Der Absturz der Grünen zurück auf ihr Umfrageniveau von 2019/2020 nach einem durch die Schwäche der CDU induzierten, teils auch miragenhaft nur in einigen Umfragen vorhandenen Hoch hat für starke Reaktionen gesorgt. Auf der Seite ihrer Gegner für erwartbare Häme (die hätte ich auch, träfe es die CDU), auf der eigenen Seite eine Mischung aus blanker Panik und wilden Anschuldigungen. Die Häme ist dabei angebrachter als die Anschuldigungen, denn für den Löwenanteil ihrer aktuellen Probleme haben die Grünen wenig Probleme, den Schuldigen zu finden. Sie müssen nur in den metaphorischen Spiegel schauen. Sehen wir uns zuerst einmal an, was ich mit den völlig überdrehten Aktionen mancher Progressiven meine. Diese geben die Schuld vor allem der CDU. Konstantin von Notz etwa spricht von einer "maximalen Polarisierung", die der Wahlkampf angenommen habe. Nicole Diekmann macht die Sozialen Medien dafür verantwortlich, dass im Gegensatz zu "früher" eine "Schlammschlacht" sei. Die Lügen hätten "Ausmaße, die es noch nie gab" angenommen, befindet eine Twitter-Nutzerin. Von einem nie dagewesenen Ausmaß der Finanzierung von Schmutzkampagnen durch die Industrie spricht auch Christian Stöcker. Andere sprechen von einer Angleichung an die Verhältnisse in den USA, die man selbst "nie erlebt" habe - das ist schon deutlich näher am Kern.
Letztlich offenbaren diese Einschätzungen vor allem eine profunde Unkenntnis der bundesdeutschen Geschichte. Ja, dieser Wahlkampf ist mit Sicherheit schmutziger als alles, was viele Menschen meiner Generation und darunter jemals erlebt haben. Aber das sagt nicht viel. Denn die Wahlkämpfe der Ära Merkel waren, oft beklagt, unter den wohl inhaltsleersten und unpolarisiertesten, die es je gab. Das war Strategie; Merkel nannte es "asymmetrische Demobilisierung", und es ist das Erfolgsrezept hinter ihrer beispiellos kontinuierlichen Kanzlerschaft (let's be real, ohne das Super-Event der Deutschen Einheit wäre Kohl niemals 16 Jahre Kanzler gewesen). Der Preis für diese Politik - vom Aufstieg der AfD zu sinkender Wahlbeteiligung - ist in den letzten Jahren zur Genüge diskutiert worden.
Aber "maximale" Polarisierung? Darf ich daran erinnern, dass es erst rund 40 Jahre her ist, dass die CSU auf ihre Wahlplakate "Freiheit oder Sozialismus" plakatierte, um einen Wahlerfolg von JOHANNES RAU zu verhindern? Das mythische "früher", bei dem es keine Schlammschlachten gab, ist wie praktisch jedes dieser "Früher" eine nostalgische Illusion; man darf etwa daran erinnern, dass die CDU noch in den 1970er Jahren wenig dabei fand, Willy Brandt als uneheliches Kind zu diffamieren und ihm Trunksucht zu unterstellen. Dagegen ist die CDU von heute handzahm. Und es ist nicht so, als hätte sich die SPD seinerzeit mit Gegenattacken hinterm Berg gehalten, man suche einfach mal nach "Herbert Wehner".
Nein, dieser Wahlkampf ist sicher härter als alle Wahlkämpfe der Ära Merkel, aber dasselbe gilt auch für eine Packung Watte. Das Problem ist nicht, dass die CDU mit harten Bandagen kämpft, das Problem ist, dass die Grünen (und technisch gesehen auch LINKE und SPD, aber wer interessiert sich schon für die?) völlig überrascht davon sind, dass überhaupt jemand kämpfen will. Die Unionsparteien hatten schon immer etwas, das den progressiven Parteien über weite Strecken abging: Killerinstinkt. Selbst unter Merkel wussten die Wahlkämpfenden der Union immer, dass sie gewinnen wollten, und dass Wahlkampf am Ende ein Nullsummenspiel ist, bei dem es nicht um Feinheiten geht, sondern darum, eine Botschaft durchzubekommen.
Ich habe vor einigen Monaten bereits geschrieben, dass die Strategie der Grünen offensichtlich ist, Wahlkampf weitgehend zu vermeiden und zu versuchen, aus den Schlagzeilen zu bleiben. Ich habe auch geschrieben, dass das hochgradig vernünftig ist. Solange die Aufmerksamkeit auf dem Spektakel des Machtkampfs zwischen Söder und Laschet lag und die Wogen wegen der unzureichenden Impfgeschwindigkeit und des Maskenskandals hochkochten, war das auch erfolgversprechend. Wenig überraschend verlor die CDU in den Umfragen massiv, und die Stimmen wanderten entweder zu ihren ideologischen Nachbarn - der FDP - oder ihren Herausforderern, den Grünen. Wenig überraschend legten beide Parteien zu.
Nur, es war völlig absehbar, dass das nicht anhalten würde. Ich habe schon damals prophezeit, dass Laschet und die CDU sich erholen würden, sobald der Machtkampf geklärt war und die Impfungen liefen. Beides ist exakt so eingetreten. Ich habe auch prophezeit, dass völlig egal ist, wie integer sich die Grünen präsentieren, es wird irgendein Skandal konstruiert und endlos breitgetreten werden. Ich meine, die CDU hat 2013 mit dem verdammten Veggie-Day die Hoffnungen der Partei versenken können! Wenn ich als kleine Blogger-Leuchte diese Dynamik absehen kann, dann müsste das das Wahlkampfteam der Grünen auch können. Aber weit gefehlt.
Dass Baerbock mit ihrer Vita den Anlass lieferte ist letztlich irrelevant. Ein Anlass wäre gefunden worden, weil so oder so aufgrund der von mir hinlänglich analysierten medialen Dynamiken eine Welle negativer Berichterstattung über die Grünen zu erwarten war. Die CDU hatte ihre Welle mit dem Kampf Laschet gegen Söder und der allgemeinen Kritik an der Performance der Impfkampagne. Von dort konnte es nur nach oben gehen, auch wenn diverse Kommentatoren hier im Blog das nicht glauben und die CDU mit Laschet auf einem Dauersturzflug sehen wollten. Das war Unsinn. Die Dynamiken der Wahlkampfberichterstattung erforderten zwingend einen grünen Skandal - schon alleine, um den Vorwurf der Grünenfreundlichkeit zu widerlegen. Würde die FDP in den Umfragen aufsteigen, würde sich die Aufmerksamkeit auf diese konzentrieren, und wir bekämen unweigerlich eine Welle positiver Berichterstattung - vielleicht sogar bis hin zu Spekulationen über Kanzlerkandidat Lindner - bis dann die ebenso unvermeidliche Welle von Negativberichterstattung käme, und der damit verbundene Absturz.
Erneut, das alles ist völlig vorhersehbar. Die Schuld der Grünenspitze ist nicht der Absturz per se, er war praktisch unvermeidlich. Ihre Schuld ist, dass sie davon überrascht wurden und dastehen wie Rehe im Scheinwerferlicht. Die Reaktion auf diese Skandale ist auch unterirdisch. Es begann halbwegs akzeptabel: man korrigierte einige Angaben, veröffentlichte einen Tweet mit den Korrekturen und hoffte, dass es damit erledigt war. Hätte klappen können, hat es aber nicht. Es ist danach, als das Desaster begann. Eine Entschuldigung folgte auf die nächste, eine Korrektur auf die andere. Plötzlich debattierte die politische Republik - gut sichtbar an der Kommentarspalte hier - über den genauen Wert eines Master-Abschlusses in Großbritannien und die Frage, wie viel Studiensemester für eine Bundeskanzlerin angemessen seien. Baerbock und ihr Wahlkampfteam waren im permanenten Rechtfertigungs- und Verteidigungsmodus - und das ist ein Modus, in dem man nur verlieren kann.
Übrigens, bevor jemand die alte Kamelle auspackt, derzufolge Bill Clinton sich im Wahlkampf 1992 "glaubhaft entschuldigt" habe und so ähnlich gelagerten Problemen entkam: was Clinton 1992 rettete, war das Narrativ, er sei "the Comeback-Kid". Er schuf damit die Erwartungshaltung, dass sich seine Umfragewerte erholen würden - und eine solche Erwartungshaltung wird oft genug zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Die selbsterfüllende Prophezeiung bei Annalena Baerbock dagegen ist, dass weitere Enthüllungen ans Licht kommen werden. Da das alles ohnehin im Auge des Betrachters liegt, ist es sicher, dass genau das passieren wird.
Aber zurück zur Schuldfrage. Ich las erst kürzlich die Nachricht, dass "ein PR-Profi" von nun an Baerbocks Wahlkampfteam leiten solle. Man fragt sich unwillkürlich, wer da bisher zuständig war. Es ist offenkundig, dass im Wahlkampfteam der Grünen schwerwiegende Fehler gemacht wurden, Fehler im Übrigen, die unabhängig von der Kandidatin sind. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass Habeck nicht ein ähnlicher künstlicher Skandal umgehängt worden wäre (erneut, es sind alles mediale Aufmerksamkeitszyklen), und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Reaktion desselben Teams dann besser gewesen wäre.
Nein, die Grünen scheinen ernsthaft davon überrascht worden zu sein, dass man sie auf diese Weise angreift. Wer in den vergangenen Monaten jemals in ein Springer-Blatt oder die FAZ geschaut hat, kann darüber nur den Kopf schütteln; wer sich an den Wahlkampf 2013 erinnert, genauso. Prototypisch lässt sich das an dem Fall Emcke nachzeichnen.
Die Journalistin hielt eine Rede auf dem (virtuellen) Grünenparteitag, in der sie über Mechanismen von Unterdrückung und Verschwörungsmythen sprach und dabei unter vielen anderen Opfergruppen auch die Juden erwähnte. Sofort begannen die Welt und die BILD eine Kampagne, in der sie Emcke (und den Grünen) Verharmlosung beziehungsweise Relativierung des Holocaust, Israelfeindschaft und Antisemitismus vorwarfen. Ohne allzuviel Prüfung griffen auch andere Medien dieses Narrativ auf. Erneut standen die Grünen da wie das Reh im Scheinwerferlicht, völlig in Schockstarre, und wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten.
Es fiel der in Deutschland eben doch funktionierenden Medienlandschaft und der eben nicht "maximal polarisierten" Gesellschaft und Politik zu, das zu retten. Moderative Konservative wie Andreas Püttmann, Ruprecht Polenz oder Paul Ronzheimer (selbst BILD-Redakteur!) kritisierten die Attacken und besonders CDU-Generalsekretär Paul Ziemack, der direkt auf den Zug aufgesprungen war. Der Spiegel spricht von einem durch die Springer-Presse konstruierten "Shitstorm"; der Zentralrat der Juden selbst hat die Debatte für beendet erklärt. Viel mehr Unterstützung kann einem kaum erwachsen. Paul Ziemack selbst hat sich, das sei zu seiner Ehrenrettung gesagt, mittlerweile entschuldigt und seine alten Tweets gelöscht.
Der Fall Emcke ist emblamatisch für mangelnde grüne Angriffslust. Die Hoffnung der Partei scheint zu sein, dass man ihre inhärenten Qualitäten schon erkennen und dass das Gute am Ende siegen werde. Angesichts dessen, dass Wahlkampfgegner einem selten den Gefallen tun, das Gute zu betonen, und dass man sich kaum auf die Selbstverteidigungsmechanismen von Medien und Gesellschaft verlassen kann, ist die praktisch nicht vorhandene Reaktion der Grünen absurd. Springer und die CDU leisteten sich hier ein Eigentor, aber eines, das ohne jede Folgen bleiben wird, schon alleine, weil die Grünen nicht einmal Anstalten machen, es auszunutzen. Ihre Geisteshaltung zeigt dieser Comic ziemlich deutlich:
— erzaehlmirnix (@erzaehlmirnix) June 13, 2021
"If they go low, we go high" ist ehrenhaft, und ich habe 2016 auch ein Schwellen in der Brust gespürt, als Michelle Obama dieses mission statement verkündete. Im Jahr 2021 immer noch zu glauben, das sei eine gangbare Strategie, ist völlige Wirklichkeitsverleugnung. Das ist es auch, was ich mit dem fehlenden Killerinstinkt der Grünen meine. Es gibt keinerlei Strategie, den politischen Gegner zu attackieren, ja, nicht einmal der Wille dafür scheint vorhanden zu sein. Es ist eine Unernsthaftigkeit, eine Naivität, die kein gutes Bild abgibt.
Laschet selbst hatte wahrlich genug Anlass für Attacken in seiner Vita. Sein Lebenslauf ist keineswegs sauberer als der von Annalena Baerbock. Er ist geprägt von Seilschaften, Netzwerken irgendwelcher Extremisten, die ihn nach oben gebracht haben, voller Verbindungen zu den Reichen und Mächtigen, die ihre schützende Hand über Laschets Karriere hielten. Gerade für eine ostentativ linke Partei gäbe es da wahrlich genug, und daraus hätte sich ein Narrativ schreiben lassen, gegen das Baerbock als Selfmade-Engel hätte erscheinen können. Nicht einmal der Versuch wurde unternommen.
Während die Grünen sich für jedes Fehlerchen endlos entschuldigen, als ob es dafür Punkte geben würde und als ob irgendeiner ihrer Gegner da nicht einfach nur Schwäche wittern und weiter angreifen würde, zeigt die CDU, wie man das richtig macht: so wirft Laschet der SPD "schäbiges Verhalten" gegenüber Spahn vor, weil sie diesen für die Pandemiepolitik kritisieren. Diese Chuzpe muss man erst einmal haben. Spahn und der MdB Nüßlein stehen wegen potenziellen Betrugs und Vorteilnahme in Millionenhöhe vor Gericht und sind so offensichtlich schuldig, dass es wehtut, und keine der drei linken Parteien ist in der Lage, das zu thematisieren. Wie kann man sich die Gelegenheit entgehen lassen, die CDU als korrupten Haufen von seelenlosen Pandemiegewinnern zu verunglimpfen, wenn man die Gelegenheit so auf dem Silbertablett serviert bekommt? Was glaubt man im Boeckler-Haus was los wäre, wenn herauskäme dass Cem Özdemir ein paar Millionen Euro bei der Vermittlung von Gutachten an Greenpeace verdient hätte?
Gänzlich unverständlich ist diese Haltung gerade vor der Folie des misslungenen Angriffs über die Bande Emcke, wenn es um Hans-Georg Maaßen geht. Man muss einmal mehr die schiere Chuzpe der CDU bewundern, den Grünen Antisemitismus vorzuwerfen, wo sie gerade in Thüringen jemanden aufstellen und feiern, der nicht nur in einem konstruierten Zitat, sondern quasi amtlich bestätigt in antisemitischen Sprachbildern arbeitet. Selbst der Verfassungsschutz bestätigt Maaßen, "klassische antisemitische Stereotypen" zu verwenden. Sowohl die BpB als auch die Zeit haben dazu ausführliche Erklärungen, wer es immer noch nicht wahrhaben will.
Maaßen redet offen vom "großen Austausch", einer abgedrehten rechtsextremen Verschwörungstheorie, nach der eine Allianz von der Rigaer Straße bis hin zum CDU-geführten Kanzleramt plane, die Bevölkerung Deutschlands durch Muslime auszutauschen. Sich mit Größen aus der rechtsextremen Szene in einem Bildband abbilden zu lassen, ist für Maaßen kein Problem. Es dürfe wenig überraschen, dass Maaßen sich auch an dem Schmiergelddurchlauferhitzer "Augustus Intelligence" bereichert hat, übrigens in größerem Umfang als Philipp Amthor. Wie kann es sein, dass wir drei linke Parteien im Bundestag haben und keine einzige von ihnen diesen Mann zum zentralen Gegenstand ihres Wahlkampfs gemacht und bei jeder Gelegenheit der CDU um den Hals hängt, die sich in alle Richtungen windet, um ja nicht Maaßen verurteilen zu müssen?
Mir ist das völlig unklar. Und obwohl ich offensichtlich Sympathien für eine Kanzlerin Baerbock habe - mehr jedenfalls als für Laschet, soviel ist sicher - geht es mir hier nicht darum, einen Appell für die Wahl der Grünen zu machen. Denn die erschreckende Unprofessionalität verrät einen mangelnden Killerinstinkt, einen fehlenden Drang zur Macht, wie er die Union auszeichnet und neben dem Strukturkonservatismus der Bundesrepublik wie nichts anderes dafür verantwortlich ist, dass die Partei in 52 von 72 Jahren das Kanzleramt besetzte. Wenn die Grünen nicht mal im Wahlkampf bereit sind, ernsthaft politische Macht zu verteidigen, wie wollen sie das dann an der Regierung?
Bis September sind es nur noch drei Monate. Die Grünen sollten besser eine echt steile Lernkurve hinlegen, wenn sie ernsthaft versuchen wollen, die Wahl zu gewinnen. Aber sind wir mal ehrlich: hat irgendjemand nicht das Gefühl, dass die Partei sich längst darauf eingerichtet hat, Juniorpartner unter der CDU zu sein? Bleibt eigentlich nur zu hoffen, dass SPD und FDP stark genug sein werden, doch die Ampel zu ermöglichen, und willens, die Grünen zu ihrem Glück zu zwingen. Irgendjemand muss es ja tun.
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