Dienstag, 29. Juni 2021

Iranische Regelbrecher scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof mit einer Anklage gegen Andreas Scheuer - Vermischtes 29.06.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Trumps Fehler rächen sich erst jetzt

Doch im Angesicht der Armut und dem Leid der Bevölkerung verweisen die iranischen Hardliner vor allem auf die USA als Verantwortlichen. Diese Strategie zeigte in den vergangenen Jahren immer größeren Erfolg, was vor allem mit Donald Trump zusammenhängt. Der ehemalige US-Präsident begegnete der iranischen Führung vor allem mit Härte. Er inszenierte groß den US-Austritt aus dem Atomabkommen mit dem Iran, feierte sich für die Tötung des Generals Qassem Soleimani. Der iranische Militärstratege war der Kopf hinter vielen Anschlägen und Angriffen, die den Westen aus dem Nahen und Mittleren Osten drängen sollten. Im Iran aber war er sehr beliebt, nach seiner Tötung durch eine US-Drohne im Irak kamen in Teheran Hunderttausende zu einem Trauermarsch zu seinen Ehren. Unter Trump wurden nicht nur die Sanktionen gegen den Iran verschärft, sondern die USA begannen einen Wirtschaftskrieg, um die Diktatur vom internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem abzuschneiden. Darunter leidet vor allem die iranische Bevölkerung und es war nicht schwer für das Regime, ihr westliches Feindbild zu propagieren. (Patrick Dieckmann, T-Online)

Ich bin ein Gegner der Trump'schen Iranpolitik. Ich halte das Kündigen der entsprechenden Abmachungen des Atomdeals für fatal, weil es die Glaubwürdigkeit der USA massiv beschädigte (anders als angeblich fehlende Härte und/oder Länge von Militärschlägen, die die amerikanischen Falken immer mit Verweis auf die "Glaubwürdigkeit" einfordern). Aber was mir in diesem Artikel fehlt ist der blick auf die Handlungsfähigkeit (agency) des Iran selbst. Es wird suggeriert, als habe der Iran überhaupt keine eigene Gestaltungsmacht und reagiere quasi nach Naturgesetzen oder rein emotional. Die Verhängung von Sanktionen hat das Regime in Teheran genauso zu einem Teil unter seiner Kontrolle wie der Autokrat im Kreml die gegen Russland. Die Sanktionen sind ja keine Konstante, sie existieren wegen spezifischen Verhaltens und sind daran gekoppelt. Das Problem von Trumps Politik war ja gerade, diesen kausalen Zusammenhang aufzulösen und die Sanktionen einfach "just because" zu verhängen (wie auch gegen Kuba, nebenbei bemerkt).

Aber man muss sich eben klar machen, dass das Regime in Teheran eine bewusste Entscheidung trifft, wenn es die Bevölkerung unter Sanktionen leiden lässt, wenn es die doch beschränkten Ressourcen Irans in den Aufbau militärischer Kapazitäten und die Unterstützung von Terrororganisationen steckt, wenn es versucht, Nuklearwaffen in die Hände zu bekommen. Und natürlich auch, wenn es entsprechend eskaliert. Klar was Soleimani beliebt im Iran, aber der Kerl wurde ja nicht auf der Promenade von Teheran getötet, sondern bei der Durchführung von Terroraktionen in einer anderen Nation. Das sollte man nicht unter den Teppich kehren.

2) Scheiternder Dialog der Gerichte: Wie die europäische Rechtsgemeinschaft zu erodieren droht

Was aber lässt sich dagegen tun? Für die Freunde des Verfassungspluralismus gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit: noch mehr miteinander zu reden. Der Madrider Europarechtsprofessor Daniel Sarmiento etwa forderte zuletzt auf seinem Blog, der EuGH müsse künftig etwas mehr „Empathie“ zeigen, um durch „bedachte und wohlüberlegte Urteile“ die nationalen Gerichte besser zu „überzeugen“. Vielleicht aber müssen wir uns auch zugestehen, dass dieses Modell einfach nicht dauerhaft funktionieren kann. Es stimmt schon, die Idee eines offenen Verbunds, in dem eine Gruppe verantwortungsvoller Gerichte partnerschaftlich und ohne Hierarchien einen gemeinsamen europäischen Verfassungsdiskurs entwickelt, hat etwas Sympathisches an sich. Aber letztlich ist sie auch eine Schönwetter-Konstruktion, die wenig Schutz bietet, wenn die Winde des Zeitgeists wieder in Richtung Nationalsouveränismus wehen. Die Vorbehalte des deutschen Bundesverfassungsgerichts mögen in den 1970er Jahren sinnvoll gewesen sein, solange es noch keinen wirksamen europäischen Grundrechteschutz gab. Heute dienen sie immer mehr allein dem eigenen institutionellen Machterhalt und bedrohen den Zusammenhalt in der EU.  Sobald wir europäischen Bürger das nächste Mal die Gelegenheit haben, durch einen Konvent die europäische Verfassungsordnung zu gestalten, sollten wir deshalb für Klarheit sorgen: Europarecht bricht nationales Recht, ohne Wenn und Aber. Wenn die europäische Rechtsgemeinschaft eine Zukunft haben soll, dann können wir sie nicht mit 28 nationalen Vorbehalten versehen. Zum Schutz der Werte, die uns wichtig sind – Menschenwürde, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit –, ist der EuGH kein bisschen schlechter geeignet als die nationalen Verfassungsgerichte. Wir sollten ihm deshalb als letztentscheidender Instanz unser Vertrauen schenken. (Manuel Müller, Europäischer Föderalist)

Müllers Artikel legt anschaulich dar, wie die Gefährdung des europäischen Rechtsstaats nicht nur von Ungarn und Polen, sondern auch von Deutschland ausgeht - vor allem von Karlsruhe und seinem Allmachtsanspruch. Das ist hier in der Bundesrepublik Gesetz - die Rechtsprechung des BVerfG für das Grundgesetz ist endgültig. Aber dasselbe gilt natürlich erstmal für die obersten Gerichtshöfe von Warschau und Budapest auch, die wir aus guten Gründen für ihre Urteile kritisieren. Müller thematisiert im obigen Absatz gut das grundlegende Dilemma: eine Parallelexistenz oberster Gerichte, die beide letztgültige Instanz sein wollen, kann auf  Dauer nicht funktionieren, und wir sind langsam an dem Punkt, wo das Beharren Karlsruhes auf seiner durchaus eigenwilligen (obgleich in sich stimmigen) Auslegung des Grundgesetzes unbeabsichtigt den Bruch der EU nach sich ziehen könnte.

Ich wüsste aber nicht, wie sich dieser Konflikt auflösen lässt, und das ist das Deprimierende. Es ist schließlich völlig unrealistisch, dass der große Kompromiss, der das Problem für alle 27 EU-Staaten löst und dann durch Plebiszite in den Mitgliedsstaaten angenommen wird, auch nur auf europäischer Ebene diskutiert wird, geschweige denn, dass so eine Anstrengung ernsthaft unternommen und dann zum Erfolg führen würde. Viel eher wird sich der aktuelle Zustand weiterschleppen, und beide Seiten werden darauf hoffen, dass die jeweils andere in den entscheidenden Punkten nachgibt. Aber das kann nicht ewig so weitergehen gehen. Das aktuell laufende Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland wegen des letzten BVerfG-Urteils ist letztlich nur ein Symptom dieser Krise.

3) Freundschaft muss Maxime werden

Wer Russland den Kampf ansagt, ist selbstverständlich nicht an Entspannung oder gar einem »Gemeinsamen Haus Europa« interessiert. Es werden im Gegenteil propagandistisch neue Feindbilder geschürt, um einen Waffengang gegen Russland vorzubereiten. Sicher, noch ist es nicht so weit. In der Diskussionsendung »Kontrovers« im Deutschlandfunk sprach der Grüne Manuel Sarrazin davon, ein Krieg gegen Russland sei »unrealistisch«. Einen Angriff auf Russland als unrealistisch zu bezeichnen, zeugt sicher nicht von überzeugter Kriegsgegnerschaft. Zugleich wird die Präsenz deutscher Truppen im Rahmen der Nato an der russischen Westgrenze im Baltikum verstetigt und mit »Defender 2021« die schnelle Verlegung nach Osten geübt. Auch US-Atombomber sind am Manöver beteiligt. Säbelrasseln, Konfrontationsgeschrei und Kriegsgeheul prägen die deutsche Öffentlichkeit zunehmend. Jeder, der widerspricht, wird als Kreml-Marionette abgestempelt. Das darf getrost als Teil einer moralischen Mobilmachung und Kriegsvorbereitung gewertet werden. [...] Weit weist man den Vorwurf des Russland-Hasses von sich, aber doppelte Standards beim Umgang etwa mit den Massenmördern der USA, ihren Präsidenten Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden, die Tausende Menschen per Tötungsbefehl in den vergangenen Jahren weltweit ermorden ließen, fallen ins Auge. [...] Es kann nur eine Lehre aus dieser furchtbaren Barbarei geben: Freundschaft mit Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken muss Maxime deutscher Politik werden. (Sevim Dagdalen, Neues Deutschland)

Wenn ich solche Artikel von einflussreichen Politiker*innen bei der LINKEn lese, kann ich über die Vorstellung, die Grünen und die SPD würden im Bund R2G angehen, nur lachen. Eine Partei mit dieser Position kann in der Bundesrepublik nicht in Regierungsverantwortung kommen, das ist quasi ausgeschlossen. Wie wollen Grüne und SPD eine Koalition mit jemand eingehen und deutsche Außenpolitik betreiben, der der Überzeugung ist, dass die Grünen (!) einen Krieg gegen Russland in Betracht ziehen würden (!!) und dass dieser durch die aktuelle Bundesregierung im Verbund mit den USA aktiv vorbereitet (!!!) werde? Wie will man jemand die entscheidende Stimmgewalt über die deutsche Außenpolitik geben, der "Freundschaft" mit Russland fordert und die letzten amerikanischen Präsidenten als "Massenmörder" verunglimpft? Dagdalens Position ist in der LINKEn keine Außenseiterposition, die steht damit im Mainstream der Partei. Nein, Teile der Basis der Parteien mögen von R2G träumen. Aber niemand auf der Funktionärsebene wird bereit sein, dieses Risiko einzugehen, solange das die Plattform der LINKEn ist.

4) „Der Fernsehrat lässt sich von der Politik keine Kandidaten reinmauscheln“ (Interview mit Tina Hassel)

Sie wissen, dass das mit der Parteiferne in Rundfunkgremien von draußen oft anders gesehen wird.
Aber es ist so. Die lassen sich im Fernsehrat doch nicht von schwarzen oder roten Staatskanzleien Kandidaten reinmauscheln. Ich führe da vorher auch keine Gespräche mit den Beteiligten, um bereits etwas anzubieten. Und noch mal, ich hätte es wirklich seltsam gefunden, wenn es überhaupt keinen Gegenkandidaten, keine Gegenkandidatin gegeben hätte. [...]

Eine Sache, die Ihnen immer wieder nachgetragen wird: 2018  hatten Sie sich parteiisch pro Grüne geäußert. Begleitend zu ihrer Berichterstattung hatten Sie über die „frische grüne Doppelspitze“ getwittert und die damit verbundene  „Aufbruchsstimmung“ gelobt.
Dass ein Tweet aus 2018 immer noch hoch gebracht wird, zeigt doch, dass danach anscheinend nicht viel zu finden ist. Auf so einem Parteitag ist eine besondere Atmosphäre, da lässt man sich mal hinreißen. Ich breche mir aber überhaupt keinen Zacken aus der Krone, wenn ich sage, ich würde diesen Tweet ganz bestimmt nicht noch mal so absetzen. Ich habe danach eine ganz klare Twitter-Etikette fürs ganze Hauptstadtstudio eingeführt.

Wissen Sie, wieviel Follower Sie haben?
Irgendwas über 50 000.

Darunter Kevin Kühnert.
Und viele viele andere. Herr Maaßen folgt mir auch. Sie suchen sich ihre Follower ja nicht aus. (Markus Ehrenberg, Tagesspiegel)

Das ist also der große Skandal der Tina Hassel? Ein Tweet aus dem Jahr 2018? Und dazu der erbärmliche Versuch, ihr Kevin Kühnert anzuhängen. Die Argumente der "die ÖR sind alle grün gefärbt"-Crowd sind so offensichtlich in bad faith, das ist ja kaum zu ertragen. Das Einzige, was die Geschichte mit diesem Tweet zeigt, ist der professionelle Standard der ÖR: kam einmal im Überschwang vor, war ein Fehler, wir haben es seither korrigiert. Die Springerpresse fährt in der Zwischenzeit eine Kampagne nach der anderen, aber das stört natürlich niemand.

5) 80:1 für die Autoindustrie

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung setzte Scheuer in seinem Terminkalender jedenfalls klare Prioritäten. Seit Amtsantritt im März 2018 durfte die Autoindustrie bei 80 Treffen direkt beim Minister vorsprechen. Umweltverbände konnten davon nur träumen. Die größten Organisationen BUND, Nabu, Greenpeace, WWF und Deutsche Umwelthilfe kamen zusammen nur auf ein einziges Gespräch. [...] Das passe zum Kampf des Ministers gegen härtere Klimaschutzvorgaben für die Autoindustrie. Das Ministerium hält dagegen. [...] Doch auch Umweltgruppen sind empört. "Wir haben den Minister mehrfach um Gespräche gebeten, bekamen aber keine Reaktion", sagt Jens Hilgenberg, Leiter Verkehrspolitik beim BUND. Es sei bedauerlich, dass der Verkehrsminister Gespräche in einer entscheidenden Phase für den Klimaschutz und den Umbau des Mobilitätssektors so einseitig führe. An Gespräche mit Scheuer bei der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität kann sich beim BUND niemand erinnern. Scheuer habe sich äußerst rargemacht, sagt Hilgenberg. "In der Arbeitsgruppe Klimaschutz im Verkehr war der Minister kein einziges Mal anwesend." (Markus Balser, Süddeutsche Zeitung)

Es gibt niemand im Kabinett Merkel IV der auch nur annähernd so inkompetent und schädlich ist wie Andreas Scheuer. Der Mann ist quasi das lebende Gegenargument zu Proporzregeln, der Beweis, dass mit der Größe des Versagens die eigene Immunität wächst. Über die letzten vier Jahre hat der Mann Milliarden verschleudert, und wenn es gerecht zugehen würde in der Welt wäre er Mittelpunkt riesiger Skandale gewesen und längst zum Rücktritt gezwungen. Aber Minister*innen treten in Deutschland ja irgendwie nur zurück, wenn sie ihre Doktorarbeiten plagiieren.

Neben all den Fuckups, die Scheuer als Verkehrsminister bisher zu verantworten hat, ist seine generelle Ausrichtung eine Katastrophe. Die Fixierung auf Autos und das aktive Behindern anderer Verkehrsmittel, vor allem der Bahn, sind geradezu pathologisch. Glücklicherweise wurden die meisten aktuellen Bahn-Projekte noch vor seiner Ägide angestoßen und laufen einfach nebenher weiter (Stichwort Deutschland-Takt). Am schlimmsten aber ist, dass der Kerl gute Chancen hat, in der Regierung Laschet auch wieder vertreten zu sein. Das allerdings würde gut ins Bild passen.

6) There’s a Primal Reason for Our Collective Culture War Madness

The flip side of this is that all of us, both those at the top and those at the bottom, feel continual stress if the hierarchy is constantly changing and we're unsure of our status and how we're expected to act. This has been the case for the past 50 years, and over time it has driven both liberals and conservatives into a sort of stress-driven madness. This is why it often seems like things are getting worse even though they're actually getting better. That's what continual stress does. None of this means we should stop our efforts to gain racial, ethnic, gender, and sexual equality. We need to do it regardless of the cost. Still, we don't have a bunch of separate "culture war issues" that one side or the other locks onto now and again. It's all one thing and it's been a 50-year war so far. And in a country like ours, which is even more dedicated to hierarchies than most of our peers, 50 years of this stuff is enough to drive us all into low-grade hysteria. This is a generational issue, and it won't fully go away until (a) we get close to equality and (b) the last generation that's been scarred by hierarchy changes finally dies off. At best, that's probably 20 years for the former and 30 or 40 for the latter. In other words, hierarchy-induced madness will continue to consume us for another half century or so. This was all well understood and discussed routinely a few decades ago. Today it isn't, either because it feels like 2+2=4 or because we've collectively decided to pretend that other forces are at work. And other forces are at work! Still, at the very deepest level, it's our primate minds that have driven us into a fever of resentment and constant tension. And it ain't over yet. (Kevin Drum, Jabberwocky)

In diese Richtung habe ich ja konsistent ebenfalls argumentiert. Das Hinterfragen bestehender Hierarchien und Privilegien hat schon immer zu Konflikten geführt. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall, als "hinter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" ausgelüftet wurde, und das ist heuer der Fall, wo die Vorrangstellung bestimmter Gruppen herausgefordert wird. Dieser Prozess wird noch eine Weile dauern, da bin ich ganz bei Drum. Er wird mit einem neuen Status Quo enden. Und im Rückblick wird der Widerstand gegen den Wandel genauso verquert aussehen wie aus heutiger Perspektive der Widerstand gegen den gesellschaftlichen Wandel der 1960er Jahre.

7) Die Würfel fallen weiter

Die politischen Angriffe auf Die Grünen und ihre Kandidatin wiederum waren absolut vorhersehbar und sind auch frei jeglicher Originalität. Umso beschämender, dass die Kampagne genau hierfür keine überzeugenden Abwehrmechanismen erarbeitet (und getestet) hatte. Und auch, dass man die Kandidatin offenbar nicht davor bewahren konnte, sich selbst immer neue Stolperfallen zu stellen. Die Wucht, mit der Baerbock in den Umfragen nach unten stürzte und im Juni im ZDF sogar auf dem letzten Platz hinter Wagenknecht, Lindner, Spahn notiert, spricht Bände. Sie war zwar nie ein wirkliches Zugpferd, aber jetzt wird sie zur Belastung. Im Lager der Grünen hofft man jetzt auf den Wetterbericht. Aber diese Kandidatur ist am Ende – und kann nur noch durch ein Wunder gerettet werden. [...] Die Union ist der eigentliche Bremsklotz Deutschlands auf dem Weg in die Zukunft. Herrschte wirklich Wechselwille im Land, dann müsste man als erstes die Union in die Opposition schicken. Die Union bremst auf allen wichtigen Politikfeldern und wirkt auf Bundesebene auch noch mit einer Ministerriege, die jede Pannenstatistik anführt. Von Scheuer zu Spahn, von Seehofer zu Kramp-Karrenbauer, von Klöckner zu Karliczek und Altmaier. Die bekommen alle durch die Bank weg nichts auf die Reihe, bremsen aber, wo sie können, alle zwingend notwendigen Transformationsprozesse in Wirtschaft, Sozialem, Umwelt, Bildung, Tierschutz … you name it, they failed it. Aber die Union ist trotz sinkender Anteile der unbestrittene Marktführer auf dem bundesdeutschen Parteienmarkt. Sie lebt von einer alles in allem doch recht treuen und dadurch am Ende auch stabilen Wählerklientel. Die Union muss sich sehr, sehr anstrengen, um in Deutschland eine Bundestagswahl zu verlieren – und die anderen müssen sich sehr, sehr anstrengen, um sie zu gewinnen. [...] Der einzige, der Laschet noch gefährlich werden kann, ist Olaf Scholz. Ja, jener Olaf Scholz, den alle schon wieder einmal fröhlich ab- oder in Grund- und Boden geschrieben haben. Seinem Standing in der Bevölkerung hat das nicht wirklich geschadet. Er bleibt weiter im oberen Drittel der Beliebtheitsskalen und führt bei einigen Instituten auch in der Kanzlerfrage. Nicht weltbewegend weit, aber immerhin. Scholz hat kein Kompetenzproblem, das hat dafür seine Partei. Die Werte bezüglich der Zukunftskompetenz der SPD sind durch die Bank weg niederschmetternd. (Frank Stauss)

Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Idee eines Kanzler Scholz. Klar, das kann sich noch als eine Art Ninja-Kandidatur herausstellen, aber das wäre mehr als merkwürdig. Anders als Baerbock und Laschet ist Scholz als Kanzlerkandidat nie ernsthaft durchleuchtet worden, was natürlich ein Vorteil für ihn ist, es aber demokratie-legitimatorisch nicht ganz unproblematisch.

Ich bin aber völlig bei Stauss, wo es um den "Marktführer am Parteienmarkt" geht. Die CDU ist Regierungspartei by default; sie regiert immer, wenn sie nicht aktiv davon abgehalten wird. Und da die Grünen offensichtlich nicht darauf brennen, sie abzulösen - siehe der völlig unterirdische Wahlkampf - sieht es derzeit gut aus für Laschet. Wie übrigens yours truly bereits im Frühjahr prophezeit hat.

8) Wer Rassismus nicht bei sich erkennt, kann ihn nicht aufklären

Die Minimalqualifikation, um rechtsextreme Umtriebe in der Polizei aufzuklären, ist nicht, kein Rechtsextremist zu sein. Sie ist, das Thema ernst zu nehmen und zu verstehen. Zu wissen, dass rechte Gewalt nicht erst bei einer geladenen Waffe anfängt oder einem Hakenkreuz an der Hauswand oder einem Stein im Schaufenster. Rassistische Haltungen unter Polizistinnen und Polizisten haben für die Betroffenen schwerwiegendere Konsequenzen, was sich etwa beim Beispiel von Racial Profiling zeigt, wenn Personen aufgrund ihres Aussehens in Personenkontrollen geraten oder in bestimmte Milieus eingeordnet werden, nur weil sie den falschen Nachnamen haben. Die meisten Menschen haben rassistisches Denken verinnerlicht, das lässt sich so einfach nicht ablegen. Es gibt Debatten über Begriffe wie den der Rasse im Grundgesetz. Es wäre zu wünschen, wir wären weiter. Doch nicht alle sind in diesem Prozess gleich schnell. So ist das eben mit Lernprozessen. Aber der Begriff, den der Polizeipräsident verwendet hat, über den müssen wir seit Jahrzehnten nicht mehr diskutieren, weil er indiskutabel ist. Es geht nicht um sprachliche Spitzfindigkeiten wie den Unterschied zwischen "sich entschuldigen" und "um Entschuldigung bitten". Wie soll jemand, der das bis heute nicht verinnerlicht hat, das Problem bei anderen erkennen? Laut einer Mitteilung des Innenministeriums seien die allermeisten Nachrichten in diesen Chatgruppen nicht strafrechtlich relevant gewesen. Das ist aber nur ein Teil der Aufarbeitung. Was ist mit denen, die vielleicht keine verfassungsfeindlichen Symbole, antisemitischen Witzchen oder diskriminierenden Beleidigungen enthalten, aber dennoch eine problematische Haltung erkennen lassen? Werden solche Nachrichten überhaupt als solche identifiziert, oder muss man befürchten, dass Rassismus da einfach übersehen wird? (Christian Vooren, ZEIT)

Die Ausrede mit den Einzelfällen zieht inzwischen einfach nicht mehr. Es gibt ein Haltungsproblem in der Truppe, um von der Leyen zu zitieren. Das Problem ist vermutlich nicht einmal, dass der Großteil der Polizist*innen rechte Einstellungen hegte, das Problem ist der mangelnde Widerspruch aus den eigenen Reihen bei denen, die ihn haben. Was dahinter steckt - Wahrnehmung als Humor, Einschüchterung, falsch verstandender Korpsgeist, Angst um die Karriere, von allem ein bisschen - ist nicht völlig klar. Aber solange es implizit als normal oder zumindest akzeptabel verstanden wird, rassistische und rechtsradikale Äußerungen zu tätigen, wird dieses Problem nicht verschwinden.

9) The World According to Germany: Reassessing 1989

But the events of 1989 did little to strengthen public belief in the usefulness of deterrence and defense. They rather reinforced the belief in the imperative and indeed inevitability of further integration. Having been burnt by the use of raw power, Germany longed instead for a world that would move on from what Australian thinker Hedley Bull famously called “the anarchical society” of international relations. Instead, the community of nations should be governed as much by rules and international law as possible. From the community of law enshrined in the European Union and the Council of Europe to its support for the United Nations or innumerable trade agreements and international conventions, Germany pushed for codification of rules and for multilateral solutions. Militarily weak, instinctively pacifist after two world wars, Germany was more dependent and invested in a rules-based international order where its soft power carried substantial weight. Perhaps the most striking example of the ambition and optimism that the world would indeed move toward a “Weltinnenpolitik”—an international system with highly constrained exercise of the use of force and a legitimate authority to arbitrate—was the establishment of the International Criminal Court 20 years ago. Looking back, even more than 1989, 1998 may mark the furthest advance of international law and the low-water mark for the arrogance of power in the international system. The assumption was that the trend would continue: transnational challenges such as climate change so obviously required transnational solutions that an ever more integrated policy approach seemed almost inevitable. Almost. When talking about Europe in the early 1990’s, it was commonplace across the political and bureaucratic spectrum to use the phrase “the irreversible process of European integration”— again confounding normative preferences and analytical truth. There simply seemed to be no difference between the two in those halcyon days. Europe was the global avant-garde—and Germany, having thoroughly digested its historical and geographical lessons—thought of itself as the avant-garde within the European Union. The Economic and Monetary Union of the EU and the introduction of the Euro were only logical if you believed in this linear reading of the future. (Thomas Bagger, Atlantikbrücke)

Ich empfehle den länglichen Essay zu seiner Gänze, ich habe hier nur einen kleinen Ausschnitt zitiert, wel ich den Gedanken zur "rules based order" spannend finde. Diese deutsche Obsession sehen wir ja auch sehr gut in der Eurokrise, um nur ein Beispiel zu nennen, wo zwar der ganze Laden zusammenbrechen kann, aber Hauptsache die Regeln wurden eingehalten. Das Problem der deutschen Haltung läuft in zwei Richtungen.

Einerseits ist es durchaus möglich, dass die Regeln einfach schlecht gestaltet und nicht in der Lage sind, mit der jeweiligen Herausforderung umzugehen. Die Maastricht-Regeln und die Schuldenbremse sind solche Regeln. Andererseits aber hat Deutschland kein Konzept dafür, mit Regelbrüchen umzugehen. Das gilt innerhalb der EU, wenn wir etwa auf das Verhalten Polens oder Ungarns schauen, und das gilt für die Außenpolitik weltweit, wenn etwa China oder Russland gegen das internationale Regelwerk verstoßen.

10) Mit der Union durchs Elfenland

Was aber ist der Grund dafür, dass die Union zu einer so traumseligen Partei geworden ist? Das hängt mit ihrer größten Illusion zusammen. Und die heißt Normalität, mit Blick auf das Gemüt ihres Kanzlerkandidaten könnte man auch sagen, es liegt am rheinischen Normalismus. Zwar spricht die Union mittlerweile auch von einem Epochenwechsel und von Entfesselung, meint dabei aber immer mit: Alle Veränderung wird passieren, ohne dass du, der Wähler, sich ändern muss. Und das kann man eben nur noch behaupten, wenn weite Teile der Wirklichkeit ausgeblendet werden, wie etwa Klimakrisen, Chinesen oder der Bundeshaushalt. Wohlmeinende Traumdeuter weisen darauf hin, dass auch Angela Merkel stets ohne allzu konkrete Wahlprogramme ausgekommen sei und nach den Wahlen dann doch erfolgreich Politik gemacht habe. Doch auch da wird zu viel hineingeträumt, schließlich ist die Methode Merkel schon lange an ihr Ende gekommen. Die Krisen, auf die sie das Land nicht vorbereitet hatte, fingen an, sogar Merkel zu überfordern. Kein Programm ist also kein Erfolgsrezept mehr, die Probleme sind so groß geworden, dass man sich für ihre Lösung bei den Wählerinnen denn doch ein bisschen Legitimation holen muss – sonst gibt es ein böses Erwachen. Aber sind die Wählerinnen und Wähler tatsächlich so gestimmt, wollen sie von Veränderung nichts wissen, beharren sie auf einer Normalität, die es nicht mehr geben kann? Schwer zu sagen, wie da die Mehrheiten liegen. Fest steht jedenfalls, dass die Union realitätsflüchtige Stimmungen nirgendwo konterkariert, sondern sie bestätigt, sie träumt den Leuten was vor. (Bernd Ulrich, ZEIT)

Die Existenz der CDU als natürliche Regierungspartei, die wir in Fundstück 7 besprochen haben, findet hier ihr merkwürdiges Zerrbild. Denn die CDU hat praktisch keine Ideen, wie den Herausforderungen der Zukunft begegnet werden sollte. Ich glaube ehrlich gesagt, dass darin kein Widerspruch dazu liegt, dass eine Pluralität der Deutschen ihr die Zustimmung gibt, sondern sogar ein Grundbaustein ihrer Attraktivität. Anders als FDP oder Grüne etwa muss man sich von der CDU nicht bedroht fühlen. Sie wird den Status Quo nicht erschüttern. Dagegen wollen FDP und Grüne den Status Quo definitiv erschüttern (wie übrigens unter anderen, eher nach hinten gerichteten Vorzeichen die LINKE und AfD). Die CDU verkauft die irrige Hoffnung, man könne genauso weiter machen wie bisher, niemand müsse sich ändern oder Opfer bringen.

11) Der Weg ist das Ziel. Deutsche Erinnerungspolitik und ihre Widersprüche

Dies war bereits in den 1980er Jahren keine auf die Bundesrepublik reduzierte Debatte. Als besonders bedrohlich erschien den höheren Beamten der Ministerialbürokratie, auch vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, die erfolgreiche Einbettung der Holocaust-Erinnerung in das amerikanische Selbstverständnis, wie es beispielsweise das seit 1978 geplante und 1993 eröffnete United States Holocaust Memorial Museum in Washington zeigte. (West-)deutsche Beamte und Diplomaten stellten sich vehement gegen dieses Museum, das sie als Reduzierung der deutschen Geschichte auf das „Dritte Reich“ und den Holocaust auffassten – und glaubten, darin eine Bedrohung für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland sowie die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu erkennen. In diesem und ähnlichen Kontexten sahen sich die Bundesrepublik und ihre Repräsentanten als Opfer der international wachsenden Konfrontation mit dem Holocaust. Und es war nicht unüblich, dass man in Regierungs- oder Diplomatenkreisen, durchaus auch unter Verwendung antisemitischer Klischees, amerikanischen Jüdinnen und Juden unterstellte, sie würden den Holocaust zu Lasten der Bundesrepublik instrumentalisieren, um sich politische oder finanzielle Vorteile zu verschaffen. Deutsche Versuche, direkt in das amerikanische Holocaust-Gedenken oder die Debatten über den Holocaust in den USA einzugreifen, waren allerdings zum Scheitern verurteilt. Stattdessen mussten deutsche Regierungsvertreter lernen, dass es hier gar nicht um Deutschland ging, sondern um die Anerkennung einer Leidensgeschichte in einem Zusammenhang, in welchem die Befindlichkeiten und Interessen deutscher Diplomaten oder Politiker, aber auch die deutsche Vergangenheitsbewältigung insgesamt, schlicht irrelevant waren. Diese Erfahrungen trugen entscheidend dazu bei, dass sich die deutsche Erinnerungspolitik weiterentwickelte. (Jacob Eder, Geschichte der Gegenwart)

Ich finde die Geschichte der deutschen Verganhenheitsbewältigung immer wieder spannend, weil wir gerne die Fiktion pflegen, die Deutschen hätten sich schon immer auf dem Stand ungefähr der 2000er Jahre mit dem Holocaust auseinandergesetzt. Aber diese Entwicklung ist vergleichsweise neu, und ich wage die These, dass sie letztlich den Tod der betroffenen Generation erfordert hat (wie das beim historischen Gedächtnis immer der Fall ist; wenn die Betroffenen verstorben sind, lässt es sich wesentlich freier diskutieren, gerät aus dem Bereich der Erinnerung in den Bereich der Geschichte).

Der Vorwurf, die Juden und Jüdinnen würden über die Vergangenheitsbewältigungspolitik gezielt eine politische Agenda verfolgen, die losgelöst davon betrachtet werden kann, ist so alt wie die Bundesrepublik selbst. Da fließen dann auch ständig sachfremde ideologische Elemente ein, von konservativem Anti-Amerikanismus (wie im Kohl-Beispiel oben) bis hin zu reflexhafter Israel-Feindlichkeit bei den Linken (wie sie periodisch in die öffentliche Debatte fließt). Oft liegen die Wurzeln dieser Ressentiments im Kalten Krieg oder davor und haben wenig mit heutigen Problemen und Debatten zu tun.

Donnerstag, 24. Juni 2021

Siegerjustiz in der Vergangenheitspolitik?

 

Auf den NachDenkSeiten hat Lutz Hausstein einen Artikel über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit geschrieben. Er nimmt darin Bezug auf meinen Artikel zu der Frage, wie wir mit Statuen, Straßen und anderem Heldengedenken umgehen. Er stellt dabei die Frage, wer eigentlich "wir" im wiedervereinigten Deutschland sind:

Wenn heute in der Öffentlichkeit über die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gesprochen wird, verklärt sich der allgemeine Blick und mit einem seligen Lächeln fällt der Satz: „Wir sind Weltmeister geworden. Mit der Achse Maier, Beckenbauer, Overath und Gerd Müller.“ Alternativ vielleicht auch: „Deutschland wurde Fußball-Weltmeister 1974.“ Kaum jemand würde dies heute in Abrede stellen. Doch war dies wirklich so? Sind wir Weltmeister geworden? Oder sind wir nicht in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien ausgeschieden? Das vereinnahmende „Wir“ – und erst recht natürlich das völlig falsche und dennoch damals durchgängig und selbst heute noch häufig gebrauchte „Deutschland“ – negiert die Existenz des anderen Teils des damals zweigeteilten Deutschlands. Diese Ignoranz ist umso bemerkenswerter, da die DDR-Mannschaft ja sogar unmittelbarer Teilnehmer dieser WM-Endrunde war – und hier sogar gegen das auch so benannte „Deutschland“ in der Vorrunde spielte – und somit jeder vor Augen haben müsste, dass weder „wir“ noch „Deutschland“ Weltmeister geworden sein konnten.

Das ist natürlich eine gute Frage. Aber Haussteins Gedankenführung zu diesem Thema führt in die Irre.

Hausstein hat insofern Recht, dass alle diejenigen, die vor 1989 sozialisiert wurden (also die Geburtenjahrgänge vor 1980, effektiv, und damit rund die Hälfte der Ostdeutschen), eine DDR-Nationalmannschaft kannten, die dann gegen die der BRD antrat. Diese ist im offiziellen "uns" nicht enthalten. Das hat seine Gründe, auf die ich gleich eingehen will; zuerst aber soll dem anderen wichtigen Punkt Haussteins Raum gegeben werden:

Doch nicht nur in diesem Punkt wird den Menschen im Land vermittelt, dass es nur eine einzige Vergangenheit – nämlich die Westdeutschlands, sprich der BRD – gibt. Der deutsche Raumfahrer Ulrich Walter wies bei Markus Lanz einmal darauf hin, dass er auf die Frage, wer der erste Deutsche im Weltraum war, entweder betretenes Schweigen ernte oder ein eher fragendes „Ulf Merbold“ als Antwort erhält. Dass jedoch der DDR-Bürger Sigmund Jähn der erste Deutsche war, der 1978 ins All geflogen ist, ist im westdeutschen Geschichtsbewusstsein bei nur Wenigen verankert. Dazu trug auch der unwürdige Umgang der Bundesregierung mit der Persönlichkeit Sigmund Jähn zeitlebens wie auch ein weiteres Mal zu seinem Tod maßgeblich bei. Dem war schon eine gepflegte Ignoranz anlässlich des 80. Geburtstages von Jähn wie auch des 40. Jahrestages seines Weltraumfluges vorausgegangen. Sigmund Jähn als einer der DDR-Bürger mit den größten wissenschaftlichen Verdiensten fand nach der Wiedervereinigung in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr statt. Derlei Beispiele ließen sich noch viele finden. Den meisten, in West wie in Ost, ist der großartige Zoologe, Tierverhaltensforscher und Zoodirektor Bernhard Grzimek wenigstens dem Namen nach ein Begriff. Für viele ist Grzimek auch heute noch, über 30 Jahre nach seinem Tod, ein Idol. Doch wer kennt im Westen schon den Namen Heinrich Dathe, der sich als Zoologe und Direktor des Tierparks Berlin ein weltweites Renommee erwarb?

Natürlich hat er Recht damit, dass die Erinnerung an die meisten DDR-Größen, von Sigmund Jähn über Heinrich Dathe nicht hochgehalten wird. Aber der Grund dafür ist nicht ein unhaltbarer Zustand von Siegerjustiz. Der Grund liegt in der Wiedervereinigung und, vor allem, der Natur der Wiedervereinigung.

Die DDR hat sich 1990 effektiv aufgelöst, als sie nach dem Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat. Die Wiedervereinigung war keine Neugründung eines Staates; sie war ein Beitritt zu einem bestehenden Staat. Dieses Detail ignoriert Hausstein in seiner Argumentation, aber es macht den zentralen Unterschied. Denn seine Kritik würde deutlich mehr Sinn ergeben, wenn BRD und DDR beide 1990 aufgelöst und durch Artikel 146 eine staatliche Neugründung unternommen worden wäre. Darauf wurde aus sehr vielen guten Gründen verzichtet, aber es bedeutet eben auch, dass es eine ungebrochene Kontinuität vom 23.05.1949 über den 03.10.1990 hinaus gibt - und durch das Konstrukt der Rechtsnachfolge sogar eine Kontinuität bis zurück zum 18.01.1871. All das hat die DDR nicht. Sie existierte von 1949 bis 1990. Sie ist ein Sonderfall der deutschen Geschichte, der korrigiert wurde - was das Wort der WIEDERVereinigung ja schon sagt; es wird etwas wiederhergestellt, das vorher geteilt war, nicht aus zwei Teilen etwas Neues geschaffen. Die Wiedervereinigung ist ein restaurativer, kein konstruktiver Akt.

Es führt an dieser Stelle zu weit zu fragen, ob sie das notwendigerweise sein musste (ich denke: ja), aber es lässt sich kaum bestreiten, dass es der Fall war. Die Kritik an der "Siegerjustiz" deutet ja auch stark darauf hin, dass genau diese Erkenntnis auch bei Hausstein und seinen Gleichgesinnten vorhanden ist. Sie bewerten den Vorgang nur anders als die wiedervereinigte Mehrheit.

Dafür kann natürlich Sigmund Jähn nichts, dessen Ruhm unverdient darunter leidet, dass er unter dem Banner von Hammer, Zirkel und Ährenkranz ins All flog und nicht unter der schwarz-rot-goldenen Trikolore. Das ist unfair, sicherlich. Aber gleichzeitig ist es auch folgerichtig. "Wir" sind die Weltmeister von 1974, aber "wir" sind nicht Sigmund Jähn.

Am auffälligsten aber ist eine andere Leerstelle in Haussteins Artikel, die das argumentative Boot endgültig zum Sinken bringt. "Wir" sind nicht Siegmund Jähn, "wir" sind Fußballweltmeister 1974. Das ist schon richtig. "Wir" sind aber auch das Land, das die historische Verantwortung für den Holocaust übernommen hat, und "wir" sind, ganz entschieden, nicht das Land der Stasi, der Selbstschussanlagen, Minen und Mauerschützen.

Denn wenn ein Teil des DDR-Erbes in das kollektive "wir" übernommen werden sollte, dann müsste das für die DDR-Vergangenheit auch gelten. Warum aber sollte ich als Südwestdeutscher die Untaten dieses Regimes in meine Identität aufnehmen? Die DDR hat immer aggressiv behauptet, eine Neugründung zu sein, die mit den alten deutschen Staaten nichts zu tun hat und kategorisch abgelehnt, Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen. Dieses Neue, das die DDR war, ging dann 1990 glanzlos unter. Good riddance.

Aber es fällt damit eben dezidiert nicht unter das kollektive "wir". Das kann es nicht. Stattdessen müssen diejenigen, die die DDR noch aktiv erlebt haben, einen Weg finden, diese Erinnerung in das bundesdeutsche "wir" zu integrieren. Sie ähneln darin Migrant*innen, wenn der Vergleich gestattet ist. Aber sicherlich müssen "wir" das nicht übernehmen. Die Leistungen einzelner sind da der Kollateralschaden. Sigmund Jähns Meilenstein gerät genauso unter die Räder wie wir heutzutage nicht wirklich stolz auf die Leistungen von Menschen sein können, die im Nationalsozialismus Großtaten vollbracht haben. Man kann sich nicht einen Teil herauspicken und den anderen Teil ignorieren. Und zur Identität der DDR gehört nun einmal beides, Spreewaldgurken und Eiserner Vorhang.

Mittwoch, 23. Juni 2021

Rezo fährt mit der Marine in den Pazifik und trägt beim Gesetzeschreiben mit dem Rotstift Maske - Vermischtes 23.06.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Pacific Germany

Now, Germany has recently confirmed that it will soon send a warship into the hot zone that is the Indo-Pacific. This planned deployment demonstrates a growing realism in Germany. [...] What is “realist” about sending one measly frigate into the vastness of the Indo-Pacific? The move is only one element of the refreshingly realist strategy contained in Germany’s Policy Guidelines for the Indo-Pacific (Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik) that the German government released last year. The document unapologetically defines German interests in the region. As opposed to moral considerations that are the foundation of Wilsonianism, the new German realism exhibited here focuses on interests such as security and the integrity of the nation. Compared to previous white books and national defense guidelines, these guidelines are filled to the brim with realist interests. The magnitude of this ongoing shift from Wilsonianism to realism cannot be overstated. Only 10 years ago, then-President Horst Köhler stepped down after being lambasted by the German media for insinuating that there could be a connection between German military operations abroad and the protection of open seaways or other economic interests. Trump‘s lessons about the realities of international relations have certainly sunk in. (Dominik Wullers, War on the Rocks)

Ich finde es sehr positiv zu sehen, dass in Deutschland eine realistischere Position in die Außenpolitik eintritt. Zwar ist es immer wieder schrecklich zu sehen, wie die SPD immer mehr in völlig blödsinnige außenpolitische Positionen abrutscht, aber glücklicherweise gibt es den gegenläufigen Trend bei den Grünen, so dass sich das wenigstens die Waage hält. Was normalerweise nicht eben unproblematisch ist - dass sich die Außenpolitik ohnehin weitgehend abseits der parlamentarischen Strukturen aufhält, weil der Bundestag wenig Interesse daran hat - ist hier hilfreich, weil die Profis in den entsprechenden Ministerien diesen Wandel zum Realismus befördern können.

2) Tweet


Was Cohen hier anspricht ist schon seit einigen Monaten meine Hypothese: die Vorstellung einer regional fein abgestimmten Pandemiepolitik auf die jeweilige Inzidenzlage ist zwar gut gemeint, aber das ist bekanntlich meist das Gegenteil von gut gemacht. Es ist natürlich nur anekdotisch, aber ich kann das auch an mir gut beobachten: ich habe schon lange den Überblick verloren, welche Regeln gerade eigentlich noch genau gelten. Wie viele Haushalte dürfen sich treffen? Was ist Pflicht, was ist Kür? Wie vermutlich die meisten anderen Menschen auch habe ich mir ein Set an Regeln zurechtgelegt, an dem ich mich orientiere - die sich zwar wahrscheinlich meist, aber sicher nicht immer mit den offiziellen decken. Meist dürfte ich mir selbst strengere Maßstäbe auferlegen als notwendig. Aber es gilt schlicht: Je einfacher, desto besser. Ich würde auch annehmen, dass die Expert*innenanhörungen des Corona-Untersuchungsausschusses genau dieses Ergebnis bringen werden.

3) "Rasse" bleibt drin, Kinderrechte draußen

"Es gibt keinen Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Grundgesetzes zum Thema 'Rasse', sodass eine kurzfristige Grundgesetzänderung nicht mehr zu erwarten ist." Die Union fürchtete offenbar, dass sich aus der Änderung neue Ansprüche an den Staat ergeben könnten, denn Heveling verwies als Begründung auf das jüngste Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. Andere Unionsvertreter hatten die Änderung in den vergangenen Monaten als reine Symbolpolitik kritisiert oder darauf verwiesen, dass man gerade mit der Streichung des Begriffs die antirassistische Motivation der Grundgesetzautoren nach der Nazizeit aus dem Text lösche. [...] Der "Rasse"-Begriff könnte, wenn schon nicht sofort, dann doch recht bald aus dem Grundgesetz verschwinden. Denn bis auf die AfD sind eigentlich alle dafür, die Linkspartei kämpft beispielsweise schon seit 2010 für eine Streichung, die Grünen ebenfalls, SPD und FDP sind im vergangenen Jahr dazugekommen. Der nächsten Bundesregierung müsste dann das gelingen, woran die jetzige gescheitert ist: eine kompromissfähige Alternative zu finden. [...]  Seit 1992 hatten die Vereinten Nationen Deutschland mehrfach aufgefordert, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Streit gab es dann in den Verhandlungen unter anderem um das Wort "angemessen". Warum sollte das Wohl des Kindes nicht "vorrangig" behandelt werden, wie es die UN-Konvention vorsieht? Und warum werden die Kinderrechte abgeschwächt, indem noch einmal die Erstverantwortung der Eltern hinterhergeschoben wird, die vorher schon im Grundgesetz erwähnt wird? Auch die FDP wollte mehr als den Kompromissvorschlag: Das Recht auf Nichtdiskriminierung sollte explizit erwähnt werden. Auf der anderen Seite stehen Vertreter der Union, die Kinderrechte lieber gar nicht in der Verfassung hätten oder nur sehr abgeschwächt. (Lenz Jacobsen/Parvin Sadigh, ZEIT)

Der "Rasse"-Kompromiss ist ein sehr kleinteiliges Beispiel für die vielen Modernisierungsprojekte, die die CDU blockt und die eine Ampel abarbeiten könnte. Gleiches gilt für die Kinderrechte: SPD, FDP und Grüne sind sich alle untereinander wesentlich näher als der CDU. Die CDU profitiert vor allem davon, dass sie in den großen Linien eine große Deckungsgleichheit mit der FDP aufweist (etwa beim grundsätzlichen "Markt vor Staat"), aber ich halte das für überbewertet. Ob das aus Gründen konservativer Kleingeistigkeit oder sozialdemokratischen Solidaritätsstrebens blockiert wird, ist für die FDP ja erstmal irrelevant.

Deswegen könnte eine Ampel auch wesentlich attraktiver für die FDP sein, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Es gibt so viele solcher kleiner Projekte, wo gerade der liberale Gedanke, der nicht direkt mit "Markt" verbunden ist, von der CDU im Endeffekt seit Gründung der Republik ausgegrenzt wird, und bei denen Zusammenarbeit möglich ist. Wenn alle Partner sich von Anfang an im Klaren darüber sind, dass die Ampel sicherlich weder einen großen Ausbau der Staatstätigkeit noch eine grundlegende Sozialstaatsreform mit sich bringen wird, könnte da echt einiges gehen. Es ist halt ein Projekt auf Zeit, ein Modernisierungsprogramm auf spezifischen Feldern.

4) Die Vorboten der Rotstiftpolitik sind schon zu sehen

Von Austerität, von Rotstiftpolitik, redet dagegen niemand. Im Grunde ist das ein Zeichen von politischem Realismus. Staatsverschuldung gehört derzeit nicht zu den drängendsten Problemen. Zwar sind rund 650 Milliarden Euro an Corona-Schulden hinzugekommen. Doch angesichts niedriger Zinsen und solange die Wirtschaft wächst, fällt das nicht sonderlich ins Gewicht. Viel größer ist die Gefahr, auf wichtigen Zukunftsfeldern noch weiter an Boden zu verlieren. [...] Doch obwohl niemand offen Austerität fordert, könnte sie trotzdem bald kommen. Denn die Fiskalregeln zwingen die öffentlichen Haushalte dazu. Sobald der Ausnahmetatbestand der Schuldenbremse nicht mehr greift, was spätestens 2023 der Fall sein wird, ist nicht nur Schluss mit Neuverschuldung. Dann beginnen auch die Tilgungsverpflichtungen. Der Staat muss dann Ausgaben streichen, um Staatsanleihen trotz Negativzinsen final zurückzuzahlen. Vernünftige Wirtschaftspolitik geht anders. Doch was sollen die Finanzministerien machen? Sie sind an Recht und Gesetz gebunden und bereiten deshalb – vor allem auf Länderebene – schon jetzt nolens volens die Sparhaushalte der kommenden Jahre vor. (Jens Suedekum, Handelsblatt)

Dieser Artikel macht wunderbar den ganzen Irrsinn von Schuldenbremse und Austeritätspolitik deutlich. Es ist völlig offenkundig, dass Austerität zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine dumme Idee ist. Suedekum macht dies ja unmissverständlich deutlich. Aber die rigiden Regeln der "Schuldenbremse" werden behandelt, als wären sie ein Naturgesetz, dem der Mensch sich, leider, leider, beugen müsste wie der Schwerkraft. Dabei wurde das Ding von reichlich fehlbaren Menschen 2009 erst in die Verfassung geschrieben. Die gleichen fehlbaren Menschen können es da auch wieder rausnehmen. Nicht umsonst wurde die Prohibition in den USA erst in Verfassungsrang erhoben und dann desselben reichlich unzeremoniell wieder entkleidet. Haken wir die Schuldenbremse endlich als "nette Idee, aber halt nur in der Theorie" ab, denn mehr ist sie einfach nicht.

5) The Importance of Teaching Dred Scott

A decade later, during the nationwide grappling with racial injustice that followed the murder of George Floyd, I saw a striking Twitter discussion among professors of constitutional law, a course that I also teach. They were debating whether much of the Supreme Court case of Dred Scott v. Sandford should be excised from constitutional-law courses. In the case, which Scott brought in federal court to assert his freedom from enslavement, the Supreme Court held, in 1857, that Scott did not have the privilege to bring the suit because, as a Black person, he could not be a “citizen” within the meaning of the Constitution. Matthew Steilen, a law professor at the University at Buffalo, launched the Twitter thread and advocated for editing the case down to a minimalistic page or so, to omit text that is “so gratuitously insulting and demeaning.” He wondered whether assigning that material is asking students “to relive the humiliation of Taney’s language as evidence of his doctrine of white supremacy.” (Jeannie Suk Gersten, New York Magazine)

Ich habe versprochen, mich gegen Cancel Culture auszusprechen, wo ich das für notwendig erachte, und hier ist das ziemlich klar der Fall, zumindest soweit ich das überblicke. Ich lese den Absatz wieder und wieder und denke eigentlich stets dasselbe: What. The. Fuck. Wie kann jemand auf so einen Unsinn kommen? Ich meine, trigger warnings sind ja ok. Aber jegliche didaktischen und wissenschaftlichen Standards über Bord zu werfen, nur weil vielleicht irgendjemand verstehen könnte, worum es geht? Total beknackt.

6) AfD- und CDU-Abgeordnete fordern Kramer-Entlassung wegen Äußerungen zu Maaßen

Die Kritik entzündet sich an Äußerungen von Verfassungsschutzchef Stephan Kramer über den Südthüringer CDU-Bundestagskandidaten Hans-Georg Maaßen. Kramer hatte dem Tagesspiegel gesagt, Maaßen benutze "klassische antisemitische Stereotype" und verwende "doppeldeutige Begriffe". Derlei sei bereits bekannt vom Thüringer AfD-Chef Björn Höcke oder von AfD-Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland und "eine beliebte Methode der Neuen Rechten". [...] Der Südthüringer CDU-Landtagsabgeordnete Michael Heym sagte, als Chef einer so sensiblen Landesbehörde habe Kramer politische Neutralität zu wahren. "Entweder hat der Thüringer Innenminister Georg Maier seinen obersten Verfassungsschützer nicht mehr im Griff oder billigt wohlwollend dessen Treiben zu Wahlkampfzwecken", so Heym. Er sagte: "Kramer ist nach einer Kette von Verfehlungen nicht mehr tragbar. Innenminister Maier muss ihn entlassen." Henry Worm, ebenfalls Südthüringer Landtagsabgeordneter der CDU, sagte, die Deutungen von Kramer seien aus der Luft gegriffen und belegten seine Ungeeignetheit als Verfassungsschutzchef. (MDR Thüringen)

Zur gleichen Zeit, wie ein braun-schwarzes Bündnis versucht, den Verfassungsschutz-Chef (!) zu canceln - im Übrigen: mit "politischer Neutralität" hat es die Behörde traditionell nicht so, wie das im letzten Vermischten besprochene  Eingreifen in die BpB, wo es gegen Linksextremisten ging, deutlich zeigt - kommt in Sachsen heraus, dass der dortige Verfassungsschutz nicht nur muslimische Wissenschaftler aus rassistischen Gründen kaltzustellen versuchte, sondern auch den SPD-Landeschef und Wirtschaftsminister bespitzelte. Weil niemand ist so verfassungsfeindlicher Umtriebe verdächtig wie der SPD-Wirtschaftsminister Sachsen!

Es ist völlig lächerlich, wie die CDU einerseits rechtsextreme Umtriebe gerade in Sachsen, aber auch Thüringen duldet, einen Extremisten wie Maaßen gar für den Bundestag nominiert (und ihn zum Chef des Verfassungsschutzes gemacht und dort bis weit über das erträgliche Maß hinaus gedeckt hat) und dann, wenn endlich einmal Demokraten den Verfassungsschutzbehörden vorstehen, gemeinsam mit der AfD versucht, diese von ihrer Arbeit abzuhalten. Erneut, mir ist völlig unklar, warum das nicht ein Riesen-Wahlkampfthema ist.

7) Letzter Test

Renaud Muselier führt deshalb gleich in mehrfacher Hinsicht einen stellvertretenden Kampf. Nur wenn sich die Republikaner bei den Regionalwahlen gegen den RN behaupten, dürfen sie sich bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr überhaupt eine Chance ausrechnen. Zugleich müssen sie die Frage beantworten, wie sie diese politische Konkurrenz bestehen wollen – und mit wem sie bereit sind, sich zu verbünden. [...] Für Marine Le Pen ist Mariani ein Glücksfall. Seit der Niederlage gegen Macron bemüht sie sich um ein moderates Auftreten. Marianis Kandidatur zeigt, wie weit sie mittlerweile in das Lager der Konservativen vorgedrungen ist. Auch in der Region Hauts-de-France in Nordfrankreich kandidiert ein ehemaliger Parteifunktionär der Konservativen für den RN, auch dort rechnet sich Le Pens Partei gute Chancen aus. Für die Republikaner hingegen entsteht ein strategisches Problem: Es wird für sie sehr viel schwerer, sich gegenüber dem RN abzugrenzen, wenn in dessen Reihen ehemalige Konservative kandidieren. (Annika Joeres/Matthias Krupa, ZEIT)

Wie ich 2017 anlässlich der Wahl Macrons in Frankreich geschrieben habe, steht und fällt der Wahlerfolg von Rechtsradikalen mit dem Verhalten der Konservativen. Wenn sie sich deutlich vom radikalen Rand abgrenzen und sich zur demokratischen Mitte bekennen, wie dies Fillon nach seiner Wahlniederlage 2017 tat, haben die Rechten keine Chance. In dem Moment, in dem die Grenzen verschwimmen und es für Konservative denkbar wird, mit den Radikalen gemeinsame Sache zu machen, ist die Demokratie tödlich bedroht. Soweit ist es in Frankreich noch nicht, aber es ist offenkundig, dass die Ränder zu Le Pen deutlich mehr verschwimmen als sie das 2017 taten. Das ist besorgniserregend.

8) Orban-Partei will Zensur gegen homosexuelle Inhalte // Orbán will Migration nach Ungarn für zwei Jahre verbieten // "Harry Potter" in Ungarn jetzt erst ab 18 Jahren erlaubt

Die Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban will die Rechte und den Schutz von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen einschränken. So sollen etwa an den Schulen Aufklärungsprogramme, die für einen respektvollen Umgang mit LGBT-Menschen sensibilisieren, verboten werden. (dpa, T-Online)

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban will jede Art von Migration für zwei Jahre verbieten. "Migranten-Armeen trommeln an alle Türen Europas", sagte der rechtsnationale Politiker am Freitag im staatlichen Rundfunk. Die Migration sei aber in Zeiten der Corona-Pandemie besonders gefährlich, weswegen er vorschlage, "dass man zwei Jahre lang keinerlei Migration erlaubt", fügte er hinzu.  (dpa, T-Online)

Das Gesetz sieht ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Inhaltsträgern vor, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht. Darüber hinaus soll jede Art von Werbung verboten werden, in der Homosexuelle oder Transsexuelle als Teil einer Normalität erscheinen. Kritiker sehen darin die Bemühung, im EU-Land Ungarn eine homofeindliche Zensur nach russischem Vorbild einzuführen. Das Gesetz hat beispielsweise zur Folge, dass Filme und Serien wie "Bridget Jones", "Harry Potter" oder "Friends" jetzt eine Altersfreigabe ab 18 Jahren haben und erst spät Abends ausgestrahlt werden dürfen. Auch Werbespots von Firmen, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen, sind durch das Gesetz betroffen. (dpa, T-Online)

Wenn populistische Regierende voll in die Kulturkampfphase springen und dermaßen in völlig absurde Themen abgleiten, ist das meistens ein Anzeichen für innenpolitische Probleme. Von daher sollte man diese alberne Maßnahmenreihe, so verheerend sie für die Betroffenen ist, vielleicht als Lichtblick sehen, als Signal dafür, dass Orbans Regierung langsam die Puste ausgeht. Wenn nichts mehr als Homosexuellen- und Migrantenfeindlichkeit da ist und du nur noch ein Verbot nach dem anderen raushaust, was ist sonst noch übrig? Die Untätigkeit der EU allerdings macht das nicht besser.

9) Stephen Breyer needs to retire. Now.

Senate Minority Leader Mitch McConnell (R-Ky.) told conservative talk show host Hugh Hewitt Monday morning that it was "highly unlikely" a Republican Senate would confirm a Biden nominee to the Supreme Court in 2024 should the GOP recapture the Senate next year. When asked what would happen if a justice retired in 2023, McConnell more or less confirmed what has been obvious for some time – Democratic presidents will never get to fill a Supreme Court seat while Republicans hold the Senate. "Well, we'd have to wait and see what happens," McConnell told Hewitt. McConnell's incendiary interview almost seemed designed to prompt 82-year-old Stephen Breyer, one of the Court's three remaining liberals, to retire while Democrats hold a narrow Senate majority. Breyer has publicly resisted pressure from progressive activists to retire, under the delusional pretext that judges are "loyal to the rule of law, not to the political party that helped to secure their appointment," and that retiring under such duress will only deepen partisan polarization and the politicization of the Court. (Steven Faris, The Week)

Mir ist völlig unklar wie Breyer nach allem was in den letzten fünf Jahren geschehen ist der Überzeugung sein kann, die Republicans würden demokratischen oder rechtsstaatlichen Prinzipien gehorchen. Es war schon ein massiver Fehler von Ruth Bader Ginsburg, nicht - obwohl es ihr dringend nahegelegt wurde - 2014 zurückzutreten. Wenn Breyer demselben Egotrip erliegt, haben die Democrats bereits zwei Sitze wegen dieses Blödsinns verloren. Ihre Gegner sind nicht so bescheuert, wie man am gut getimten Rücktritt von Anthony Kennedy sehen kann. Die Republicans kontrollieren den Gerichtshof bereits jetzt absehbar für die nächsten drei Jahrzehnte. Wenn Breyer das Amt nicht bis 2022 geräumt hat, ist das Gericht endgültig auf Generationen verloren.

10) Tweet


Ich denke, darin steckt viel Wahrheit. Ein Großteil der Krise der Sozialdemokratie hängt mit der Auflösung ihrer Milieus zusammen. Zentral darin ist der praktische Untergang der Gewerkschaften, die früher nicht nur ein verlässliches Wähler*innenpotenzial stellten, sondern auch einen großen Nachwuchskader und eine Maschine für soziale Mobilität. Aber auch viel andere solche Strukturen sind mittlerweile zerstört. Umgekehrt erklärt es auch den Erfolg der Grünen: diese haben in den letzten zwei Jahrzehnten ja überhaupt erst die entsprechenden Strukturen gebaut - etwa im viel zitierten Bildungs- oder Mediensektor - aus dem sie heute nicht nur Wähler*innen, sondern eben auch strukturellen Nachwuchs beziehen. Umgekehrt gilt die Beobachtung, dass die konservativen und liberalen Milieus noch weit intakter (Komparativ!) sind, auch für Deutschland. Spannende Gedanken.

11) Die Zerstörung des Kanzlerduells

Ich habe mich gerade kurz gefragt, mit welchen Attributen man Rezo am besten beschreiben könnte, und zum Glück kann da auch Wikipedia helfen: Also der Webvideoproduzent, Musiker, Unternehmer, Kolumnist und Unterhaltungskünstler Rezo hat in den vergangenen Wochen nach einem Anruf von Tilo Jung versucht, ein "Triell" auf die Beine zu stellen, also ein Duell an dem drei Menschen teilnehmen. In diesem Fall wären das Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet gewesen. Aber dazu wird es nun nicht kommen, wie Rezo in einem etwas mehr als 14 Minuten langen Video erklärt, weil "der Armin" nicht will. [...] Und das sind auch schon die beiden Argumentationslinien. Auf der einen Seite: Ein Kandidatenduell, klar, aber dann doch bitte mit einer neutralen Moderation. Auf der anderen Seite der Einwand, dass ein Kanzlerkandidat auch in einem nicht ganz so gemütlichen Umfeld bestehen müsse. Das Letztere hat neulich allerdings schon bei Markus Lanz nicht so gut geklappt. Und schon vor einem Interview, wie Rezo und Tilo Jung sich das vorstellen, steht relativ fest: Egal, wie gut Laschet es machen würde, es ist unwahrscheinlich, dass die Überschriften am Ende lauten werden: "Laschet schlägt sich bei Jung und Rezo ganz hervorragend". Gewinnen lässt sich also nicht viel. Daher ist die Frage für die CDU lediglich: Unter welchem Umständen ist der Schaden am geringsten? Wenn Laschet absagt, weil ihm dann unterstellt wird, er kneife sich vor dem Gespräch mit den jungen Leuten – oder wenn er teilnimmt und damit ein vielleicht über Tage negatives Echo produziert? (MDR)

Nur die Grünen sind so blöd, offensiv ihre Schwächen im Wahlkampf zu betonen. Laschet wäre völlig bescheuert, würde er zu Rezo gehen. Selbst bei Tilo Jung, der inzwischen eine deutlich parteineutralere Ebene bietet als früher, gäbe es für ihn aktuell wenig zu gewinnen. Warum also sollte er das tun? Die Generation unter 30 wählt a) sowieso fast nicht und b) sicher nicht CDU. Dafür bekäme er so oder so wegen eines irrelevanten Verstoßes gegen die Junge-Menschen-Etikette und dem Zeigen von Unwissen auf dem Gebiet schlechte Presse. Natürlich bleibt er weg. Olaf Scholz ist auch nur da, damit sein Name im Zusammenhang mit "Kanzlerkandidat" genannt wird. Wenig überraschendes hier.

Montag, 21. Juni 2021

Stars und Sternchen

 

Dieser Tage wird wieder einmal viel über das wichtigste Thema gestritten, das die deutsche Politik bewegt: geschlechtergerechte Sprache. Es ist zum identitätspolitischen Thema par excellence gemacht worden, und nichts bringt das konservative Blut so zuverlässig in Wallung. Ich möchte den politischen Streit rund um die geschlechtergerechte Sprache einmal genauer aufdröseln, aber bevor wir das machen können, erst einmal ein kurzer Überblick, worum es überhaupt geht.

Der Grundkurs

Im Zentrum der geschlechtergerechten Sprache - und der Kritik an ihr - steht das so genannte "generische Maskulinum". Gemeint ist damit, dass die männliche Form im Deutschen grammatikalisch der Standard sei und Frauen und andere Identitäten "mitgemeint" seien. Sehr häufig wird unter Verweis auf diese grammatische "Regel" geschlechtergrechte Sprache als unzulässiger Eingriff in die Sprache abgelehnt. Allein, die Probleme fangen hier bereits an: das "generische Maskulinum" existiert nicht. Weder ist es eine Art offizieller Regel der deutschen Sprache, noch tut es, was es angeblich tut, nämlich andere "mitmeinen". Es gibt zahlreiche linguistische Studien, die das belegen, und keine einzige, die die angebliche Funktionsweise des "generischen Maskulinums" nachweisen konnte.

Die Frage, ob man dem mit geschlechtergerechter Sprache abhelfen will, ist damit keine linguistische oder grammatikalische; sie ist kein Verstoß gegen die korrekten Regeln der deutschen Sprache. Die Frage ist allein politisch (im weitesten Sinne, also im politischen Nahbereich der Menschen; es wird dazu keinen Bundestagsbeschluss geben, und ein solcher wird auch von niemandem angestrebt, ganz egal, wie oft CDU und AfD den Eindruck zu erwecken versuchen).

Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass es "die" geschlechtergerechte Sprache nicht gibt. Stattdessen existieren eine Reihe von verschiedenen Ansätzen nebeneinander her, die alle mehr oder weniger breitflächig in Gebrauch sind und alle ihre spezifischen Vor- und Nachteile aufweisen.

Bereits seit längerer Zeit in Gebrauch und deswegen meist gar nicht als geschlechtergerechte Sprache wahrgenommen ist die Doppelnennung. Wir kennen sie vermutlich noch aus der Persiflage beim Bürgermeister in "Benjamin Blümchen": "Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger". Diese Form verzichtet auf irgendwelche Sonderzeichen, hat aber den Nachteil, Texte signifikant zu verlängern. Ich bin kein großer Fan, weil es einerseits sehr unhandlich ist - ich erinnere mich daran, dass Gregor Gysi das in seiner Autobiographie verwendet hat, und das war furchtbar - und andererseits keinen Raum für nicht-binäre Personen lässt.

Ebenfalls bereits seit Längerem bekannt ist so genannte Binnen-I; ich kann mich daran erinnern, das zu meinen maskulistischen Zeiten im Studium als Feindbild Nummer 1 auserkoren zu haben (falls ihr mich noch nicht lange genug kennt, vor 2014 war ich ein harter Anti-Feminist und wäre an der vordersten Front der Identitätskrieger gegen geschlechtergerechte Sprache gewesen). Auf das Problem mit dieser Schreibweise hat mich unser Stammkommentator DerWaechter hingewiesen: es bezieht nicht-binäre Personen nicht mit ein. Daher bin ich von dieser Schreibweise abgekommen. Gleiches gilt für Alternativen zu dieser Schreibweise, etwa einem "Kommentator/-innen" oder Ähnlichem.

Zuletzt bleibt der vielzitierte Gender-Stern, dessen Nutzung ich mir mittlerweile angewöhnt habe. Die Idee hier ist, dass nicht-binäre Personen sich im Stern wiederfinden, während die beiden klassischen Geschlechter im traditionellen Wortaufbau stecken.

Keine dieser Varianten ist perfekt. Sie alle haben ihre Vor- und Nachteile und sind letztlich Krücken, aber bislang hat noch niemand eine Variante gefunden, die alle Probleme auf einmal löst. Diese Varianten existieren daher nebeneinander her und sind mal mehr, mal weniger gebräuchlich.

All das hat Anatol Stefanowitsch noch einmal in einem Erklärartikel detaillierter und mit Zahlen- und Studienverweisen aufgeschrieben, wenn jemand noch etwas tiefer einsteigen will.

Im Übrigen: ob Binnen-I oder Genderstern, entgegen weitverbreiteter Annahmen (die ich früher selbst geteilt habe) handelt es sich nicht nur um Schriftformen; in der Aussprache funktioniert das durch den so genannten "glottal stop" (Glottaler Plosiv), also eine kurze Pause im Wort (Kommentator-PAUSE-innen). Auch das ist, entgegen der weit verbreiteten Behauptung, kein unnatürlicher Vorgang. Worte wie Umarmung (Um-armung) oder Spiegelei (Spiegel-ei) benutzen den glottalen Plosiv bereits seit vielen Jahrhunderten, ohne dass es dazu Interventionen einer nicht-existenten Sprachpolizei benötigt hätte.

Eine Umfrage im Juni

Ein weiteres sehr verbreitetes Argument gegen geschlechtergerechte Sprache ist, dass Umfragen immer wieder zeigen, dass eine breite Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist. Das ist grundsätzlich richtig, aber es ist eine Merkwürdigkeit der ganzen Debatte, dass es trotz der Prominenz des Themas bisher keine belastbare Datenbasis zu den Einstellungen der Bevölkerung gibt.

Das mag auf den ersten Blick verwundern. In den Schlagzeilen war jüngst unter dem Titel "Ist Gendern wirklich so unbeliebt?" eine Umfrage von Infratest dimap für die Welt am Sonntag. Zwei Drittel der Befragten lehnen demzufolge geschlechtergerechte Sprache ab. Allein, die Umfrage leidet unter einer Reihe schwerwiegender methodischer Probleme, wie "Geschickt Gendern" schön herausgearbeitet hat:

Genderneutrale Sprache wird als sogenannte “Gendersprache” bezeichnet. Diesen Begriff lesen wir in letzter Zeit häufig im Zusammenhang mit ablehnender Haltung zu gendergerechter Sprache. Er wird meistens abwertend verwendet und suggeriert etwas Trennendes: dass gendergerechte Sprache eine andere Sprache als die allgemeine (deutsche) Sprache ist. [...] Das Binnen-I wird nicht mit einer Pause gesprochen, sondern wie das generische Femininum. Die gendergerechte Schreibweise Binnen-I “WählerInnen” wird der normalen Schreibweise “Wählerinnen und Wähler” entgegengesetzt. Dabei ist “Wählerinnen und Wähler” selbst eine gendergerechte Schreibweise. [...] Um die hitzige Debatte um gendergerechte Sprache auf die Basis von Fakten zurückzuholen, braucht es dringend differenzierte, unabhängige wissenschaftliche Studien. z.B. Studien zur Akzeptanz bzw. Ablehnung von gendergerechter Sprache, sowohl im passiven Lesen als auch im aktiven Schreiben und Sprechen oder Studien zur Beliebtheit oder Unbeliebtheit der verschiedenen Möglichkeiten gendergerechter Sprache.

Dazu kommt, dass die Umfrage die eigentlich populärste und in der Diskussion gerade hervorgehobenste Schreibweise - den Gender-Stern - überhaupt nicht abgefragt hat. Wenn ich für den Stern, aber gegen das Binnen-I bin, wie antworte ich in so einer Umfrage?

Aber: letztlich teilt diese Umfrage dieselbe grundlegende Schwäche, die alle Umfragen zu issues haben. Eines meiner Lieblingsbeispiele sind Umfragen zur Einführung des Mindestlohns und zum Abzug aus Afghanistan aus den 2000er Jahren. Die LINKE hat damals immer viel politisches Heu damit gedroschen, dass jeweils deutlich über 70% der Deutschen für beide Maßnahmen sind, aber mit Ausnahme der LINKEn im Bundestag keine Partei dafür. Die populistische Argumentation war, dass deswegen nur die LINKE den Volkswillen vertrete, während alle anderen - man ahnt es - gegen die breite Mehrheit des Volkes sind und deswegen irgendwie abgehoben, elitistisch und undemokratisch seien. Diese Vorwürfe in grüne Richtung kommen heute vor allem aus der Richtung der CDU und FDP, aber das macht sie nicht plötzlich edler oder richtiger.

Ein unter Demoskopen weithin bekanntes, den Medien aber irgendwie noch nie einleuchtendes Fakt der Wissenschaft ist, dass Umfragen, die die Meinung zu einem bestimmten Thema abfragen, praktisch wertlos sind, solange sie nicht auch abfragen, wie wichtig es den Leuten ist. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre eine Umfrage, in der fast 70% der Deutschen angeben, dass sie sich durch den Klimawandel bedroht fühlen. Das hat für viel Begeisterung in progressivne Kreisen gesorgt und für entsprechende Vorwürfe an die CDU, das Thema, das die breite Mehrheit so wichtig findet, zu ignorieren.

Das Gleiche gilt für alle Umfragen, die nach irgendwelchen Maßnahmen fragen. "Soll X eingeführt werden" bringt regelmäßig Zustimmungsraten jenseits der 50%, weil nie nach den Kosten gefragt wird oder wie wichtig es den Leuten ist. "Soll X eingeführt werden, wenn dafür Y nicht mehr bezahlt werden kann/wenn dafür die Steuern steigen müssen" oder "Soll X eingeführt werden, wenn dafür Y nicht gemacht werden kann" wäre die eigentlich richtige Frage, und nur sie zeigt, wie die Menschen wirklich über ein Thema denken. Sprich, jede Umfrage zu einem Thema, die nicht versucht herauszufinden ob es den Befragten wichtig ist, ist wertlos und wird nur für das Dreschen politischen Heus benutzt, selbst wenn sie ansonsten methodisch sauber wäre - was die oben zitierte Infratest-Umfrage nicht einmal ist.

Noch schlimmer war eine Allensbach-Umfrage für die FAZ, in der über 70% gegen geschlechtergerechte Sprache waren - u.a. dank einer unglaublich manipulativen Frage ("Wenn jemand sagt: ‚Man sollte in persönlichen Gesprächen immer darauf achten, dass man mit seinen Äußerungen niemanden diskriminiert oder beleidigt. Daher sollte man z. B. neben der männlichen auch immer die weibliche Form benutzen.‘ Sehen Sie das auch so, oder finden Sie das übertrieben?"), die ich selbst auch als "übertrieben" beantwortet hätte.

Kurz: Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass es eine große Menge Menschen gibt, die geschlechtergerechte Sprache im Vakuum ablehnen. Die Menge derer, für die es ein wahlentscheidendes Thema ist, dürfte bereits wesentlich kleiner sein. Genauso wie beim Afghanistan-Einsatz lehnt die Mehrheit die jeweilige Politik zwar ab - ihre Wahlentscheidungen richtet sie aber nicht danach aus. Dazu passt, dass die Positionen innerhalb der CDU recht differenziert sind, wesentlich mehr, als man von den Krachmacher*innen her erwarten dürfte.

Auch für die Umfragen-Thematik gibt es eine etwas ausführlichere Kritik von Anatol Stefanowitsch für diejenigen, die sich ein bisschen tiefer einlesen wollen.

Also viel Lärm um nichts?

Wird hier also aus einer Mücke ein Elefant gemacht? Auch das wäre sicherlich falsch. Denn die Ablehnung gegenüber der geschlechtergerechten Sprache ist ja real. Auch wenn sie nur wenige eingefleischte Identitätskrieger*innen eine alles entscheidende Rolle einnimmt, so ist doch die instinktive Ablehnung in weiten Teilen der Bevölkerung - um es ganz klar zu sagen: einer deutlichen Mehrheit - weit verbreitet. Das zu ignorieren wäre nicht nur intellektuell unredlich, sondern auch wenig hilfreich.

Auch das Unwohlsein, das diese Menschen mit der geschlechtergerechten Sprache haben, ist real. Und im Übrigen auch völlig nachvollziehbar. Denn es geht ja gerade nicht um eine rein sprachliche Spielerei. Denn hinter der Verwendung geschlechtergerechter Sprache steckt, da haben alle Kritiker*innen ja Recht, die Absicht, das Denken der Menschen zu verändern. Konkret sollen Frauen und nicht-binäre Personen sichtbar gemacht und bewusst mitgedacht werden - was übrigens wie die weiter oben verlinkten Studien belegen, ziemlich gut funktioniert.

Die Sichtbarmachung allerdings ist notwendigerweise mit einem Wandlungsprozess verbunden, und dieser Wandlungsprozess gefällt all jenen nicht, die entweder mit dem Status Quo zufrieden sind oder aber Veränderungen fürchten. Und, Hand aufs Herz, die meisten Menschen fürchten Veränderungen in wenigstens einigen Gebieten. Entweder fürchten sie gesellschaftlichen Wandel, wie das was wir gerade erleben. Oder sie fürchten Veränderungsdruck im beruflichen Umfeld. Oder sie möchten nicht aus der Gemeinde wegziehen, in der sie schon ihr ganzes Leben verbringen (was ich sehr gut nachvollziehen kann). Das ist alles nur menschliche Natur.

Nehmen wir nur dieses Beispiel von Richard Meusers anlässlich der Regenbogen-Ikonik, die zum EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn im Juni 2021 aufgefahren wurde:


Das ist natürlich Unsinn. Meusers erinnert sich nur an eine Zeit, in der die Identitätspolitik im Fußball ihn angesprochen hat. Und das tut sie nicht mehr. Übrigens schon seit Längerem nicht mehr; so markierte etwa die WM 2006 einen deutlichen Wendepunkt, an dem Fußball seine exklusive Männlichkeit verlor. Seither sind Fußballfans geschlechterneutral. Auch das hat nicht allen gefallen, um es einmal milde auszudrücken. Und wenn mit dem Profi-Fußball eine der letzten Bastionen gesellschaftlich anerkannter Homophobie fällt (die Bundeswehr darf das ja seit 2017 auch nicht mehr), dann werden Menschen, die homophob sind, das natürlich als einen Wandel begreifen, der ihnen missfällt.

Dasselbe passiert beim Gendern. Es werden Gruppen sichtbar gemacht, die vorher nicht sichtbar waren. Damit verbunden ist eine Anspruchhaltung: "Wir wollen gesehen werden! Wir wollen teilhaben!" Daran stoßen sich all jene, die im Status Quo die Gewinner*innen sind, weil durch diese Sichtbarmachung ihre Privilegien angegriffen und abgebaut werden. Und wenn es nur das Privileg ist, in sprachlichen Konventionen der "Standard" zu sein und dieses nun zu verlieren.

Aladin el-Mafaalani hat dieses Phänomen in seinem Buch "Das Integrationsparadox" hervorragend beschrieben. Die Sichtbarmachung bisher unsichtbarer Gruppen führt zu Konflikten. Und die meisten Menschen mögen keine Konflikte. Daher kommt auch das Fehlurteil, die Meinungsfreiheit werde eingeschränkt. Die Albernheit der Allensbach-Umfrage, die dieses Ergebnis brachte, wird eigentlich nur von der zugehörigen Schlagzeile der BILD getoppt:

Ich zweifle nicht daran, dass die meisten Leute die Wahrnehmung haben, die Meinungsfreiheit wäre eingeschränkt. Aber es ist nicht korrekt. Was wir stattdessen haben ist eine Verschiebung: Dinge, die früher praktisch nicht diskutiert werden konnten, werden es plötzlich, und Dinge, die früher selbstverständlich waren, werden nun diskutiert. Dinge, die früher diskutiert wurden, sind gänzlich in den unsagbaren Bereich gerutscht. Das passiert ständig und ist nichts Neues.

Übertritt in die reale Welt

Das allerdings ändert nichts daran, dass jeder Veränderungsprozess anstrengend ist, voller Sackgassen, Rückschläge, Übertreibungen und Problemen. Sollen etwa Behörden die geschlechtergerechte Sprache in ihrer Kommunikation vorschreiben? Dagegen spricht sich selbst ein Genderstern-Fan wie Stefanowitsch aus. Sind Formen geschlechtergerechter Sprache nicht große Hürden für das Erlernen der deutschen Sprache, gerade für Nicht-Muttersprachler? Au contraire. Die Antworten auf diese Fragen sind nicht selbstverständlich, und es gibt noch viele mehr, die ich hier nicht angeschnitten habe. Ich möchte auch erneut betonen, dass es klare Nachteile für diese Art der Sprache gibt.

Die realsten Auswirkungen aber hat die Debatte im politischen Bereich, weil sie sich so hervorragend zur Mobilisierung der eigenen Basis eignet. So können eher konservativere Menschen sich in ihrer Nöhe zu Volkes Stimme sonnen, während die progressive Speerspitze virtue signalling betreiben kann. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist wenig überraschend, welche der beiden Strategien erfolgversprechender ist, weswegen es die Grünen-Funktionärselite auch gerne sehen würde, das Thema ganz zu ignorieren (das aber nicht kann, weil die Basis sie nicht lässt), während es bei der CDU schon vor Monaten als Topthema des Wahlkampfs auserkoren wurde.

Auch das ist natürlich virtuel signalling, nur eben in die andere Richtung. In diese Reihe gehört auch der CDU-Wahlkampfgag, Gendern zu verbieten. Es ist die CDU-Version des Veggie-Day, nur dass es anstatt auf weit hinten im Wahlprogramm der Entdeckung durch die Springerpresse harrend zum zentralen Thema aufgebauscht wird. Friedrich Merz hat da seinen politischen Instinkt gezeigt, als er sich prominent mit der Verbotsforderung in Szene setzte. Rechtlich geht das natürlich nicht, aber wenn es um die eigene Sache geht, war die CDU noch nie sonderlich rechtsstaatlich veranlagt.

Wirklich ernstzunehmen ist das in Deutschland glücklicherweise nicht. Die CDU ist nicht Fidesz. Selbst Merz' Forderung - geschickt als allgemeines Verbot geframt -, den Behörden geschlechtergerechte Sprache zu verbieten, wird wenig Chance auf Durchsetzung haben. Man demonstriert gefahrlos Volksnähe.

Aber als Wahlkampfthema ist geschlechtergerechte Sprache eben potent, weil es zu einer Hervorhebung führt, wo die Mehrheit klar auf Seite der Union steht. Es wäre geradezu ein Dienstvergehen der CDU-Wahlkämpfenden, das nicht zu benutzen. Aber die CDU weiß eben auch, wie man Wahlkampf macht, im Gegensatz zu ihrer Konkurrenz.

Was bleibt also? Die geschlechtergerechte Sprache wird die Gemüter noch eine ganze Weile beschäftigen. Meine Prognose ist die Folgende: es wird weitere Experimente geben, mit welcher Schreibweise am besten die Ziele geschlechtergerechter Sprache zu erreichen sind. Andere Experimente werden aufgegeben (dazu gehört, da bin ich ziemlich sicher, jeder Versuch, der tatsächlich in die Grammatik eingreift, etwa die Schaffung einer neuen, neutralen Genus-Form). Irgendwann wird sich so etwas wie ein Konsens herausgebildet haben, und der wird dann Stück für Stück übernommen.

Das ist chaotisch und wird wahrscheinlich nie einheitlich gemacht werden. Als Beispiel dafür möchte ich den Abnagelungsprozess vom Begriff "Ausländer*in" nennen, der durch allerlei Konstruktionen rund um das sperrige Wort "Migrationshintergrund" ersetzt wurde, der neuerdings selbst wieder in die Kritik geraten ist. Aber solche Prozesse sind immer unschön, sind immer von Verwerfungen, Streits und Diskussionen begleitet. Warum sollte das hier anders sein? Was auch immer am Ende stehen wird, ich bin in einem sicher: es wird nicht das "generische Maskulinum" sein.

Romane über die sparsame Ehe führen zu klimaneutralen Parteiausschlüssen und höheren Löhnen bei den Abschlussnoten von FOX News - Vermischtes 21.06.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Fiscal austerity intensifies the increase in inequality after pandemics

The key finding is that austerity intensifies the extent of the rise in inequality in the aftermath of pandemics. As shown in the middle panel, episodes of high austerity lead to an increase in the Gini by about 0.55 points, considerably larger than the average impact shown in the left-hand panel. By contrast, expansionary fiscal policy considerably dampens the rise in inequality, as shown in the right-hand panel: The increase in the Gini is under 0.2 points and is not statistically significant. Early evidence points to adverse distributional impacts from COVID-19 (Blundell et al. 2020, Hacioglu et al. 2020, IMF 2021) occurring through a number of channels. The poor have been more prone to getting infected – in part because they are less likely to have the option of working from home – and to die if infected due to lack of access to quality healthcare. For instance, Brown and Ravallion (2020) found that infection rates were higher in US counties with a higher share of African Americans and Hispanics. There are also indirect and longer-lasting effects from job loss and other shocks to income, particularly for workers in informal employment with limited access to health services and social protection. However, our results suggest that a long-lasting increase in inequality need not be a foregone conclusion and is contingent on the fiscal policies adopted by governments. (Davide Furceri/Prakash Loungani/Jonathan D. Ostry/Pietro Pizzuto, voxeu)

Dieses Ergebnis kommt für mich jetzt wenig überraschend. Selbst Verteidiger*innen der Austeritätspolitik dürften nicht ernsthaft bezweifeln, dass sie die Ungleichheit erhöht. Gerade in Deutschland ist der Zusammenhang ziemlich offensichtlich: der Gini-Koeffizient, der Ungleichheit misst, ist in Deutschland vor Berechnung der Abgaben und staatlichen Transferprogramme sehr hoch; Abgaben und staatliche Transfers wirken dann quasi im Nachgang nivellierend. Wenn ich also dort streiche, bleibt das Ungleichheitsniveau höher.

Dazu kommt natürlich, dass bei Austeritätsmaßnahmen die Kürzungen von Transfers häufig die ärmeren Bevölkerungsschichten treffen, weil die sich schlechter wehren können. Während die Mittelschicht bei der Abschaffung der Pendlerpauschale oder der Absetzbarkeit des Firmenwagens ordentlich Krach macht und Stimmen gefährdet, ist das weniger der Fall wenn die Mittel für das Förderprogramm für Kinder aus Hartz-IV-Familien gestrichen wird. Gerade in den USA kann man ja auch eine schier endlose Kreativität bei Kürzungen des ohnehin schon nicht eben großzügigen Food-Stamp-Programms sehen, während umgekehrt die Subventionierung der Mittelschichten-Hypotheken nicht angetastet wird.

2) Literarischer Trumpismus – Constantin Schreibers “Die Kandidatin”

Hauptsächlich ist der Roman, wie zuvor Schreibers Sachbücher, ein Kommentar zur deutschen Einwanderungspolitik der letzten Jahre und diesmal insbesondere auch ein Angriff auf eine linke Identitätspolitik, die Deutschland und die Welt bis kurz vor den Kollaps herabgewirtschaftet und gespalten haben. Die literarisierte Sozialprognose muss man als Diagnose der Gegenwartsgesellschaft verstehen. Sie ist kultureller Bestandteil einer gesellschaftlichen Affektpolitik, die aktuelle Sehnsüchte und Ängste reproduziert. [...] So begrüßt gleich der erste Satz des ersten Kapitels (den auch Brussig zitiert) im Goebbels-Sprech mit “Wollt ihr absolute Diversität?”, den der Text einem jungen linken Aktivisten “mit Vielfaltsmerkmal” (S. 5) in den Mund legt. [...] Als arabische Frau funktioniert sie auf der orientalistischen Erzählebene des Romans eben auch als sexuelle Projektionsfläche. [...] Sabahs Bruder gehört zu einer kriminellen Gang und hat bei einem illegalen Autorennen in Berlin Menschen verletzt. Sabah Hussein selbst ist Teil der korrupten Finanzelite mit geheimer Wohnung und Sportwagen in Monaco, kanzelt regelmäßig Kinder, Arbeiterfamilien und Unternehmer mit Belehrungen ab und unterhält seit ihrer eigenen Kindheit Kontakte zu islamistischen Fundamentalisten. [...] In Deutschland hat der Mietendeckel dazu geführt, dass Menschen nun in Containern leben, weil normale Wohnungen für Vermieter unrentabel geworden sind, während gesetzlich Krankenversicherte auf Intensivstationen unter Umständen nur noch Schmerzmittel erhalten. Per Gesetz werden Menschen unter anderem auf weiße “Hautpigmentierung” (S. 34) und Heterosexualität untersucht und können dafür ihre Arbeit verlieren [...] Die “progressiven Frauen” tragen einen “einfarbigen Genderkaftan, der jegliche Körperformen neutral verhüllt” (S. 22) und das Tragen von Schleiern wird bei Frauen staatlich gefördert. (Peter Hintz, 54books)

Das Erschreckende ist, dass jemand, der solche Grütze zusammenfantasiert, einer der profiliertesten Nachrichtensprecher der Nation ist - und das beim angeblich so linksschlägigem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Warum genau das Veröffentlichen eines von rechtsradikalen Verschwörungstheorien getränkten Bestsellers keine Gefährdung der Neutralität der Öffentlich-Rechtlichen ist, aber ein Tweet mit Glückwünschen zur Wahl zur Grünen-Vorsitzenden schon, bleibt das Geheimnis mancher Leute.

Im Übrigen: Natürlich darf Schreiber dieses Buch veröffentlichen und beim ÖR Nachrichten verlesen. Ich halte den Mann für einen ziemlichen Spinner. Aber solange er seine Meinung auf den privaten Bereich beschränkt - und auch sein Buch ist ein Bestseller, weil es von einem der bekanntesten Gesichter Deutschlands geschrieben wurde, selbstverständlich, aber das ist trotzdem Privatbereich - und aus den ÖR heraushält, kann er das machen.

Bemerkenswert finde ich noch einen letzten Aspekt. Schreiber ist mit Sicherheit ein hoch intelligenter und hoch qualifizierter Mann, das sollte außer Frage stehen. Trotzdem steckt er bis zum Kinn in einer Welt abstruser Verschwörungstheorien. Falls noch jemand einen Beleg dafür gebraucht hat, dass man nicht doof sein muss, um Verschwörungstheorien anzuhängen, hat man den hier. Man hört das ja leider immer wieder; nichts könnte falscher sein.

3) Gay marriage is the left's biggest culture war victory

As journalist Matthew Yglesias notes in a tweet, Republicans should be grateful that Supreme Court justice Anthony Kennedy (author of the landmark decision Obergefell v. Hodges) took the issue out of the political arena, since the GOP otherwise would have found itself on the wrong side of a potent wedge issue for a long time to come. (Though one wonders how long, given that the new poll also shows that a solid majority of Republican voters — 55 percent — support gay marriage as well.) [...] But gay marriage is different. I suspect that's because it built on the way people had already learned to think about marriage — as a personal choice based on a subjective experience of love for another person. If that's the case, then the left can certainly celebrate its victory on the issue. But it shouldn't treat that success as a broader sign of conservative weakness across the culture war's many other fronts. (Damon Linker, The Week)

Dasselbe Phänomen haben wir in Deutschland ja auch. In der gesamten Welt ändert sich die Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe ("Ehe für Alle"); letztlich sind fast alle Länder auf dem gleichen Weg. Einzig die Geschwindigkeit dieses Wandels ist unterschiedlich. In Europa sind Länder wie Polen oder Ungarn wesentlich "früher" in dieser Entwicklung als etwa Deutschland oder Dänemark, aber die Richtung, in die diese Gesellschaften laufen, ist dieselbe - homophobischen, dem Rechtsstaat hohnlachenden Politiken eines Orban zum Trotz.

Man sollte daraus, wie Linker zurecht warnt, keinen großen Siegestrend des Progressivismus machen. Aber: die Tendenz, dass die Progressiven auf gesellschaftspolitischem Gebiet Siege einfahren, ist unleugbar. Ein guter Teil des AfD-Erfolgs erklärt sich ja aus dem Backlash derjenigen dagegen, die diese Entwicklungen ablehnen. Sie sind nur eben eine Minderheit, und sie werden immer kleiner. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich niemand mehr daran erinnern will, dass in Deutschland überhaupt einmal jemand gegen die Ehe für Alle war, genauso wie sich heute ein Friedrich Merz sehr ungern daran erinnert, dass er gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe war (und immer noch ist, aber er sagt das nicht mehr laut).

4) Für immer dein Feind?

Parteiausschlüsse sind nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein politisches Mittel und müssen dies auch bleiben. Mit diesem Verhältnis ist nun der neuralgische Punkt der Debatte um die WerteUnion, aber auch um Boris Palmer, getroffen. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern die ordnungsrechtliche Untätigkeit der Parteispitzen mit diesen Abweichlern maßstabsbildend wirkt. Wenn sich andere Mitglieder in Bezug auf gegen sie gemachte Vorwürfe auf Präzedenzfälle wie Otte und Palmer berufen können, dann schwindet politischer Spielraum für Ordnungsmaßnahmen, dann ist Handlungsbedarf angezeigt, um nicht langfristig fruchtbaren Boden für programmatische Schismen zu bieten. Tatsächlich führte das Berliner Kammergericht diesen Gedanken in einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahr 2014 an und befand den Ausschluss des Hamburger Mitglieds der SPD und des Abgeordnetenhauses Bülent Çifltik als unverhältnismäßig, weil sich die SPD gegenüber Abweichlern wie Thilo Sarrazin bislang so milde gezeigt habe. [...] Das lange Zögern der Grünen gegenüber Palmer könnte damit für den Parteivorstand der Grünen noch unliebsame Folgen haben. Unabhängig vom Ausgang eröffneter Parteiausschlussverfahren nämlich dann, wenn die Schiedsgerichte vergleichbare Fälle entscheiden müssen. Und auch in Bezug auf Max Otte und seine WerteUnion schafft der Vorstand der CDU Fakten in Bezug darauf, wie sich ihre Mitglieder inhaltlich und organisatorisch zur AfD verhalten dürfen, auch wenn er das vielleicht nicht möchte. Die Verfassung knüpft demokratische Einflussmöglichkeiten an Verantwortlichkeiten. Innerparteilich folgt aus der mangelnden Verantwortungsübernahme in Bezug auf die Umgrenzung und Einhaltung der Grundwerte einer Partei weniger Macht für den Vorstand im Umgang mit inhaltlichen Abweichlern. Wenn das stimmt, sollten Armin Laschet und die CDU sich dringend überlegen, ob es nicht Zeit ist, sich ihrem Gespenst zu stellen. (Sven Jürgensen, Verfassungsblog)

Parteiausschlüsse sind echt ein schwieriges Feld. Einerseits macht es keinen Sinn, wenn Parteien Mitglieder nicht ausschließen dürfen, die nach Ansicht der Partei deren Werte nicht teilen. Auf der anderen Seite ist es natürlich gefährlich für die innerparteiliche Demokratie, wenn Abweichende immer sofort ausgestoßen werden könnten. Die auch verfassungsrechtlich hervorgehobene Stellung der Parteien macht das noch einmal schwieriger.

Spannend finde ich den im Ausschnitt von Jürgensens Artikel hier aufgeworfenen Problembereich des Präzedenzfalls. Wenn nämlich zu lange gezögert wird, in Fällen wie Sarrazin, Palmer oder Maaßen den Stecker zu ziehen, wird das Handeln beim nächsten Mal deutlich schwieriger. Da greifen einfach rechtsstaatliche Prinzipien. Feigheit wird hier hart bestraft, aber bedauerlicherweise waren die Parteien in allen drei genannten Fällen nicht gerade mutig.

5) „Die Löhne müssen steigen“ (Interview mit Clemens Fuest)

Löst das schon alle Probleme am Arbeitsmarkt?

Nein. Wenn Fachkräfte knapp sind, müssen die Löhne steigen. Als Ökonom würde man ja sagen: Fachkräftemangel gibt es nicht, sondern nur Knappheit. Es ist wie bei Diamanten: Sie sind knapp und teuer, trotzdem reden wir nicht von einem Diamantenmangel. Wer sich über Fachkräftemangel beschwert, sollte die Löhne erhöhen.

Jetzt noch die Löhne erhöhen? Nach der Pandemie? Da werden sich einige Betriebe nicht freuen.

So funktioniert aber die Marktwirtschaft. Das ist wie bei den Diamanten: Die hohen Preise haben auch den Sinn, dass Leute aus dem Markt ausgeschlossen werden. Viele Leute hätten gerne einen Diamantring, aber sie entscheiden sich dagegen, weil es zu teuer ist. So haben Lohnerhöhungen auch die Funktion, dass Fachkräfte an den Stellen nicht eingesetzt werden, wo sie weniger dringend gebraucht werden. Insofern sind Lohnerhöhungen selbst dann richtig, wenn deswegen keine einzige Fachkraft zuwandert. (Patrick Bernau/Maja Brankovic, FAZ)

Es ist das Dauerthema, dass Liberale zwar gerne den ArbeitsMARKT beschwören, wenn es darum geht, Schutz für Arbeitnehmende abzubauen, aber gerne gegen Marktmechanismen wettern, wenn diese mal in die umgekehrte Richtung wirken. Der Arbeitsmarkt ist eben kein normaler Markt, war es nie und wird es nie sein, und deswegen greifen die Regeln von Angebot und Nachfrage auch nur bedingt. Weder können die Löhne in Branchen unter Druck beliebig fallen, noch können sie in Branchen im Aufwind beliebig steigen.

Von diesen grundsätzlichen Mechanismen abgesehen aber stimme ich Fuest durchaus zu, dass die Löhne steigen müssen. Und zwar nicht nur für Fachkräfte in einigen wenigen Branchen; das Lohnniveau ist allgemein zu niedrig. Das gilt einerseits innerhalb von Deutschland; unser Binnenkonsum schwächelt schon seit Langem. Auch die Unterfinanzierung der Sozialsysteme hängt da ja mit dran, Stichwort Rente. Das gilt aber auch für Europa, wo das deutsche Lohndumping für gefährliche Unwuchten sorgt, die zwar einerseits den deutschen Exportboom befördern, aber den Keim für die nächste Wirtschaftskrise bereits in sich tragen - die dann auch Deutschland teuer kommt.

6) Brian Stelter on How the 2020 Election “Radicalized” Fox News (Interview mit Brian Stelter)

You write about people inside Fox who are committed to reporting the real news—how many of them are there? And how have the changes the network has undergone over the last year affected them?

I had a staffer who said, “It’s really emotionally taxing to do this job. We denied the pandemic, and now we’re denying the election outcome.” Those people who were in on it, so to speak, who saw the denialism for what it was, who were uncomfortable with being a part of it—they exist. But they’re not on the air very often. And they’re drowned out by the overriding agenda of the network. The people who are getting booked are true believers. The true believers tell themselves a story that a lot of Republicans tell themselves: “Our cause is just. Our cause is right. Trump is an imperfect vessel, but the real threats are from China and antifa and socialists.” They tell themselves they are part of a cause that is much bigger than on their hour of Fox. The Fox of 2021 is different even than the Fox of 2019. That’s where Foxologists—either people who appreciate the network or who want to vanquish it—need to recognize how it’s changed and how it’s different. The number of news hours has gone down. The number of liberal guests has gone down. I had a commentator say to me, “Fox is a really different place than it was preelection.” This person has seen changes even in the last six months, in terms of how radical, how extreme the content is. 

Along those lines, you write in Hoax about the decline of Fox’s news division and the angst of the few remaining journalists at the network. 

The opinion side is this ever-expanding blob that’s swallowing up the news division. That’s what it is. If you view Fox News as two things [operating] as one—a giant opinion operation and a relatively small news operation, opinion is a blog that is swallowing up the news side. I know it’s archaic to even talk about these two sides because obviously the news side reflects GOP priorities and covers conservatives’ concerns more than anything else. If you go down the list of what makes a news division, Fox has a news division. However, they don’t have a single bureau in Asia. They don’t have a single bureau in Africa. They basically only have two overseas outposts: London and Jerusalem. This is such a bare-bones news division that they were covering the spread of Covid in China from London! There are clear, undeniable data points that show the weakness of the Fox news division. Also, there are all the people who left who have not been replaced. What’s happened in the last couple of years is that Fox correspondents have quit and joined CNN or CBS or other networks or have left the business altogether in some cases, which is very revealing. That hurts morale. It means there are even fewer reporters to cover the news. And it means that Fox isn’t setting the news agenda, only the culture-war conservative agenda. It’s fun to play the game of “What’s the last big story Fox broke?” You get silence. 

And as all this has happened, Fox’s news side seems more and more invested in covering culture-war stories that drive its opinion programming.

The anti-wokeness stuff has been led by the news side; it’s been led by daytime [programming]. We say “culture war,” but there are specific narratives that Fox advances. One is about threats to white Christian-conservative culture. That’s about fear of losing status in an increasingly multicultural America: What others perceive as progress, Fox viewers perceive as loss. Another version of the culture-war story on Fox is, “Democrats are evil or stupid or silly or foreign or ignorant or illiterate.” There’s an anti-Democrat push. Slate comes out with a sex column where one woman says her husband won’t take off his mask during sex, which I thought was hilarious. And Fox’s take is, “Terrified Liberals Keep Their Masks On During Sex.” There’s this effort to demonize and otherize Democrats that just has no equivalent on the left. I think everyone has to be really conscious of that. I had a Fox staffer, as I was writing the last page of the paperback, say, “The Biden team has no idea what they’re up against.” Maybe in three years, we’ll say that Fox was immaterial to the Biden presidency. Maybe we’ll say that Fox barely made a dent. But it won’t be for lack of trying. (Alex Shepard, tmz)

Die Rolle von FOX für die Polarisierung der Politik in den USA und die einseitige Radikalisierung der GOP wird immer noch deutlich unterschätzt. Es ist spannend zu sehen, dass der Sender sich immer weniger Mühe gibt, noch als ernsthafter Nachrichtenkanal zu posieren. Aber Geld verdient wird eben mit dem Erzeugen eines Dauer-Hasses, und da schlägt niemand Murdochs Leute. Erregung und "engagement" zu erzeugen ist natürlich das Geschäftsmodell aller Kanäle, aber FOX treibt das Ganze in eine toxische, zerstörerische Richtung.

7) Milliarden gegen den Klimaschutz

Bis heute gewährt der Staat nämlich hohe Steuervorteile, die den Verbrauch klimaschädlicher fossiler Brennstoffe anheizen. Würden diese gestrichen, wäre dem Klima gedient und dem Finanzminister erst recht. Vor allem im Verkehrssektor häufen sich die Subventionen: von der Entfernungspauschale für Berufspendler über den Rabatt für Dieselkraftstoff und die Steuervorteile für Dienstwagennutzer bis zum steuerfreien Kerosin im Luftverkehr und der Befreiung von der Mehrwertsteuer für internationale Flüge. [...] Aber wäre eine Beschneidung der Steuervergünstigung nicht sozial ungerecht, weil sie etwa die Supermarktkassiererin, die täglich lange Strecken pendeln muss, weil sie sich keine Wohnung in der teuren Großstadt leisten kann, besonders hart treffen würde? „Die sozialen Härten werden überzeichnet“, antwortet Christian Hochfeld von Agora Verkehrswende. Empirische Studien zeigten klar, dass von der Pendlerpauschale wie vom Dienstwagenprivileg Besserverdiener am meisten profitierten. Der Geringverdiener, der täglich viele Kilometer zur Arbeit pendelt, ist eine Rarität: Dies trifft auf nur gut zwei Prozent der deutschen Haushalte zu. Beim Dienstwagen- und Dieselprivileg sieht dagegen die Wirtschaftsweise Veronika Grimm keinen Grund zur Nachsicht. Beide sollten abgeschafft werden, fordert die Wirtschaftsprofessorin an der Universität Erlangen-Nürnberg. „Nicht zielführend“ seien diese steuerlichen Vergünstigungen, sagt Grimm. Das Dienstwagenprivileg steigere zwar die Verkaufszahlen hochmotorisierter und teurer Autos und helfe damit der Industrie. „Aber gesamtwirtschaftlich ist das kein überzeugendes Argument“, sagt Grimm. [...] Bleiben noch die Steuervergünstigungen für den Luftverkehr. Die Airline-Branche verweist zwar gerne darauf, dass sie als einziger Verkehrsträger dem europäischen CO2-Emissionshandel unterliege. Aber in den vergangenen Jahren haben die europäischen Fluggesellschaften rund 80 Prozent ihrer Emissionszertifikate kostenlos erhalten, waren von dem Klimaschutz-Obolus also faktisch weitgehend befreit. Auch die Luftverkehrsteuer, welche die Branche in der Debatte als nachteilige Sonderbelastung anführt, werde durch den Steuervorteil des steuerfreien Kerosins mehr als wettgemacht, sagt der Finanzwissenschaftler Thöne: „Unterm Strich wird der Luftverkehr gegenüber anderen Verkehrsträgern klar bevorzugt.“ (Matthias Theurer, FAZ)

Falls übrigens jemand bezweifelt, dass das aktive Politik ist - im CDU-Wahlprogramm wird gefordert, die "positiven Aspekte des Fliegens" stärker zu betonen. Auch die letzte Angriffslinie gegen die Grünen fand unter diesen Auspizien statt, als Laschet mit Krokodilstränen in den Augen erklärte, dass nicht jede Familie sich steigende Flugticketpreise leisten könne. Dabei ist Fliegen bereits jetzt ein Luxusgut, über 60% der Deutschen saßen noch nie in ihrem Leben in einem Flugzeug. Dass Reisen per Bahn absurd teuer sind, interessiert die CDU dagegen gar nicht. Aber die Bahn schiebt eben auch keine so gewaltigen Summen in die Parteikassen.

Gleiches gilt für Altmaier - der ohnehin nur noch unbezahlter Praktikant der Energiewirtschaft zu sein scheint - und seine Pläne, die Industrie mit Milliarden zu subventionieren, damit sie klimafreundlicher wird. Grundsätzlich gute Idee, aber vielleicht würde es Sinn machen, die Milliarden an irgendwelche Benchmarks zu hängen oder Bedingungen zu formulieren? Der Mann wirft Steuermilliarden mit der Gießkanne raus, als ob er das Geld im Keller des Ministeriums drucken würde.

Die CDU hat erkannt, dass sie ohne Klimarhetorik keinen Wahlkampf mehr machen kann. Und mit dem ihr eigenen Geschick für Wahlkämpfe nutzt sie die entsprechende Rhetorik, um das, was sie ohnehin machen will, in opportune Sprachregelungen zu verpacken. Hut ab, da könnten gewisse andere Parteien sich eine Scheibe abschneiden.

8) All the Glory to Prevention - Jetzt gegen künftige Krisen wappnen

„There is no glory in prevention“ lautet der Satz, der dieses Phänomen beschreibt. Niemandem wäre vor zehn Jahren in den Sinn gekommen, einer Politikerin auf die Schulter zu klopfen, die zur Vorbereitung auf den größtmöglichen Schadensfall ermahnt hätte; die auf die Ausarbeitung von Plänen, regelmäßige Übungen und die ausreichende Ausstattung mit Mitteln gedrängt hätte. [...] Das Zauberwort lautet: Resilienz. Wer sich in Krisenreaktionen zu behaupten weiß, der lebt auch in guten Momenten besser. Dabei sind die Resilienzeigenschaften in Menschen durchaus vergleichbar zu denen in Gesellschaften. Resiliente Menschen sind ausgeglichen, anpassungsfähig und kreativ. Das Gegenteil von Resilienz ist die Verwundbarkeit, die Vulnerabilität. Wer darunter leidet, sucht häufig die Verantwortung für eigene Fehler bei anderen und verläuft sich unter Stress in Selbstzweifeln. Kommt uns das nicht aus der öffentlichen Debatte in Deutschland im Jahre 2021 bekannt vor? (Claudia Schmidtke, The European)

Ich stimme völlig zu, dass Resilienz gegen Krisen wohl eines der wichtigsten Felder für die Zukunft ist - gerade angesichts des Klimawandels - aber dass es gleichzeitig sehr schwer ist, dagegen überhaupt, geschweige denn adäquat, vorzusorgen. Man denke nur an den Kalten Krieg. Damals wurden noch Vorräte und Schlafplätze für die Bevölkerung vorgehalten, es gab Bunker und Luftschutzsysteme, aber trotzdem gab sich niemand der Illusion hin, dass das mehr als ein Placebo war.

Gerade im Fall von Naturkatastrophen aber sind Schlafmöglichkeiten, Ersatzgeneratoren, Vorräte aller Art aber von essenzieller Notwendigkeit, und wir müssen mit mehr Naturkatastrophen in Zukunft rechnen. Ich denke aber der größte Bedarf in Deutschland besteht im Gesundheitssystem. Wir haben Covid unter anderem deswegen glimpflicher überstanden als der angelsächsische Raum, weil unser Gesundheitssystem nicht so auf Kante genäht war wie deren. Aber egal um welche Katastrophe es geht - eine neue Pandemie, eine Hitzewelle, wer weiß was - wird es Menschen geben, die medizinische Hilfe brauchen. Hier stärktere Vorsorge zu treffen ist mit Sicherheit nicht falsch.

Das hat übrigens auch industriepolitische Auswirkungen, wenn es etwa darum geht, dass wir Schutzmaterial wie Masken künftig selbst herstellen können, oder genügend Kapazitäten für die Herstellung von Impfstoffen und Medikamenten besitzen. Die Covid-Pandemie sollte ziemlich deutlich gezeigt haben, wie unglaublich verwundbar die weltweiten Lieferketten sind.

9) "Quellenlage ist besser geworden“ (Interview mit Ulrich Herbert)

Hat Sie in der Forschungs­arbeit etwas überrascht?

Ja, wie unfassbar viele Zeugnisse aller Art dieser Massenmord hinterlassen hat. Dokumente der Täter und der Zuschauer vor allem, aber eben auch der Opfer. Die Vorstellung, das sei im Wesentlichen ein geheimer Vorgang gewesen, erweist sich so als abwegig. [...]

Ist die Erforschung der Judenvernichtung im Jahr 2021 – und symbolisch mit dieser Edition – abgeschlossen?

Nein. Die Frage, ob nicht endlich alles erforscht ist, wurde uns auch schon 2003 gestellt, als wir das Konzept für die Edition vorstellten. Die gleiche Frage hatte mir auch ein FAZ-Redakteur gestellt, der meinte, das Thema NS-Zeit sei mit der Wiedervereinigung jetzt doch erledigt. Das war 1990. Und in den 1960er Jahren, bei den Debatten um die Verjährung der Mord­taten der Nazis, ging es vor allem um diese Frage. Die Antwort ist immer: Nein. Diese Edition gibt wie alle historische Forschung ein Zwischenresultat, allerdings auf sehr breiter Grundlage. Und natürlich wird sich das durch neue Quellen und neue Fragen auch verändern. [...]

Ihre Mitherausgeberin Susanne Heim hat gesagt: Diese Bände sind der Versuch, sich von der Metadiskussion über den Holocaust zu entfernen und sich wieder dem Geschehen selbst zuzuwenden. Warum ist das wichtig?

Als Helmut Kohl einmal eine neue Ausstellung in Yad Vashem in Jerusalem besuchte, sagte er dort: Das weiß ich doch alles. Das ist eine verbreitete Haltung. Raul Hilberg hat vermutet, dass sein Buch, das Standardwerk über den Holocaust, zwar oft gekauft, aber fast nie gelesen wurde. Das ist dem Thema inhärent. Es existiert eine verständliche Scheu gegenüber der Empirie des Holocaust. Jeder hat eine Meinung und eine moralische Haltung gegenüber dem Judenmord. Ob er oder sie nun viel darüber weiß – oder nichts. Viel Meinung, wenig Kenntnis: Das ist zunehmend problematisch. (Stefan Reinecke, taz)

Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Leute versuchen mir zu erzählen, dass der Holocaust ausgeforscht ist und dass man da ja eigentlich nicht mehr groß aktiv werden muss, deswegen ist Reineckes Interview hier sehr willkommen. Doch nicht nur gibt es in der Forschung noch weiße Flecken, die der Bearbeitung harren; trotz der scheinbaren Allgegenwärtigkeit des Themas Holocaust im öffentlichen Diskurs ist der Wissensstand der Allgemeinheit zum Thema erbärmlich niedrig. Mittlerweile ist die gute deutsche Aufarbeitung des Holocaust zu einer Selbstbeweihräucherung ohne große Basis verkommen. Da gibt es genug zu arbeiten.

10) Schule ohne Noten – ein umstrittenes Thema, das am System der Selektion scheitert

Aus der Wissenschaft wisse man, dass Noten den Lernprozess negativ beeinflussen. «Noten bewirken, dass Kinder und Jugendliche das Interesse am Thema verlieren, sich einfachere Aufgaben aussuchen und in ihren Lernaktivitäten oberflächlich werden», sagt Wampfler. Dabei sei Lernen eigentlich etwas Menschliches und Einfaches. «Lernen hat eine integrierte Belohnungsfunktion. Weil ich danach etwas besser kann oder weil ich mein Verhalten ändern kann, bin ich motiviert, dazuzulernen.» Doch in der Schule sei Lernen mit Stress, Angst und Druck verbunden. Die Kinder würden Lernen, weil sie lernen müssen, um gute Noten zu bekommen. [...] Längst gibt es Beispiele von privaten Schulen, die ohne Noten oder Zeugnisse funktionieren. Zu den bekanntesten gehören die Montessori- oder die Rudolf-Steiner-Schulen. Lernfortschritte werden nicht mit Zahlen gemessen, sondern in Gesprächen diskutiert und Wortzeugnissen dokumentiert. Auch einige Volksschulen experimentieren mit neuen Formen der Bewertung. In der Sekundarschule Seehalde legen Schüler ihre persönliche Notenziele selber fest. In eigenem Lerntempo und mit so viel Unterstützung durch die Lehrpersonen, wie sie brauchen, versuchen sie diese zu erreichen. Das Modell nennt sich SOL und stellt das selbstorganisierte Lernen ins Zentrum. (Sarah Serafini, Watson)

Ich bin in den letzten Jahren immer mehr auf diese Sichtweise umgeschwenkt und teile sie mittlerweile praktisch vollumfänglich. Die oben genannten Argumente decken sich mit meinen Erfahrungen. Schüler*innen werden durch die Konzentration auf Noten weitgehend von ihrem natürlichen Lerndrang entwöhnt. Gleichzeitig, und das sind weitere negative Effekte, sorgt die Konzentration auf Noten für einen "Lernen für die Prüfung"-Effekt, der extrem künstlich ist und einem echten, nachhaltigen Lernen massiv im Weg steht. Und zuletzt erzeugen Noten ohnehin nur eine Schein-Objektivität, denn zwar bekommt man Zahlen, anhand derer man vergleichen kann, aber der gesamtgesellschaftliche Konsens, dass die Noten präzise Unterscheidungsmerkmale wären, ist ohnehin Illusion. Nirgendwo wurde dieses kollektive Beharren auf der Notenfiktion das so deutlich wie bei der Debatte um die "Corona-Abiturprüfungen".

11) Seehofers Haus diktierte Definition

Es ist nur ein Satz, aber der Streit über ihn sagt viel aus über die politische Gegenwart in der Bundesrepublik und die Geisteshaltung in manch ihrer Institutionen: „Im Unterschied zum Rechtsextremismus teilen sozialistische und kommunistische Bewegungen die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – interpretieren sie aber auf ihre Weise um.“ Im Januar hatte die taz darüber berichtet, wie sich über diesen Satz, der aus der ehemaligen Einleitung des Linksextremismus-Onlinedossiers der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) stammt, zuerst ein konservativer und rechter Shitstorm bildete; und wie dieser Satz, der von einem renommierten Wissenschaftler verfasst worden war, zuerst aus dem Netz genommen und dann durch eine unwissenschaftliche Linksextremismusdefinition des Verfassungsschutzes ersetzt worden ist. Schon damals war bekannt, dass die bpb diese Änderung auf Anweisung des Bundesinnenministeriums (BMI) vorgenommen hatte, denn die Bildungsbehörde ist dem Ministerium nachgeordnet, das BMI hat die Fachaufsicht über die bpb inne. Konkret heißt das, dass die bpb dem zuständigen BMI-Referat berichten muss und das Referat zugleich die Möglichkeit hat, in die Arbeit der bpb einzugreifen, wenn es einen Anlass dazu sieht. [...] Aus dieser Kommunikation geht einerseits hervor, welch zentrale Rolle die Bild-Zeitung und der Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vorsitzender des bpb-Kuratoriums, beim Eingriff des BMI gespielt haben. Andererseits ist der behördeninternen Kommunikation zu entnehmen, dass die Hausleitung, anders als zunächst behauptet, doch entscheidend in den Vorgang eingebunden gewesen ist – das BMI hatte im Februar gegenüber der taz die Frage verneint, ob Bundesinnenminister Horst Seehofer oder zuständige Staatssekretäre in die Überarbeitung des Einleitungstextes eingebunden gewesen seien. Das Ministerium hat also gelogen, um das Ausmaß dieses Vorgangs zu verschleiern, der sich nun mit Blick auf die interne Kommunikation des Ministeriums weiter vervollständigt. Aktiv beteiligt an dem Vorgang war, das geht aus dem Schriftverkehr hervor, das Ministerbüro von Horst Seehofer, eingebunden waren zudem Staatssekretäre. (Volkan Agar)

Mal abgesehen davon, dass das Innenministerium sich hier anschickt die Bundeszentrale für politische Bildung zu canceln (was machen die überhaupt beim BMI, die gehören zum Bildungsministerium, der Kalte Krieg ist seit dreißig Jahren rum) - was um Gottes Willen glauben die BILD-Propagandisten und die konservativen Kulturkrieger, dass sie hier erreichen? Wir reden von der Bundeszentrale für politische Bildung! Da sind bis in die höchste Ebene ein Ministerium mit Minister, Staatssekretären und so weiter damit betraut, die durch eine massive Lobbykampagne der BILD dazu angestoßen werden, die Definition von Linksextremismus zu ändern. Bin das nur ich, oder ist das kein sonderlich sinnvoller Einsatz von Ressourcen? Also mir ist einfach nicht klar, warum man so demokratiezersetzenden Blödsinn auf einer so lächerlich belanglos-unwichtigen Ebene mit solchem Aufwand unternimmt.