Donnerstag, 24. Juni 2021

Siegerjustiz in der Vergangenheitspolitik?

 

Auf den NachDenkSeiten hat Lutz Hausstein einen Artikel über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit geschrieben. Er nimmt darin Bezug auf meinen Artikel zu der Frage, wie wir mit Statuen, Straßen und anderem Heldengedenken umgehen. Er stellt dabei die Frage, wer eigentlich "wir" im wiedervereinigten Deutschland sind:

Wenn heute in der Öffentlichkeit über die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gesprochen wird, verklärt sich der allgemeine Blick und mit einem seligen Lächeln fällt der Satz: „Wir sind Weltmeister geworden. Mit der Achse Maier, Beckenbauer, Overath und Gerd Müller.“ Alternativ vielleicht auch: „Deutschland wurde Fußball-Weltmeister 1974.“ Kaum jemand würde dies heute in Abrede stellen. Doch war dies wirklich so? Sind wir Weltmeister geworden? Oder sind wir nicht in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien ausgeschieden? Das vereinnahmende „Wir“ – und erst recht natürlich das völlig falsche und dennoch damals durchgängig und selbst heute noch häufig gebrauchte „Deutschland“ – negiert die Existenz des anderen Teils des damals zweigeteilten Deutschlands. Diese Ignoranz ist umso bemerkenswerter, da die DDR-Mannschaft ja sogar unmittelbarer Teilnehmer dieser WM-Endrunde war – und hier sogar gegen das auch so benannte „Deutschland“ in der Vorrunde spielte – und somit jeder vor Augen haben müsste, dass weder „wir“ noch „Deutschland“ Weltmeister geworden sein konnten.

Das ist natürlich eine gute Frage. Aber Haussteins Gedankenführung zu diesem Thema führt in die Irre.

Hausstein hat insofern Recht, dass alle diejenigen, die vor 1989 sozialisiert wurden (also die Geburtenjahrgänge vor 1980, effektiv, und damit rund die Hälfte der Ostdeutschen), eine DDR-Nationalmannschaft kannten, die dann gegen die der BRD antrat. Diese ist im offiziellen "uns" nicht enthalten. Das hat seine Gründe, auf die ich gleich eingehen will; zuerst aber soll dem anderen wichtigen Punkt Haussteins Raum gegeben werden:

Doch nicht nur in diesem Punkt wird den Menschen im Land vermittelt, dass es nur eine einzige Vergangenheit – nämlich die Westdeutschlands, sprich der BRD – gibt. Der deutsche Raumfahrer Ulrich Walter wies bei Markus Lanz einmal darauf hin, dass er auf die Frage, wer der erste Deutsche im Weltraum war, entweder betretenes Schweigen ernte oder ein eher fragendes „Ulf Merbold“ als Antwort erhält. Dass jedoch der DDR-Bürger Sigmund Jähn der erste Deutsche war, der 1978 ins All geflogen ist, ist im westdeutschen Geschichtsbewusstsein bei nur Wenigen verankert. Dazu trug auch der unwürdige Umgang der Bundesregierung mit der Persönlichkeit Sigmund Jähn zeitlebens wie auch ein weiteres Mal zu seinem Tod maßgeblich bei. Dem war schon eine gepflegte Ignoranz anlässlich des 80. Geburtstages von Jähn wie auch des 40. Jahrestages seines Weltraumfluges vorausgegangen. Sigmund Jähn als einer der DDR-Bürger mit den größten wissenschaftlichen Verdiensten fand nach der Wiedervereinigung in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr statt. Derlei Beispiele ließen sich noch viele finden. Den meisten, in West wie in Ost, ist der großartige Zoologe, Tierverhaltensforscher und Zoodirektor Bernhard Grzimek wenigstens dem Namen nach ein Begriff. Für viele ist Grzimek auch heute noch, über 30 Jahre nach seinem Tod, ein Idol. Doch wer kennt im Westen schon den Namen Heinrich Dathe, der sich als Zoologe und Direktor des Tierparks Berlin ein weltweites Renommee erwarb?

Natürlich hat er Recht damit, dass die Erinnerung an die meisten DDR-Größen, von Sigmund Jähn über Heinrich Dathe nicht hochgehalten wird. Aber der Grund dafür ist nicht ein unhaltbarer Zustand von Siegerjustiz. Der Grund liegt in der Wiedervereinigung und, vor allem, der Natur der Wiedervereinigung.

Die DDR hat sich 1990 effektiv aufgelöst, als sie nach dem Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat. Die Wiedervereinigung war keine Neugründung eines Staates; sie war ein Beitritt zu einem bestehenden Staat. Dieses Detail ignoriert Hausstein in seiner Argumentation, aber es macht den zentralen Unterschied. Denn seine Kritik würde deutlich mehr Sinn ergeben, wenn BRD und DDR beide 1990 aufgelöst und durch Artikel 146 eine staatliche Neugründung unternommen worden wäre. Darauf wurde aus sehr vielen guten Gründen verzichtet, aber es bedeutet eben auch, dass es eine ungebrochene Kontinuität vom 23.05.1949 über den 03.10.1990 hinaus gibt - und durch das Konstrukt der Rechtsnachfolge sogar eine Kontinuität bis zurück zum 18.01.1871. All das hat die DDR nicht. Sie existierte von 1949 bis 1990. Sie ist ein Sonderfall der deutschen Geschichte, der korrigiert wurde - was das Wort der WIEDERVereinigung ja schon sagt; es wird etwas wiederhergestellt, das vorher geteilt war, nicht aus zwei Teilen etwas Neues geschaffen. Die Wiedervereinigung ist ein restaurativer, kein konstruktiver Akt.

Es führt an dieser Stelle zu weit zu fragen, ob sie das notwendigerweise sein musste (ich denke: ja), aber es lässt sich kaum bestreiten, dass es der Fall war. Die Kritik an der "Siegerjustiz" deutet ja auch stark darauf hin, dass genau diese Erkenntnis auch bei Hausstein und seinen Gleichgesinnten vorhanden ist. Sie bewerten den Vorgang nur anders als die wiedervereinigte Mehrheit.

Dafür kann natürlich Sigmund Jähn nichts, dessen Ruhm unverdient darunter leidet, dass er unter dem Banner von Hammer, Zirkel und Ährenkranz ins All flog und nicht unter der schwarz-rot-goldenen Trikolore. Das ist unfair, sicherlich. Aber gleichzeitig ist es auch folgerichtig. "Wir" sind die Weltmeister von 1974, aber "wir" sind nicht Sigmund Jähn.

Am auffälligsten aber ist eine andere Leerstelle in Haussteins Artikel, die das argumentative Boot endgültig zum Sinken bringt. "Wir" sind nicht Siegmund Jähn, "wir" sind Fußballweltmeister 1974. Das ist schon richtig. "Wir" sind aber auch das Land, das die historische Verantwortung für den Holocaust übernommen hat, und "wir" sind, ganz entschieden, nicht das Land der Stasi, der Selbstschussanlagen, Minen und Mauerschützen.

Denn wenn ein Teil des DDR-Erbes in das kollektive "wir" übernommen werden sollte, dann müsste das für die DDR-Vergangenheit auch gelten. Warum aber sollte ich als Südwestdeutscher die Untaten dieses Regimes in meine Identität aufnehmen? Die DDR hat immer aggressiv behauptet, eine Neugründung zu sein, die mit den alten deutschen Staaten nichts zu tun hat und kategorisch abgelehnt, Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen. Dieses Neue, das die DDR war, ging dann 1990 glanzlos unter. Good riddance.

Aber es fällt damit eben dezidiert nicht unter das kollektive "wir". Das kann es nicht. Stattdessen müssen diejenigen, die die DDR noch aktiv erlebt haben, einen Weg finden, diese Erinnerung in das bundesdeutsche "wir" zu integrieren. Sie ähneln darin Migrant*innen, wenn der Vergleich gestattet ist. Aber sicherlich müssen "wir" das nicht übernehmen. Die Leistungen einzelner sind da der Kollateralschaden. Sigmund Jähns Meilenstein gerät genauso unter die Räder wie wir heutzutage nicht wirklich stolz auf die Leistungen von Menschen sein können, die im Nationalsozialismus Großtaten vollbracht haben. Man kann sich nicht einen Teil herauspicken und den anderen Teil ignorieren. Und zur Identität der DDR gehört nun einmal beides, Spreewaldgurken und Eiserner Vorhang.

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