. Doch nicht alle sind in diesem Prozess gleich schnell. So ist das eben mit Lernprozessen. Aber der Begriff, den der Polizeipräsident verwendet hat, über den müssen wir seit Jahrzehnten nicht mehr diskutieren, weil er indiskutabel ist. Es geht nicht um sprachliche Spitzfindigkeiten wie den Unterschied zwischen "sich entschuldigen" und "um Entschuldigung bitten". Wie soll jemand, der das bis heute nicht verinnerlicht hat, das Problem bei anderen erkennen? Laut einer Mitteilung des Innenministeriums seien die allermeisten Nachrichten in diesen Chatgruppen nicht strafrechtlich relevant gewesen. Das ist aber nur ein Teil der Aufarbeitung. Was ist mit denen, die vielleicht keine verfassungsfeindlichen Symbole, antisemitischen Witzchen oder diskriminierenden Beleidigungen enthalten, aber dennoch eine problematische Haltung erkennen lassen? Werden solche Nachrichten überhaupt als solche identifiziert, oder muss man befürchten, dass Rassismus da einfach übersehen wird? (Christian Vooren, ZEIT)
Die Ausrede mit den Einzelfällen zieht inzwischen einfach nicht mehr. Es gibt ein Haltungsproblem in der Truppe, um von der Leyen zu zitieren. Das Problem ist vermutlich nicht einmal, dass der Großteil der Polizist*innen rechte Einstellungen hegte, das Problem ist der mangelnde Widerspruch aus den eigenen Reihen bei denen, die ihn haben. Was dahinter steckt - Wahrnehmung als Humor, Einschüchterung, falsch verstandender Korpsgeist, Angst um die Karriere, von allem ein bisschen - ist nicht völlig klar. Aber solange es implizit als normal oder zumindest akzeptabel verstanden wird, rassistische und rechtsradikale Äußerungen zu tätigen, wird dieses Problem nicht verschwinden.
9) The World According to Germany: Reassessing 1989
But the events of 1989 did little to strengthen public belief in the usefulness of deterrence and defense. They rather reinforced the belief in the imperative and indeed inevitability of further integration. Having been burnt by the use of raw power, Germany longed instead for a world that would move on from what Australian thinker Hedley Bull famously called “the anarchical society” of international relations. Instead, the community of nations should be governed as much by rules and international law as possible. From the community of law enshrined in the European Union and the Council of Europe to its support for the United Nations or innumerable trade agreements and international conventions, Germany pushed for codification of rules and for multilateral solutions. Militarily weak, instinctively pacifist after two world wars, Germany was more dependent and invested in a rules-based international order where its soft power carried substantial weight. Perhaps the most striking example of the ambition and optimism that the world would indeed move toward a “Weltinnenpolitik”—an international system with highly constrained exercise of the use of force and a legitimate authority to arbitrate—was the establishment of the International Criminal Court 20 years ago. Looking back, even more than 1989, 1998 may mark the furthest advance of international law and the low-water mark for the arrogance of power in the international system. The assumption was that the trend would continue: transnational challenges such as climate change so obviously required transnational solutions that an ever more integrated policy approach seemed almost inevitable. Almost. When talking about Europe in the early 1990’s, it was commonplace across the political and bureaucratic spectrum to use the phrase “the irreversible process of European integration”— again confounding normative preferences and analytical truth. There simply seemed to be no difference between the two in those halcyon days. Europe was the global avant-garde—and Germany, having thoroughly digested its historical and geographical lessons—thought of itself as the avant-garde within the European Union. The Economic and Monetary Union of the EU and the introduction of the Euro were only logical if you believed in this linear reading of the future. (Thomas Bagger, Atlantikbrücke)
Ich empfehle den länglichen Essay zu seiner Gänze, ich habe hier nur einen kleinen Ausschnitt zitiert, wel ich den Gedanken zur "rules based order" spannend finde. Diese deutsche Obsession sehen wir ja auch sehr gut in der Eurokrise, um nur ein Beispiel zu nennen, wo zwar der ganze Laden zusammenbrechen kann, aber Hauptsache die Regeln wurden eingehalten. Das Problem der deutschen Haltung läuft in zwei Richtungen.
Einerseits ist es durchaus möglich, dass die Regeln einfach schlecht gestaltet und nicht in der Lage sind, mit der jeweiligen Herausforderung umzugehen. Die Maastricht-Regeln und die Schuldenbremse sind solche Regeln. Andererseits aber hat Deutschland kein Konzept dafür, mit Regelbrüchen umzugehen. Das gilt innerhalb der EU, wenn wir etwa auf das Verhalten Polens oder Ungarns schauen, und das gilt für die Außenpolitik weltweit, wenn etwa China oder Russland gegen das internationale Regelwerk verstoßen.
10) Mit der Union durchs Elfenland
Was aber ist der Grund dafür, dass die Union zu einer so traumseligen Partei geworden ist? Das hängt mit ihrer größten Illusion zusammen. Und die heißt Normalität, mit Blick auf das Gemüt ihres Kanzlerkandidaten könnte man auch sagen, es liegt am rheinischen Normalismus. Zwar spricht die Union mittlerweile auch von einem Epochenwechsel und von Entfesselung, meint dabei aber immer mit: Alle Veränderung wird passieren, ohne dass du, der Wähler, sich ändern muss. Und das kann man eben nur noch behaupten, wenn weite Teile der Wirklichkeit ausgeblendet werden, wie etwa Klimakrisen, Chinesen oder der Bundeshaushalt. Wohlmeinende Traumdeuter weisen darauf hin, dass auch Angela Merkel stets ohne allzu konkrete Wahlprogramme ausgekommen sei und nach den Wahlen dann doch erfolgreich Politik gemacht habe. Doch auch da wird zu viel hineingeträumt, schließlich ist die Methode Merkel schon lange an ihr Ende gekommen. Die Krisen, auf die sie das Land nicht vorbereitet hatte, fingen an, sogar Merkel zu überfordern. Kein Programm ist also kein Erfolgsrezept mehr, die Probleme sind so groß geworden, dass man sich für ihre Lösung bei den Wählerinnen denn doch ein bisschen Legitimation holen muss – sonst gibt es ein böses Erwachen. Aber sind die Wählerinnen und Wähler tatsächlich so gestimmt, wollen sie von Veränderung nichts wissen, beharren sie auf einer Normalität, die es nicht mehr geben kann? Schwer zu sagen, wie da die Mehrheiten liegen. Fest steht jedenfalls, dass die Union realitätsflüchtige Stimmungen nirgendwo konterkariert, sondern sie bestätigt, sie träumt den Leuten was vor. (Bernd Ulrich, ZEIT)
Die Existenz der CDU als natürliche Regierungspartei, die wir in Fundstück 7 besprochen haben, findet hier ihr merkwürdiges Zerrbild. Denn die CDU hat praktisch keine Ideen, wie den Herausforderungen der Zukunft begegnet werden sollte. Ich glaube ehrlich gesagt, dass darin kein Widerspruch dazu liegt, dass eine Pluralität der Deutschen ihr die Zustimmung gibt, sondern sogar ein Grundbaustein ihrer Attraktivität. Anders als FDP oder Grüne etwa muss man sich von der CDU nicht bedroht fühlen. Sie wird den Status Quo nicht erschüttern. Dagegen wollen FDP und Grüne den Status Quo definitiv erschüttern (wie übrigens unter anderen, eher nach hinten gerichteten Vorzeichen die LINKE und AfD). Die CDU verkauft die irrige Hoffnung, man könne genauso weiter machen wie bisher, niemand müsse sich ändern oder Opfer bringen.
11) Der Weg ist das Ziel. Deutsche Erinnerungspolitik und ihre Widersprüche
Dies war bereits in den 1980er Jahren keine auf die Bundesrepublik reduzierte Debatte. Als besonders bedrohlich erschien den höheren Beamten der Ministerialbürokratie, auch vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, die erfolgreiche Einbettung der Holocaust-Erinnerung in das amerikanische Selbstverständnis, wie es beispielsweise das seit 1978 geplante und 1993 eröffnete United States Holocaust Memorial Museum in Washington zeigte. (West-)deutsche Beamte und Diplomaten stellten sich vehement gegen dieses Museum, das sie als Reduzierung der deutschen Geschichte auf das „Dritte Reich“ und den Holocaust auffassten – und glaubten, darin eine Bedrohung für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland sowie die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu erkennen. In diesem und ähnlichen Kontexten sahen sich die Bundesrepublik und ihre Repräsentanten als Opfer der international wachsenden Konfrontation mit dem Holocaust. Und es war nicht unüblich, dass man in Regierungs- oder Diplomatenkreisen, durchaus auch unter Verwendung antisemitischer Klischees, amerikanischen Jüdinnen und Juden unterstellte, sie würden den Holocaust zu Lasten der Bundesrepublik instrumentalisieren, um sich politische oder finanzielle Vorteile zu verschaffen. Deutsche Versuche, direkt in das amerikanische Holocaust-Gedenken oder die Debatten über den Holocaust in den USA einzugreifen, waren allerdings zum Scheitern verurteilt. Stattdessen mussten deutsche Regierungsvertreter lernen, dass es hier gar nicht um Deutschland ging, sondern um die Anerkennung einer Leidensgeschichte in einem Zusammenhang, in welchem die Befindlichkeiten und Interessen deutscher Diplomaten oder Politiker, aber auch die deutsche Vergangenheitsbewältigung insgesamt, schlicht irrelevant waren. Diese Erfahrungen trugen entscheidend dazu bei, dass sich die deutsche Erinnerungspolitik weiterentwickelte. (Jacob Eder, Geschichte der Gegenwart)
Ich finde die Geschichte der deutschen Verganhenheitsbewältigung immer wieder spannend, weil wir gerne die Fiktion pflegen, die Deutschen hätten sich schon immer auf dem Stand ungefähr der 2000er Jahre mit dem Holocaust auseinandergesetzt. Aber diese Entwicklung ist vergleichsweise neu, und ich wage die These, dass sie letztlich den Tod der betroffenen Generation erfordert hat (wie das beim historischen Gedächtnis immer der Fall ist; wenn die Betroffenen verstorben sind, lässt es sich wesentlich freier diskutieren, gerät aus dem Bereich der Erinnerung in den Bereich der Geschichte).
Der Vorwurf, die Juden und Jüdinnen würden über die Vergangenheitsbewältigungspolitik gezielt eine politische Agenda verfolgen, die losgelöst davon betrachtet werden kann, ist so alt wie die Bundesrepublik selbst. Da fließen dann auch ständig sachfremde ideologische Elemente ein, von konservativem Anti-Amerikanismus (wie im Kohl-Beispiel oben) bis hin zu reflexhafter Israel-Feindlichkeit bei den Linken (wie sie periodisch in die öffentliche Debatte fließt). Oft liegen die Wurzeln dieser Ressentiments im Kalten Krieg oder davor und haben wenig mit heutigen Problemen und Debatten zu tun.