Donnerstag, 3. Juni 2021

Wir erwarten zu wenig

 

In seinem berühmten Buch "Wie man Freunde gewinnt", das im englischen Original den wesentlich zutreffenderen Titel "How to win friends and influence people" trägt, formuliert Dale Carnegie neben Ratschlägen für ein einnehmendes Wesen auch solche für das Ausfüllen von Führungsverantwortung. Darunter findet sich dieser Punkt:

Give the other person a fine reputation to live up to. If we give people a great reputation to live up to, they will desire to embody the characteristics with which we have described them. People will work with vigor and confidence if they believe they can be better.

Abgesehen davon, dass ich den natürlich in meinen eigenen Führungsaufgaben auch wesentlich konsequenter anwenden sollte, als ich das tue, halte ich es auch in wesentlich größerem Maßstab für einen wertvollen Ratschlag. Konkret erwarten wir zu wenig. Wir erwarten zu wenig von unserem Staat, wir erwarten zu wenig von unseren Institutionen, wir erwarten zu wenig von unserer Wirtschaft. Damit meine ich nicht eine Erwartung in dem Sinne, als dass sie irgendwelche Aufgabenbereiche übernehmen, à la "ich erwarte, dass der Staat alle meine Lebensrisiken abdeckt" oder so was. Was ich meine ist, dass wir uns damit abgefunden haben, dass die Aufgaben, die diese Bereiche haben, mangelhaft erfüllt werden. Und das muss aufhören.

Es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass das Vertrauen in praktisch alle Institutionen auf einem absoluten Tiefstand ist, ein Phänomen, das sich durch die gesamte westliche Welt zieht. Das Parlament rangiert irgendwo auf einer Stufe mit Gebrauchtwagenhändler*innen, bestenfalls. Journalist*innen genießen Vertrauensbekundungen im einstelligen Prozentbereich. Praktisch niemand vertraut dem eigenen Arbeitgebenden weiter, als er oder sie die Vorgesetzten werfen kann, was angesichts der um sich greifenden Adipositas in den meisten Fällen eine recht überschaubare Strecke ist. Selbst wie wendigen Institutionen wie Polizei oder BVerfG, die bisher noch hoch im Kurs stand, sind angeschlagen.

Ich halte wenig von der These, dass das irgendwie eine Degeneration unserer Zeit widerspiegeln würde. Sind Bundestagsabgeordnete heute korrupter als vor 50 Jahren? Sicherlich nicht, das Gegenteil ist der Fall. Ist die Polizei heute rassistischer als vor 50 Jahren? Sicherlich nicht, das Gegenteil ist der Fall. Werden heute Arbeitnehmende schlechter behandelt und arbeiten unsicherer als vor 50 Jahren? Sicherlich nicht, das Gegenteil ist der Fall.

Warum also vertrauen wir (als kollektives, gesamtgesellschaftliches Wir) heute so wenig? Dazu gibt es gute Gründe. Die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen im Speziellen, aber aller westlichen Gesellschaften im Allgemeinen hat deutlich abgenommen. Wir sind individualistischer. Die Presse ist wesentlich kritischer, die Gesellschaft ist wesentlich kritischer. Es wird mehr hinterfragt, und es gibt praktisch keine sakrosankten Positionen mehr. Wo früher ein vom Lehrer bestrafter Kind zuhause gleich noch mal gehauen wurde, wird heute die Entscheidung der Lehrkraft hinterfragt.

All das ist gut. Aber es kam mit einer Schattenseite, die kein Automatismus war, die aber so uniform über die letzten Jahrzehnten Einzug gehalten hat, dass eine Kausalität durchaus angenommen werden darf. Es ist das Umsichgreifen eines Zynismus' gegenüber all diesen Institutionen. Politiker*innen sind alle korrupt, Wirtschaftslenkende sowieso, die Journalist*innen auch und so weiter und so fort.

Dieser Zynismus hat das früher(tm) bestehende Grundvertrauen in "die Obrigkeit" (privat wie staatlich) weitgehend ersetzt. Das hat den wie gesagt positiven Effekt, dass diese Obrigkeiten wesentlich stärker hinterfragt werden, dass wesentlich weniger Skandale unaufgeklärt bleiben, dass die Verstöße insgesamt wesentlich weniger krass sind als sie das früher waren. Was unter einem Adenauer "business as usual" war, wäre heute Grund für eine ausgewachsene Regierungskrise.

Und ich denke, das muss nicht sein. Denn unabhängig davon ob man einen kleinen oder großen, starken oder schwachen Staat bevorzugt, Liberale wie Linke werden sich in der Forderung wiederfinden, dass diejenigen Aufgaben, die der Staat hat, ordentlich ausgefüllt werden sollten - ob Landesverteidigung oder Auszahlung von Sozialleistungen. Genauso dürften sich Liberale wie Linke unabhängig ihrer Haltung zur Privatwirtschaft darin einig sein, dass diese sich an bestehende Gesetze hält und ordentlich arbeitet.

Aber genau diese Erwartungen haben wir nicht, und absurderweise beide nicht. Denn bei aller Vorliebe für staatliche Lösungen erwarten ja die meisten Linken auch nicht, dass das besonders gut funktioniert. Und ich glaube, selbst in der FDP hält sich die Begeisterung für Bankvorstände in Grenzen.

Das soll jetzt kein Aufruf zur Naivität sein. Ich halte es wie gesagt für ein absolutes Plus, dass wir mittlerweile kritisch mit Obrigkeiten und Autoritäten ins Gericht gehen; ich würde sogar sagen, da geht noch einiges mehr. Aber wie ebenfalls bereits gesagt ist es nicht notwendig, dass dem ein Zynismus entgegensteht.

Statt für gläubige Naivität plädiere ich daher dafür, dass wir uns als Vorgesetzte unserer Obrigkeiten, Autoritäten, Insitutionen begreifen. Im Falle unserer Regierung sind wir das quasi direkt, als Souverän über Wahlen. Im Falle der Institutionen sind wir das mittelbar, denn deren Legitimität fließt direkt aus dem Staat, der durch Wahlen relegitimiert wird. Und bei Unternehmen gilt das berühmte Sprichwort, dass der Kunde König sei.

Wir sollten daher die klare Erwartungshaltung formulieren, dass Führungskräfte in der Wirtschaft, Spitzenbeamt*innen und Politiker*innen integer sind und handeln, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllen, dass sie keine Skandale produzieren, dass sie sich an Recht und Gesetz halten, dass sie Spitzenergebnisse erbringen.

In dem Moment, in dem durch unsere Gespräche auf mit Nachbarn, Kolleg*innen und Verwandten, durch unsere Medien, durch unsere Rückmeldungen an selbige Autoritäten die Erwartung formuliert wird, dass sie ohnehin alle bestenfalls mittelmäßig seien, dass sie korrupt seien, dass sie nichts Gescheites zuwege bringen, in dem Moment senken wir für diese Leute die Hemmschwelle, genau das zu sein. Man nimmt es ja eh von ihnen an; wenn es dann passiert, gibt es praktisch keine Konsequenzen.

Wir sollten ihnen daher einen "feinen Ruf" im Sinne Carnegies geben, dem sie gerecht werden müssen. Strahlen wir Zuversicht aus, dass alle unsere gewählten Politiker*innen, unabhängig von ihrer Partei, hochqualifiziert und die Besten sind, die wir kriegen können. Dass die Vorstände aller Unternehmen integre Leistungsträger*innen sind. Dass die Beamt*innen und Sacharbeiter*innen qualifiziert und motiviert sind.

Sind sie das immer? Sicher nicht. Aber wenn sie sich dafür schämen, wenn sie diese Ansprüche nicht erfüllen, wenn wir Enttäuschung ausdrücken wenn sie scheitern anstatt resigniert die Schultern zu zucken weil wir ohnehin nie irgendwelche Erfolge erwartet haben, dann haben wir bereits viel gewonnen. Ich denke, das ist etwas, das wir uns für unser eigenes Wohl aneignen sollten.

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