Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
Udo Knapp erklärt, dass Habeck mit seinen Energiewende-Gesetzen einen Rahmen schaffen wolle, um die ökologische Transformation der Wirtschaft voranzutreiben. Obwohl die Mehrheit der deutschen Wirtschaft bereits aus ökonomischem Interesse diesen Weg eingeschlagen habe, werde Habecks Plan von anderen Parteien, Klimaaktivisten und vielen Bürgern abgelehnt. Knapp erklärt, dass der Klimawandel zwar anerkannt sei, jedoch die Bereitschaft für den notwendigen Wandel fehle. Die Klimaaktivisten setzen auf außerparlamentarischen Kampf, der jedoch die Vorbehalte gegenüber dem Klimagerede bestätige. Die etablierten Parteien nutzen dies für politisches Nichtstun aus. Die Grünen müssten Erfolge in Wirtschafts- und Klimapolitik erzielen, um Zweifel abzubauen. Habeck werde voraussichtlich Kompromisse eingehen, um Zustimmung zu erhalten. Knapp warnt vor Hass auf Habeck, da dies Demokratiefeinde stärke und zu Gewalt führen könne. Es sei wichtig, dass Ablehnung und Schweigen nicht zu einem Scheitern von Habeck und einer fehlenden Klimapolitik führten. (Udo Knapp, taz)
Es ist hier, wo ich meine größten Probleme bei der Anti-Habeck-Kampagne habe. Das typische Problem der deutschen Parteienlandschaft, dass Klimaschutz immer noch irgendwie als "grünes" Thema gesehen wird, führt weiterhin dazu, dass alternative Konzepte dünn gesät sind und die Priorität bei den anderen Parteien zu niedrig ist. Bei aller berechtigten Kritik an Habecks Plänen gibt es schlicht kein Alternativkonzept. Weder hat die Opposition eines - AfD und LINKE sowieso nicht, und die CDU auch nicht -, noch gibt es ausgearbeitete Gegenentwürfe innerhalb der Koalition. Für die SPD spielt das Thema praktisch keine Rolle, und die FDP versteckt sich hinter blumigen Hoffnungen auf irgendwelche Zukunftsentwicklungen und Marktkräfte, die sie von jeder gestalterischen Rolle entheben. Diese Alternativlosigkeit ist die Schuld der anderen Parteien. Ich habe das schon öfter thematisiert; wir finden das ja auch auf anderen Feldern. Man denke nur an die Sicherheitspolitik, wo die linken Parteien zwar zwei Jahrzehnte sehr gut darin waren, jegliche Modernisierung der Bundeswehr zu verhindern und ständig neue Konzepte zu blockieren, aber keine eigenen hatten. In der Krise standen (und stehen) sie dann blank da.
2) Macht euch auf Ärger gefasst
Alan Posener stellt fest, dass der Staat, der von den Bürgern Engagement für die Energiewende fordert, ihnen bürokratische Hindernisse in den Weg legt. Der Staat sei sowohl verordnend als auch verhindernd, was zu Frustration bei den Bürgern führe. Posener argumentiert, dass der Staat initiativ werden müsse und dass die gängige neoliberal geprägte Denkweise aller politischen Parteien überdacht werden müsse. Statt lediglich einen "Ordnungsrahmen" aus Verordnungen und Verboten festzulegen und den Rest der Privatwirtschaft zu überlassen, seien staatliche Programme erforderlich. Beispiele hierfür seien der Ausbau des Fernwärmenetzes, dezentrale Heizkraftwerke und spezialisierte Abteilungen in Behörden, die Eigentümer und Hausverwaltungen bei klimafreundlichen Projekten unterstützen. Zudem müssten Genehmigungsbehörden personell verstärkt und bürokratische Vorschriften flexibler gestaltet werden, um Bürgerinnen und Bürgern, die sich für den Klimaschutz engagieren wollen, entgegenzukommen. Posener schlägt vor, dass aus dem neoliberalen Verordnungs- und Verhinderungsstaat ein sozialliberaler Ermöglichungs- und Initiativstaat werden müsse, und ermutigt die Regierungskoalition, sich als Fortschrittskoalition zu verstehen und entsprechend zu handeln. (Alan Posener, ZEIT)
Der deutsche Bürokratiedschungel ist vermutlich nichts, was nicht von irgendjemandem schon einmal beklagt worden wäre. Poseners Schilderung der kafkaesken Zustände für den Bau der Wärmepumpe zeigen einmal mehr deutlich, welche Absurditäten gerade im Baurecht oft vorliegen. Entbürokratisierung und Deregulierung wären an und für sich die naheliegende Lösung, aber wie stets ist das politisch gar nicht so einfach. Jede einzelne Regel hatte ja einen guten Grund für ihre Einführung, und es ist erst die Masse, die sie zum Problem werden lässt. Deswegen wird auch die Abschaffung jeder individuellen Regel fast immer mehr Widerstand hervorrufen als Engagement zu ihrer Abschaffung vorhanden ist; irgendjemand findet sie immer ganz toll und wichtig. Das ist eine Grunddynamik jedes Regelsystems.
Andrea Geier erklärt, dass das lyrische Ich als literaturtheoretische Konstruktion Verhältnisse zwischen fiktionaler und lebensweltlicher Sprechinstanz erfassen könne. Sie warnt davor, Autor und Textsubjekt einfach zu identifizieren, erlaubt jedoch das Verfolgen von Spuren. Das lyrische Ich sei ein didaktischer Appell, der besage, dass man in jedem Fall sorgfältig abwägen müsse, ob biografische Kontexte für die Interpretation relevant seien. Heutzutage bevorzuge die Literaturwissenschaft neutrale Begriffe wie Sprechinstanz und Sprech(er)funktion. Historische Konzepte des lyrischen Ichs beinhalteten sowohl das Nachdenken über den fiktionalen Status als auch einladende Identifikationspositionen. Das lyrische Ich existiere also nicht genau so, wie es in literarischen Debatten dargestellt werde, aber auch nicht überhaupt nicht. Im Fall des Vergewaltigungsgedichts werde das lyrische Ich zu einem Scheinargument. Die Frage, wie man den Autor in Bezug auf die Darstellung von Vergewaltigung betrachten solle, könne nicht allein durch Verweise auf das lyrische Ich beantwortet werden. Die Debatte lehre den Literatur- und Kulturbetrieb, vorsichtig mit dem Konzept des lyrischen Ichs umzugehen und Kunstfreiheit und Werteorientierung in Verbindung zu bringen. Gewaltphantasien in der Kunst könnten möglich sein, aber es bleibe die Frage nach der Darstellungsqualität und den Effekten. "Wenn du schläfst" sei eine völlig ungebrochene Darstellung von Missbrauch und Vergewaltigung, die möglicherweise zur Normalisierung sexualisierter Gewalt beitrage. Eine reflexive Auseinandersetzung sei notwendig, anstatt provokante Tabubrüche als aufklärerisch zu rechtfertigen. (Andrea Geier, FAZ)
Zugegebenermaßen sind meine Profession und ich an dieser Fehlannahme über das lyrische Ich nicht ganz unschuldig. Es ist schwer genug, Schüler*innen überhaupt beizubringen, was das lyrische Ich ist und sie von dem Unfug der Gleichsetzung von Autor und lyrischem Ich abzubringen; die Feinheiten, die Geier hier beschreibt, übersteigen den üblichen Rahmen des Deutschunterrichts. Und wer beschäftigt sich nach dem Abitur schon noch mit Literaturtheorie?
Davon einmal abgesehen zeigte die Debatte schon bei Erscheinen von Lindemanns Bändchen 2020 das von Geier beklagte Missverhältnis von Kunstfreiheit und Werteorientierung. Genauso wie die Meinungsfreiheit wird die Kunstfreiheit oft dergestalt missverstanden, dass allem auch eine Bühne geboten werden müsse. Das ist aber nicht so. Die Freiheit Lindemanns, ein Vergewaltigungsgedicht zu schreiben, steht völlig außer Frage. Aus dieser Freiheit entsteht aber keine Verpflichtung des Kiwi-Verlags, das Ding auch zu drucken. Das war 2020 schon keine gute Idee, und im Licht der aktuellen Vorwürfe sieht diese Idee noch viel schlechter aus als ohnehin.
4) What the crisis at CNN means
Der Artikel von Ben Smith betont, dass der Abgang von Licht nicht nur als ein Management-Debakel betrachtet werde, sondern auch als ein strategisches Fiasko. Es wird darauf hingewiesen, dass das bloße Gerede über eine Verschiebung von CNN von einer anti-Trump-Konfrontation hin zu einer angenommenen politischen Mitte keine Resonanz beim Publikum gefunden habe. Eine offensichtliche Erklärung dafür sei, dass das Kabelfernsehen einem allgemeinen, weltlichen Niedergang unterliege. Selbst die besten Manager und Führungskräfte könnten diesen Trend nicht umkehren. Diese Vorhersage eines Rückgangs des Kabelfernsehens begleite die Branche seit den Anfängen des Internets, jedoch sei das Kabelfernsehen immer noch relativ neu und fragil. Es wird auch darauf hingewiesen, dass CNN und MSNBC um das gleiche Publikum konkurrierten - das alarmierte demokratische Publikum. Dieser Wettbewerb zwischen den Sendern sei in einer sich verändernden Medienlandschaft von Bedeutung. Die traditionellen Kabelsender verlieren an Relevanz, während sich die digitale Medienlandschaft fragmentiert und neue Einflussfaktoren und Influencer hervorbringt. Insgesamt deute dies darauf hin, dass sowohl CNN als auch MSNBC an Einfluss verlieren könnten. Ihre Bedeutung sei von beiden Seiten unter Druck, sowohl von der traditionellen Rundfunknachrichtenbranche, die trotz ihres eigenen offensichtlichen Niedergangs immer noch ein Vielfaches der Zuschauer erreicht, als auch von der digitalen Landschaft, die neue Stimmen und Influencer hervorbringt. (Ben Smith, Semafor)
Smith macht in seinem Artikel eine ganze Reihe von guten Punkten. CNN jagt tatsächlich einer Zielgruppe hinterher, die fast nur noch in der Einbildung der Medienschaffenden existiert. Die Polarisierung in den USA, vor allem aber die Abschottung des rechtsradikalen Teils in die Biotope von FOX News und OAN, haben einerseits die Zielgruppe für "unparteiischen" Journalismus weitgehend erodiert (quasi das Segment der Tagesschau) als auch die Herstellung solchen Journalismus' weitgehend verunmöglicht, wie man an dem misslungen Trump-Townhall gut sehen konnte. Wenn eine Seite des politischen Spektrums nicht mehr demokratisch ist, kann man als Nachrichtensender keine Äquidistanz bewahren. Im Übrigen, wo ich gerade die Tagesschau erwähne: Der anhaltende Kulturkampf der rechtsbürgerlichen Presse in Deutschland gegen die Öffentlich-Rechtlichen sorgt hierzulande, wenngleich noch in kleinerem Umfang, für eine ähnliche Erosion.
Michael Felten sagt, ein Gespenst gehe um in der Bildungslandschaft - der Versuch, das schulische Prüfungswesen umzuwälzen. Er kritisiert alternative Prüfungsformen, bei denen Prüflinge Testaufgaben im Austausch und in Zusammenarbeit mit anderen bearbeiten sollen oder bei denen Prüfungen individuell und zu Hause abgelegt werden können, oder auch die Nutzung von Hilfsmitteln wie Lehrbüchern und das Einholen von Zwischentipps von Lehrkräften. Felten warnt vor einem "Prüfungsparadies" und betont, dass Teamarbeit und Spickzettel zwar bessere Noten, aber nicht unbedingt höhere Leistungsfähigkeit brächten. Er unterscheidet zwischen Kooperation beim Erarbeiten von Aufgaben und der individuellen Leistungsfähigkeit. Prüfungen schadeten laut Felten niemandem, solange sie gut vorbereitet und ermutigend kommentiert werden. Er betont die Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche, Probleme zu bewältigen und mit Schwierigkeiten umzugehen. Felten weist darauf hin, dass viele Schüler sich nur wegen Prüfungen anstrengten und nennt dies "extrinsische Motivation, die zumindest wirkt". (Michael Felten, Deutscher Philologenverband)
Felten unternimmt in seinem Artikel das beliebte rhetorische Mittel des Strohmann-Arguments: er baut eine Schreckensversion alternativer Prüfungskultur auf und reißt diese dann mit großem Getöse ein. Aber selbst, wenn alternative Prüfungen all die Strukturmerkmale hätten, die er hier zu einem Potpourri verrührt, ist seine grundlegende Prämisse schlicht falsch: nämlich, dass sie per se einfacher wären und zu guten Noten führten. Ich kann problemlos anspruchslose Klausuren mit herausragenden Schnitten schreiben, die so viel intellektuelle Eigenleistung erfordern, wie sie ein dressierter Affe aufbringen kann (und leider passiert das auch noch viel zu oft). Und ich kann alternative Prüfungsformate nutzen, die viel mehr Aufwand erfordern und wesentlich anspruchsvoller sind als jede Klausur. Es liegt schlicht an der Lehrkraft und ihrer Konzeption. Kein Format ist dem anderen hier "überlegen".
Am problematischsten aber finde ich Feltens moralistische Überhöhung von Anstrengung in Prüfungen und extrinsischer Motivation. Selbstverständlich, aktuell lernen die Kids nur, wenn wir den Kram auch abfragen (was natürlich zu dem bekannten Pänomen des Bulimie-Lernens und Stoff-vergessens direkt nach der Arbeit führt). Aber das liegt natürlich daran, dass wir sie jahrelang daraufhin trainieren. Das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Dazu kommt, dass die Idee, dass man an frustrierenden und schmerzhaften Erlebnissen wachse, völig aus der Mottenkiste der Pädagogik kommt. Das kann echt weg.
Resterampe
a) Ein Bericht aus der Bauregulierungshölle. Da brauchst dich über massiv steigende Preise und Wohnraummangel keine Sekunde wundern.
b) Noch als Nachtrag zu Bernd Freier im letzten Vermischten, natürlich kommt sofort Elon Musk und setzt der Idiotie noch einen auf.
c) Deutschland europaweit fast Schlusslicht bei Wärmepumpen. *slow clap*
d) Sehr guter Artikel bei Spektrum zur CO2-Bepreisung. Siehe dazu auch hier.
e) Dieter Nuhr ist manchmal schon echt cringe.
f) Spannenders Interview zum Beschaffungswesen in der Bundeswehr.
g) Eindrücklicher Bericht über Leseschwächen in der Sekundarstufe.
h) Republicans have now introduced over 500 anti-trans bills. Völliger Irrsinn.
h) Guter Punkt zu Scholz, kann man durchaus loben.
i) Wenn der Rechtsstaat völlig absurde Ergebnisse produziert.
j) Spannendes Detail zur Rammstein-Debatte.
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