Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Bundeszentrale für politische Bildung nach »Süßkartoffel«-Spruch in der Kritik
Ein auf den ersten Blick unschuldig wirkender Eintrag bei Instagram könnte für die Bundeszentrale für politische Bildung Folgen haben. Bei seiner Antirassismus-Kampagne »saymyname« hatte die dem Bundesinnenministerium unterstellte Behörde einen Beitrag auf der Fotoplattform gepostet, der weiße Menschen indirekt als »Kartoffeln« bezeichnet. Nach Kritik an dem Beitrag hat das Bundesinnenministerium der Bundeszentrale nun aufgetragen, die gesamte Kampagne auf den Prüfstand zu nehmen. [...] In dem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag wird der freie Journalist Mohamed Amjahid zitiert. Er ruft weiße Menschen dazu auf, sich mehr für Nichtweiße einzusetzen. Wer selbst nicht Opfer von Rassismus werde, müsse sich mit eigenen Privilegien auseinandersetzen, sagt Amjahid in dem Post. Das sei ein schwerer Prozess, »jedoch unabdingbar, wenn wir in einer gerechten und inklusiven Gesellschaft leben wollen«. Wem das gelinge, der könne ein Verbündeter von Nichtweißen werden – eben eine »Süßkartoffel«, wie es Amjahid in Anlehnung an den Begriff »Kartoffel« formuliert. [...] Amjahid selbst sieht in dem Streit über seine Äußerung eine Scheindebatte. »Die einen haben Angst vor Polizeigewalt und Rechtsextremisten im Parlament, die anderen sind von Wörtern wie Süßkartoffel beleidigt«, sagt er dem SPIEGEL. Die Kampagne »saymyname« sieht der Autor als Teil eines wichtigen Diskurses, den das Innenministerium nicht aufhalten könne. (mrc, SpiegelOnline)
Ich warte immer noch auf die Leitartikel aus FAZ und Welt, die diese Cancel Culture empört zurückweisen und verurteilen und sich für das Recht Amjahids, Deutsche als Süßkartoffeln zu bezeichnen, in die Bresche werfen. Es gibt Leute, die haben komplette Bücher geschrieben, um ihr Recht zu verteidigen, ein billiges Stück Schweinefleisch mit Paprikasauce als "Zigeunerschnitzel" bezeichnen zu dürfen, aber die schweigen geradezu dröhend, wenn es ihre Gegner*innen betrifft. Aber das habe ich schon immer gesagt, von daher bin ich nicht überrascht.
2) Einigung auf globale Mindeststeuer: die Doppelmoral der Hochsteuerländer
Das kann kleineren Ländern wie der Schweiz oder Irland kaum gefallen, die mit niedrigen Steuersätzen Konzerne und Forschungsaktivitäten anziehen – und so den Nachteil ihrer kleinen Heimmärkte wettzumachen versuchen. Am G-7-Gipfel war oft von «gleich langen Spiessen» die Rede, wenn vom Mindestsatz gesprochen wurde. Das geht grossen Ländern leicht über die Lippen, auf deren riesigen Märkten Firmen präsent sein müssen. Das kann kleineren Ländern wie der Schweiz oder Irland kaum gefallen, die mit niedrigen Steuersätzen Konzerne und Forschungsaktivitäten anziehen – und so den Nachteil ihrer kleinen Heimmärkte wettzumachen versuchen. Am G-7-Gipfel war oft von «gleich langen Spiessen» die Rede, wenn vom Mindestsatz gesprochen wurde. Das geht grossen Ländern leicht über die Lippen, auf deren riesigen Märkten Firmen präsent sein müssen. [...] Drittens schliesslich muss beunruhigen, dass «Steuerwettbewerb» schon fast zum Unwort geworden ist. Im Communiqué der G-7 kommt der Begriff nicht einmal vor. Doch Wettbewerb zwischen Ländern oder in der Schweiz zwischen den Kantonen um ein gutes Verhältnis von Steuern und öffentlichen Gütern ist eine Errungenschaft, die es zu erhalten gilt, weil sie den Appetit des Staates auf immer mehr Steuersubstrat zügelt. Dass die Befürworter des Steuerwettbewerbs derart in die Defensive geraten sind, ist vielleicht der gravierendste Aspekt dieser vermeintlichen «Steuerrevolution». (Christoph Eisenring, NZZ)
Ich muss zugeben, als ich den Text zum ersten Mal vor mir hatte musste ich so lachen. Nicht, weil Eisenring nicht grundsätzlich Recht hätte, was die Heuchelei angeht, sondern eher, weil da die Krähe den Raben schwarz nennt. Wenig überraschend, dass dieser Text in der NZZ steht. Klar findet die Schweiz das doof. Würde ich auch, wenn mein bisheriges Geschäftsmodell darauf basieren würde. Nur, warum sollten andere Länder das subventionieren? Wir haben das jahrzehntelang gemacht, es ist gut, dass da langsam Schluss ist. Deswegen bin ich sicher auch nicht "beunruhigt", sondern höchst erfreut, dass das völlig blödsinnige Konzept des "Steuerwettbewerbs in die Defensive geraten ist". Ich hoffe, dass Eisenring Recht hat.
3) „Wir brauchen einen Neuanfang“ (Interview mit Aladin el-Mafaalani)
E&W: Wie soll es denn im nächsten Schuljahr weitergehen?
El-Mafaalani: Die Schulverwaltungen, an der Spitze die Schulministerien, machen einen gravierenden Fehler. Sie glauben, im nächsten Schuljahr ist die Pandemie vorbei und sie können da weitermachen, wo sie vor Corona aufgehört haben. [...]
- E&W: Die Eltern haben kürzlich in einer Umfrage zu Protokoll gegeben, dass sie an der Schulpolitik verzweifeln.
El-Mafaalani: Ja, das verstehe ich. Viele Menschen vor Ort, auch diejenigen, die Verantwortung tragen, wussten ja angeblich nicht, dass es in Schulen kein warmes Wasser gibt, Fenster sich nicht öffnen lassen und die Toiletten eine Katastrophe sind. Hinzu kommt: Wenn wir uns mit anderen Staaten in der Pandemie vergleichen, schneiden wir ungewöhnlich schlecht ab. Das kommt, weil wir schon länger in einer fundamentalen Sackgasse stecken. Hätten wir ein gut funktionierendes Bildungssystem, dann wären wir in der Krise flexibler, innovativer gewesen und auch besser durchgekommen.
- E&W: Wieso das?
El-Mafaalani: Ein System, das chronisch unterversorgt ist, das auf dem Zahnfleisch geht, kann nicht kreativ sein und klug improvisieren. Wir wussten doch schon vor der Corona-Krise, dass das Schulsystem nicht ausreichend auf digitales Lernen vorbereitet ist und viele Lehrkräfte diesbezüglich -Defizite haben. Sich dann zu wundern, dass Homeschooling nicht funktioniert, das überrascht mich.
- E&W: Sie fordern für jede Schule multi-professionelle Teams, in denen Psycho-logen, Ärzte, sozialpädagogische Fachkräfte, Eltern und andere mehr die Arbeit der Lehrkräfte unterstützen. Wäre eine solche Schule besser durch die Pandemie gekommen?
El-Mafaalani: Da bin ich mir ganz sicher. Aus zwei Gründen: Interdisziplinäre Teams sind deutlich offener und interessierter am Einsatz digitaler Formate. Noch wichtiger ist aber: Schule hätte deutlich mehr über die Lebens- und Familiensituation der Kinder gewusst. (Klaus Heimann, GEW)
Einmal abgesehen davon, dass "ein kompletter Neuanfang" eine völlig blödsinnige Forderung ist - als Soziologe sollte el-Mafaalani mit dem Konzept der Pfadabhängigkeit vertraut sein - so ist doch unzweifelhaft, dass die Bildungsinfrastruktur katastrophal unterausgestattet ist. Allein der Bedarf an baulichen Maßnahmen, die über Jahrzehnte missratener Sparpolitik (siehe auch Fundstück 10) verschleppt wurden, beträgt mittlerweile 44 Milliarden Euro und wird jedes Jahr größer.
Was el-Mafaalani anspricht, geht aber über das Verlegen von Glasfaserkabeln, Beschaffen von Endgeräten und Renovieren völlig heruntergewirtschafteter Bausubstanz weit hinaus. Der Aufbau der Art von Fachkräften, die das Bildungssystem eigentlich benötigen würde, ist eine Aufgabe nicht für eine Legislaturperiode, sondern für mindestens anderthalb Jahrzehnte. Das heißt nicht, dass man nichts machen sollte, aber man muss realistisch sein: dieses Werk ist eines, das eine Regierung anfängt, eine andere weitertreibt und das eine dritte zum Abschluss bringt. Oder auch: politisch extrem unattraktiv. Deswegen wird es ja auch nicht gemacht.
Es geht um mehr als ein paar Versehen. Es ist eine peinliche Fehlerserie. Dass die Grünen ihre Kandidatin nicht auf Herzen und Nieren geprüft haben, um eben gerade solche Fehler zu finden und ihre Schwachstellen zu kennen, ist hochgradig unprofessionell. Was hat sich das Wahlkampfteam denn gedacht, dass die Konkurrenz mit Wattebäuschchen wirft? Dass Journalist*innen nicht recherchieren? Dass der Boulevard sie schont, weil sie so eine nette junge Frau ist? Wer erstmals eine Kanzlerkandidatin aufstellt oder nur nach 16 Jahren Opposition regieren will, muss selbstverständlich damit rechnen, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Das ist auch bei anderen Kandidat*innen, Minister*innen und sogar Abgeordneten der Fall, denn sonst wären nie Plagiate, Villa-Käufe, frühere Neonazi-Aktivitäten oder dubiose Mitarbeiter*innen in Abgeordnetenbüros an die Öffentlichkeit gekommen. Bei der Kandidatenkür sind die Grünen vielfach für ihr professionelles Vorgehen gepriesen worden. Nun stellt sich jedoch heraus, dass dieses Lob verfrüht kam. Baerbock und ihr Team tragen ganz allein die Verantwortung für die tiefen Kratzer an ihrem Image. (Silke Mertens, taz)
Dem ist recht wenig hinzuzufügen. Bleibt zu hoffen, dass sich dieser Unfug nicht zu "her emails" auswachsen wird, denn in die Richtung geht das Ganze gerade. War es ein blöder Fehler, unnötig und alles, der von einem professioneller agierenden Team rechtzeitig hätte aufgefangen werden müssen? Sicher. Aber letztlich sind sich ja selbst die größten Kritiker*innen einig, dass es um Wahlkampfästhetik geht. Die Substanz des Falles selbst ist gleich Null. Ich würde ja für eine genauere Betrachtung des Wirecard-Skandals werben, wenn Scholz' Kanzlerkandidatur nicht ein solcher Scherz auf Rädern wäre.
5) Skewed History Is Becoming a Global Superweapon
My purpose here is not to debate these issues in detail, but to express the dismay of those of us who devote our lives to the pursuit of truth, even if we often fail to catch it. We see large parts of the world systemically committed to concealing or annihilating realities. Whole generations of Russians have all their lives been denied access to books, teaching and internet sources that would enable them honestly to explore their past. [...] Hundreds of millions of Chinese exist in the same miasma of ignorance and deceits. An American friend with a company in Beijing tells me that when he visits the Chinese capital, he sometimes has lunch with one of his brightest and best-educated employees, a woman in her 30s. She quizzes him with urgent fascination about the Cultural Revolution of 1966-1976. [...] It’s not only autocrats who are excavating the past in pursuit of contemporary advantage. France has more history than it can comfortably accommodate, and argues about much of it. President Emmanuel Macron, politically besieged by the right, recently attended a ceremony at Napoleon’s tomb, beneath the dome of the Invalides in Paris, to deliver a rousing patriotic speech, calling the emperor’s life “an ode to political will.” [...] It is depressing to see how few countries encourage or even permit their citizens freely to chronicle and discuss their pasts, and how many instead forge fictional histories to support modern political purposes. [...] Yet such freedom is increasingly threatened: The torrent of misinformation and disinformation peddled through social media is making matters worse. Trolls bombard online sources indefatigably, swamping them with lies. (Max Hastings, Bloomberg)
Ich stimme den Grundaussagen des Textes völllig zu. Auffällig ist aber: Hastings spart die Briten und ihre Neurosen zum Blitz völlig aus. Das ist natürlich aufgrund seiner eigenen Prägung völlig nachvollziehbar (die deutsche Obsession mit der Antithese aus Hyperinflation und Wirtschaftswunder kommt bei ihm ja auch nicht vor), aber gerade in Großbritannien ist der Einfluss der "schlechten Geschichte" (im Sinne Geschichtswissenschaft, nicht einer moralischen Bewertung der Ereignisse) ungeheuer groß. Ohne Verweise auf den Blitz und die damit verbundene Folklore kommt ja heutzutage keine Westminster-Debatte mehr aus, das ist nachgerade peinlich.
6) Wer eine andere Wirtschaft will, muss wissen wie
Wer einmal konkrete Zahlen aus dem eigenen Wahlprogramm vergessen hat, dem sei verziehen. Wenn aber grundsätzliche Zusammenhänge nicht verstanden beziehungsweise falsch wiedergegeben werden und man von jemandem mit minimaler ökonomischer oder kaufmännischer Kompetenz aus dem Konzept gebracht werden kann, ist das für die Außenwirkung fatal. Um weitere Eigentore zu vermeiden, muss sich die Linke zuerst von jenen Dogmen trennen, die sie jahrzehntelang – Stichwort Neoliberalismus – herunter gebetet hat [...] Liberale verfolgen in Debatten oft dieselbe simple Taktik: Offene Fragen stellen und so viel Antwortspielraum geben, dass sich Linke selbst entlarven, worauf wiederum kritische Nachfragen folgen. Leider geht diese Taktik wieder und wieder auf: Die Parteivorsitzende, die vom eigenen Steuerkonzept überfordert ist und es nicht nur auf den Kopf stellt, sondern auch noch an dessen Grundpfeilern sägt; die ehemalige Fraktionsvorsitzende, die erzkonservative Ängste vor der Inflation schürt und in der Analyse nicht zwischen angebotsseitigen und nachfrageseitigen Ursachen unterscheidet; Abgeordnete, Kandidierende und Parteivorstandsmitglieder, die weder das Rentensystem noch den Finanzmarkt verstanden haben und Kapitalismus mit Marktwirtschaft in einen Topf werfen. Auch bei ökonomischen Grundlagen wie dem Unterschied zwischen Fluss- und Bestandsgrößen, der Bedeutung eines Monopols und dem Zweck einer Steuer fallen insbesondere Linkspartei-Funktionäre regelmäßig wegen ihrer mangelnden Expertise auf – im täglichen Social-Media-Battle, aber auch in Formulierungen in Wahlprogrammen. Innerhalb der LINKEN gilt die Wirtschaft- und Finanzpolitik für viele Abgeordnete seit langem als weniger attraktiv als andere Fachbereiche. Diese Entwicklung hat mittlerweile dazu geführt, dass – angesichts der Listenaufstellung zur nächsten Bundestagswahl – der Linkspartei der Nachwuchs fehlen wird. (Lukas Scholle, Jacobin)
Wir haben hier dasselbe Thema, das ich in meinem Artikel zu Medienmechanismen angesprochen habe. Wer bei einem Thema keine Kompetenz besitzt, ob echt oder zugeschrieben, muss sich nicht wundern, wenn die Partei immer blöd dasteht, wenn das Thema dann verhandelt wird. Das hat wenig mit einer Feindschaft der Medien gegenüber der LINKEn zu tun, sondern damit, dass sie den Eindruck, nicht gerade für Wirtschaftskompetenz zu stehen, halt gerne bestätigt.
Genauso bestätigt die FDP den Eindruck, nicht eben Expertin für Gerechtigkeitsfragen zu sein, die CDU den Eindruck, dass ihr der Klimawandel am Popo vorbeigeht, die Grünen, dass ihre Vorschläge immer auf Verbot und Verzicht hinauslaufen und so weiter und so fort. Erneut, wie berechtigt das ist, ist eine ganz andere Debatte. Aber wenn man diesen Eindruck zerstreuen will, sollte man die notwendige Kärnerarbeit schon bringen, und wie wir in Fundstück 7 sehen werden, besteht da leider wenig Hoffnung derzeit.
Nun ist hier nicht der Ort, um die Debatte der vergangenen Jahrzehnte nachzuerzählen. So hatte der Staat die Mineralöl- und Mehrwertsteuer immer wieder erhöht, allerdings aus fiskalischen Gründen. Eine Lenkungswirkung war selbst dann festzustellen, Autos und Heizungsanlagen wurden effizienter. Das alles wurde vergessen, wie man gestern Abend leider erleben musste. Ansonsten käme niemand auf die Idee, der Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den ländlichen Räumen die Mobilität nehmen zu wollen. Das wäre die logische Konsequenz, wenn eine zukünftige Bundesregierung die Annahme von Alexander umzusetzen versuchte. Besser konnte man wirklich nicht den weitgehenden Kompetenzverlust in Teilen unserer politischen Klasse dokumentieren. Sie versteht noch nicht einmal mehr die eigenen programmatischen Ansätze, sondern ersetzt sie durch sich wissenschaftlich anhörende Phraseologie. Dann ist halt von „Transformation“ die Rede, das hört sich gut an. Oder von „sozialer Klimapolitik“, das hört sich noch besser an, wie bei Frau Lang. Im Gegenzug schwadronierte Blume von einem „Feldzug gegen Autofahrer und Mobilität.“ Das war der christsoziale Sound der vergangenen Jahrzehnte, als man noch die ökologische Steuerreform entschieden blockierte. Heute ist Blume dafür, selbst wenn er gar nicht verstanden haben sollte, worum es dabei geht. Ansonsten hätte er deutlich machen müssen, warum es gerade nicht darum geht, das Autofahren im ländlichen Raum möglichst zu reduzieren. Aber das Damaskus-Erlebnis seines Parteivorsitzenden hatte auch nichts mit dem Klimawandel zu tun, den ein Oskar Lafontaine als SPD-Parteivorsitzender schon vor Jahrzehnten als Begründung für eine ökologische Steuerreform nannte. Es war schlicht die Reaktion auf eine erfolgreiche PR-Kampagne über die Klimapolitik in den beiden vergangenen Jahren. Die Politik interessiert sich nicht mehr für Inhalte, sondern lediglich für mediale Anreizsysteme. (Frank Lübberding, FAZ)
Lübberding kritisiert hier im Endeffekt dieselben Mechanismen, die ich allgemein in meinem Artikel zu den "grünen Medien" beschrieben habe, am Beispiel einer einzigen politischen Talkshowsendung. Ich mag auch den Rückgriff auf Lafontaine; ein ähnlicher Rückgriff auf Angela Merkel, die als Umweltministerin 1997 verkündete, wie wichtig Klimaschutz zum damaligen Zeitpunkt war, um späterer, größere Kosten zu vermeiden, zeigt dasselbe.
Klimaschutz wurde 2019 plötzlich zum Riesenthema. Entsprechend wurde es in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, und jede*r musste etwas dazu zu sagen haben. Und da sich vorher praktisch nur die Grünen groß damit beschäftigt hatten, sahen die im Vergleich besser aus. Im Vergleich.
8) The Authoritarian Threat Is Not Overhyped - Ross Douthat’s unpersuasive case for complacency
The notion that enacting vote restrictions will somehow prevent Republicans from crying fraud assumes that these cries have some connection to reality. If most Republicans believe Trump actually won the election despite absolutely zero evidence of voter fraud, what possible measures could allay their suspicions? The amount of evidence can’t get below zero. The cause of Republican paranoia is not real weaknesses in the system, but an evidence-free belief that Democratic voting, especially by minorities, is inherently illegitimate and fraudulent. [...] Suppose Trump had dropped dead in January. Would Republicans not be passing vote suppression laws? They very likely would. And the reason is that, while Trump is an extreme manifestation, his authoritarian impulses are not purely idiosyncratic. Skepticism of democracy as a value has deep roots in conservative thought. While conservative parties in other countries accommodate themselves to democratic control over the economy generations ago, the American right has never relinquished its belief that allowing majorities to redistribute income at the ballot box is a fundamental violation of liberty. The unstated premise of the case for complacency is that we just need to get through one more election before matters to normal. Trump may be oddly energetic for a sedentary man of his age, but he can’t live forever. The alarmist rejoinder is that, when Trump disappears from the scene, the authoritarian threat will not. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich will nicht schon wieder auf der sattsam bewiesenen Tatsache herumreiten, dass die Republicans keine demokratische Partei sind. Stattdessen will ich auf einen historischen Aspekt eingehen, den Chait hier anspricht. In Europa wurden die konservativen Parteien zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg soweit domestiziert, dass sie den demokratischen Grundkonsens - Gleichheit aller Bürger*innen, Wahlrecht aller Bürger*innen, grundsätzliches Bekenntnis zum Sozialstaat - eingingen. Dies gilt sogar für die britischen Tories.
In den USA dagegen war das so nie der Fall. Die conservatives dort - und ich setze hier absichtlich einen anderen Begriff als konservativ - haben nie akzeptiert, dass dies der Fall ist. Das liegt am völlig anderen Verständnis von liberty, also Freiheit, als dies gerade aus europäischer, aber auch amerikanisch-progressiver Sicht der Fall ist. Liberty ist nicht dasselbe wie freedom, ist nicht dasselbe wie equality oder democracy. Liberty ist, anders als freedom, der Begriff der amerikanischen Revolution. Unter ihrem Banner errangen die USA ihre Unabhängigkeit und bauten ihren Staat auf. Freedom dagegen ist das Schlagwort der zweiten amerikanischen Revolution, der Sklavenemanzipation und folgenden Reconstruction - dem Todfeind der conservatives.
Das alles ist etwas komplex, um es in einem kurzen Kommentar hier abzuhandeln. Bei entsprechendem Interesse kann ich das ja mal in einen eigenen Artikel verbasteln. Für den Moment bleibt erst einmal die Erkenntnis, dass Worte eine Bedeutung, einen Kontext haben, und dass der meist historisch begründet ist. Den zu kennen ist wichtig, wenn man an den Debatten teilnehmen will.
9) The Secret IRS Files: Trove of Never-Before-Seen Records Reveal How the Wealthiest Avoid Income Tax
ProPublica’s data shows that while some wealthy Americans, such as hedge fund managers, would pay more taxes under the current Biden administration proposals, the vast majority of the top 25 would see little change. [...] Yet this is not the self-effacing gesture it appears to be: Wages are taxed at a high rate. The top 25 wealthiest Americans reported $158 million in wages in 2018, according to the IRS data. That’s a mere 1.1% of what they listed on their tax forms as their total reported income. The rest mostly came from dividends and the sale of stock, bonds or other investments, which are taxed at lower rates than wages. [...] So how do megabillionaires pay their megabills while opting for $1 salaries and hanging onto their stock? According to public documents and experts, the answer for some is borrowing money — lots of it. For regular people, borrowing money is often something done out of necessity, say for a car or a home. But for the ultrawealthy, it can be a way to access billions without producing income, and thus, income tax. [...] The notion of dying as a tax benefit seems paradoxical. Normally when someone sells an asset, even a minute before they die, they owe 20% capital gains tax. But at death, that changes. Any capital gains till that moment are not taxed. This allows the ultrarich and their heirs to avoid paying billions in taxes. The “step-up in basis” is widely recognized by experts across the political spectrum as a flaw in the code. (Jesse Eisinger/Jeff Ernsthausen/Paul Kiel, ProPublica)
Dieses großartige Recherchewerk von ProPublica, das zur ganzen (ausführlichen) Lektüre unbedingt anempfohlen sei, macht gerade die Runden. Eigentlich erfährt man darin nichts Neues: die Milliardäre zahlen praktisch keine Steuern, die Steuerlast liegt weitgehend auf der Mittelschicht. Soweit, so bekannt. Pikant sind eher die Details und die breite Datenlage, über die ProPublica verfügte und die hier erkkärt wird.
Für mich besonders herausstechend waren zwei Informationen:
Einmal, dass sich die Superreichen effektiv über Kredite finanzieren, um Steuern zu sparen. Diese Mechanik war mir bisher nicht klar. Ich wusste, dass sie kein Einkommen im normalen Sinne beziehen und ihre Vermögenswerte Buchwerte ihrer Unternehmensbeteiligungen, Kapitalanlagen etc. sind, also nicht flüssig zur Verfügung stehen. Aber dieser spezifische Aspekt war mir unbekannt.
Zum anderen, dass Warren Buffet der Milliardär mit der mit Abstand geringsten Steuerschuld ist. Buffet ist ja bekannt dafür, höhere Steuern für seine Klasse zu fordern, aber (oder deswegen? trotzdem?) ist er gleichzeitig derjenige, der am allerwenigsten Steuern bezahlt. Ich bin in der Bewertung dieser Tatsache agnostisch. Ist er ein Heuchler? Weiß er nur quasi aus Erfahrung wovon er spricht? Mir ist das auch egal. Das ist keine moralische Frage. Ich will nicht, dass diese Leute freiwillig mehr zahlen als sie müssten. Das zu erwarten ist Quatsch und kann nicht Grundlage des Steuerrechts sein. Ich will, dass diese Leute stärker besteuert werden. Wesentlich stärker. Denn Milliardäre und Demokratie sind unvereinbar.
10) Kein Blick fürs große Ganze
Die Anforderungen an das Rüstungswesen sind komplexer geworden. Heute will die Politik eine Armee, mit der sich Deutschland global engagieren kann. Daneben soll die Bundeswehr wieder den Großkampf gegen Russland leisten können. Das heutige Kriegsgerät ist wegen digitaler Komponenten aufwendiger zu konzipieren. Diese müssen zudem in raschen Zyklen erneuert werden. Daneben braucht es für Auslandseinsätze eine pragmatische und zeitnahe Beschaffung. Europäisch zu rüsten wird immer drängender. Nur so lassen sich Hauptwaffensysteme überhaupt noch zu annehmbaren Konditionen finanzieren, lässt sich ernstzunehmende militärische Schlagkraft aufbauen. Die Koordination all dessen ist schwierig und kostet Zeit, viel Zeit. Die Vielfalt der Anforderungen ist ebenfalls kostenintensiv. Die Bundeswehr soll deshalb alle Aufgaben über ein „Single Set of Forces“ abdecken – zu Deutsch: einen Werkzeugsatz militärischer Fähigkeiten. [...] Ein Blick in die Herzkammer der Bundeswehr-Rüstung, ins Beschaffungsamt in Koblenz – kurz BAAIN, wo das Projektmanagement zu allen Rüstungsvorhaben erfolgt: Das Amt arbeitet die Forderungen zur Rahmennationenarmee stetig ab – steht dabei aber unter dauernder Volllast. Eine Beschleunigung ist nicht in Sicht. Der Grund: Bei Gründung des BAAIN im Jahr 2012 galt für Politik und Militärplaner das Effizienzparadigma „Mehr aus Weniger“. Dazu wurde die gesamte Rüstung auf das BAAIN zentralisiert. Dem Amt wurde von den Teilstreitkräften sogar die aufwendige Übernahme von Waffensystemen in die Nutzung der Truppe übertragen. Damals hatte der Bereich BAAIN 11.300 Dienstposten, die auf 9.600 abgeschmolzen werden sollten – viel zu wenig Stellen für die umfangreichen Aufgaben. [...] Die Rekrutierung des zusätzlichen Personals läuft zäh, wie die Rüstungsberichte zeigen. Außerdem sind Dienstposten ein teurer Faktor im Wehretat, um die alle Organisationbereiche der Bundeswehr erbittert konkurrieren. Als fixe Kosten absorbieren sie zudem, was für Rüstungsinvestitionen im Etat vorgesehen ist, wenn dieser nicht entsprechend mit aufwächst. (Björn Müller, Reservistenverband)
Ich empfehle den ganzen ausführlichen Artikel für all jene, die sich für die Mechanismen der Rüstungsbeschaffung interessieren. Wenig überraschend: es ist deutlich komplizierter, als man so gemeinhin denkt. Aber das trifft ja bekanntlich auf jedes Thema zu. Ich finde es spannend, wie der Autor den Unterschied der heutigen Bundeswehr und ihrer Anforderungen zu der Armee des Kalten Krieges herausarbeitet: obwohl die Bundeswehr damals deutlich größer war, war ihr Aufgabenbereich viel kleiner. Das hatte ich so bisher nicht auf dem Schirm.
11) Schwarzsein. Über die Abwesenheit der Black Studies in der Erinnerungsdebatte
Zeichnet man in diesem Sinne die Übertragung und Verwandlung der Rassenkonzepte aus Südwestafrika bis zu ihrer Anwendung in den Gebieten und an den Bevölkerungen Ostpreußens nach, kann man gewissermaßen den Weg der Verhärtung des Deutschseins als Weißsein nachzuvollziehen: Eine so konzipierte deutsche Staatsbürgerschaft, die auf dem Ausschluss von Schwarzsein, Jüdischsein und anderen „Unreinheiten“, basierte, bedurfte einer rassenhygienischen Wissenschaft, erzwungener Segregationen und schließlich des Genozids. Der Literaturwissenschaftler Dorian Bell, der über Antisemitismus im französischen Kaiserreich schreibt, bezeichnet in seinem Buch Globalizing Race: Antisemitism and Empire in French and European Culture (2018) die Art und Weise, wie sich imperiale Logiken der „Rasse“ in verschiedenen Formen und in unterschiedlichen Maßstäben und Skalen an verschiedenen Orten realisieren, als „rassische Skalarität“. Mit diesem Konzept lässt sich verstehen, wie „es für [die Idee von] Rasse möglich war, Raum zu produzieren, wie auch umgekehrt für Raum, Rasse zu vermitteln und zu produzieren.“ Anders gesagt, bedeutet das, dass das Konzept „Lebensraum“, das im Deutschen Kaiserreich Geltung erlangte, zwar Merkmale besaß, die demjenigen des nationalsozialistischen Deutschlands ähnlich waren, aber dennoch nicht in diesem aufging; und zwar deshalb, weil die Kontexte des Bevölkerungsmanagements (indigene Afrikaner in Südwestafrika im Vergleich zu Juden, Roma und anderen in Deutschland) und der Landnahme (afrikanische Kolonien im Vergleich zu Mittel- und Osteuropa) unterschiedlich waren – die politischen Ziele aber doch ähnlich, nämlich die Schaffung eines reinen deutschen Volkes. [...] Die Fokussierung auf das Schwarzsein ist für mich eine ständige Erinnerung daran, dass bei diesen historiografischen Debatten sehr viel auf dem Spiel steht. Dringender als die Auseinandersetzungen darüber, ob der deutsche Weg von Windhoek nach Auschwitz ein direkter, indirekter oder nicht vorhandener war, ist die Inkonsistenz, mit der Genoziderfahrungen betrachtet und beurteilt werden. [...] Was in dieser Debatte über Kontinuität auf eklatante Weise abwesend ist, sind die Black Studies und die Schwarzen Menschen selbst: die schockierende Herabstufung von und das Desinteresse an lebenden und toten Schwarzen Menschen, die abstrakte Behandlung afrikanischer/Schwarzer Menschen als Subjekte distanzierter historischer Betrachtungen. (Zoé Samudzi, Geschichte der Gegenwart)
Es ist auf dunkle Weise faszinierend, dass diese Thematik noch so völlig untererforscht ist. Nicht nur, was die Vernichtungskriege gegen die Herero und Nama als einzelnes Ereignis anbelangt - hier hat sich Deutschland ja quasi einer kollektiven Amnesie ergeben - sondern auch, was die Verbindungslinien zum zentralen deutschen Ereignis angeht, dem Holocaust. Bedenkt man, wie umfangreich dieser erforscht ist, ist umso auffälliger, dass erst jetzt der Bezug zur Kolonialzeit überhaupt ernsthaft in die größere Debatte kommt.
Es ist ja nicht so, als hätte man die Wurzeln des Holocaust noch nie im Kaiserreich zu finden versucht; wir haben ja gerade einen veritablen Historiker*innenstreit darüber am Laufen! Aber der Kolonialismus blieb und bleibt ein blinder Fleck, was vermutlich auch mit Deutschlands (falscher) Selbstwahrnehmung zusammenhängt, keine "echte" Kolonialmacht gewesen zu sein.
Besonders hervorhebenswert erscheint mir der Aspekt der Sichtbarmachung, der im Text angesprochen wird. Zahlreiche Erinnerungsprojekte für den Holocaust, die Zwangsarbeit, Terror und Verfolgung im Nationalsozialismus legen ja ein sehr großes Gewicht gerade darauf, den Opfern Namen zu geben. Hervorstechend dafür ist die israelische zentrale Gedenkstätte Yad Vashem, in der die Erinnerung an Einzelmenschen lebendig gehalten wird; auch die Gedenkstätte Auschwitz versucht, die abstrakten Zahlen, die allzu oft im Millionenbereich liegen, durch Invidiualisierung begreifbar zu machen. Solche Ansätze fehlen für die Kolonialverbrechen völlig; die Opfer sind, bestenfalls, namenlose, schwarze Opfermasse. Da ist noch viel zu tun.
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