Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Die Deutschen auf dem Holzweg
Der Artikel von Michael Sauga kritisiert die deutsche Ampelregierung, bestehend aus SPD, Grünen und FDP, und ihre Performance in der europäischen Politik. Der Autor bemängelt, dass die beiden Koalitionsparteien, insbesondere die Grünen und die FDP, den EU-Prozess stören und Kompromisse verhindern. Er weist darauf hin, dass selbst rechtspopulistische Politiker wie Giorgia Meloni aus Italien kompromissbereiter sind als die deutschen Ampelparteien. Der Autor lobt jedoch die Entscheidung der grünen Parteiführung, sich über die Basisproteste hinwegzusetzen und einen Asylkompromiss zu akzeptieren, der im Interesse Europas liegt. Er betont, dass ein deutsches Nein zu diesem Kompromiss zu einer Fortsetzung des langjährigen und spaltenden Migrationsstreits in Europa geführt hätte. Die grüne Parteispitze habe somit einen Akt der Vernunft gezeigt, auch wenn sie damit nicht unbedingt dem Parteiprogramm entspreche. Allerdings zeigt der Autor auch, dass die Grünen in anderen Bereichen, wie der Klimapolitik, nicht immer eine klare Haltung einnehmen. Ihre Ablehnung der Atomenergie, die von vielen EU-Regierungen als unverzichtbar angesehen wird, führt zu einem Streit mit Frankreich und belastet die europäische Umweltpolitik. Die FDP wird ebenfalls kritisiert, da sie in Brüssel oft blockiert, anstatt konstruktive Lösungen zu suchen. Der Autor bemängelt, dass die Partei ihre Technologieoffenheit erst nach ihrem Scheitern bei den Landtagswahlen entdeckt habe. Schließlich stellt der Artikel die Frage, ob FDP-Chef Christian Lindner stark genug sein wird, dem Beispiel der grünen Parteispitze zu folgen und konstruktive Kompromisse in der Europapolitik einzugehen. (Michael Sauga, Spiegel)
Ich stimme dem Tenor des Artikels weitgehend zu, denke aber, dass Sauga einen durch zu viel Äquidistanz verursachten Kategorienfehler begeht. Eine Blockade in der EU ist das tatsächliche Verhindern von Maßnahmen der EU - etwa bei dem Verbrennerverbot. Die Ablehnung der Atomkraft mag zwar potenzielle Kooperationen mit anderen Ländern behindern, ist aber keine Blockade der EU, da es hier - wenigstens meinem Wissen nach - keine entsprechenden Möglichkeiten gibt, überhaupt konstruktiv (also nicht nur regulierend) einzugreifen. In anderen Worten: die EU kann keine neuen Atomkraftwerke bauen, das machen alle Mitgliedsstaaten national. Am Ende ist das natürlich weitgehend Semantik.
Ich bin auch nicht sicher, ob ich soweit gehen würde, Meloni mehr Kompromissbereitschaft als den Ampelparteien zuzugestehen. Mein Gefühl wäre - ich lasse mich hier aber auch gerne korrigieren - dass hier eine Verwechslung dadurch entsteht, dass Meloni mit anderen rechtsradikalen italienischen Parteien in einen Topf geworfen wird. Meloni war aber anders als Berlusconi oder Salvini nie grundsätzlich ablehnend gegenüber der EU eingestellt (von Russland ganz zu schweigen), weswegen sie da eventuell mehr Lorbeeren für scheinbare Änderungen bekommt, als tatsächlich Abweichungen von früheren Positionen notwendig waren.
2) Germany faces $1 trillion challenge to plug massive power gap
Laut BloombergNEF werden die Kosten für die Zukunftssicherung des deutschen Energiesystems bis 2030 voraussichtlich über 1 Billion US-Dollar betragen. Dies beinhaltet Investitionen in die Modernisierung des Stromnetzes sowie den Ausbau neuer Energieerzeugungsanlagen, um den Ausstieg aus Atom- und Kohlekraftwerken zu bewältigen, den steigenden Bedarf an Elektroautos und Heizsystemen abzudecken und die Klimaziele zu erreichen. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, müssen täglich Solaranlagen mit einer Fläche von 43 Fußballfeldern installiert und 1.600 Wärmepumpen eingebaut werden. Zusätzlich sollen laut einer Wunschliste von Kanzler Olaf Scholz jede Woche 27 neue Onshore- und vier Offshore-Windparks gebaut werden. Vizekanzler Robert Habeck bezeichnete das Vorhaben als "mutiges Unterfangen" und möglicherweise als das ehrgeizigste Projekt seit dem Wiederaufbau Deutschlands. Bis 2030 müssen rund 250 Gigawatt neue Kapazität installiert werden, um den erwarteten um ein Drittel höheren Strombedarf zu decken. Die benötigte Energieerzeugung könnte den Haushaltsbedarf aller 448 Millionen Menschen in der Europäischen Union decken. Die neue Energieerzeugung wird aus erneuerbaren Energien und möglicherweise in Wasserstoff umwandelbaren gasbetriebenen Anlagen bestehen. Die größte Herausforderung besteht darin, bestimmte Energiequellen abzuschaffen, ohne klare Pläne für ihren Ersatz zu haben. Mit dem Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft sucht Deutschland nach alternativen Energiequellen, während der Bedarf durch Elektroautos, Wärmepumpen und Elektrolyseure zur Wasserstoffproduktion steigen wird. Die Regierung ist auf die Unterstützung des privaten Sektors angewiesen, um die benötigten Materialien und Investitionen bereitzustellen. Es müssen auch Lösungen für die Stromerzeugung in Zeiten fehlender Wind- und Sonnenenergie gefunden werden. (Petra Sorge/Josefine Fokuhl, Bloomberg)
Die hier aufgeschriebenen Zahlen legen einmal mehr das ganze Ausmaß der Merkel'schen Opportunitätskosten bloß. Die konsequente Verweigerung eines forcierten Ausbaus von erneuerbaren Energien und anderen Alternativen hat in Kombination mit dem Atomausstieg die wenig überraschende Konsequenz, dass jetzt die Kapazitäten für CO2-neutrale Energie fehlen. Auch die Hoffnungen auf utopischere Alternativen wie Wasserstoff oder Kernfusion hätten eine Unterfütterung mit viel mehr Forschung und Investition benötigt, wenn man sie ernsthaft hätte haben wollen. Wie üblich wird es umso teurer, je länger man eine Investition verschleppt. Was mich daran wirklich wahnsinnig macht ist, dass die Verschleppung jetzt weitergeht. Wir ergehen uns in sinnlosen Streits, ob Wärmepumpen oder doch Wasserstoff die beste Alternative sind. Ich bleibe dabei, dass die Antwort nur sein kann: everything and the kitchen sink. Und da das alles mit der zur Verfügung stehenden Infrastruktur steht und fällt, braucht es hier massiven Ausbau, und zwar ab sofort. Die Kosten werden nur noch weitersteigen - sowohl in Geld als auch in volkswirtschaftlichem Potenzial.
3) Larry Summers Was Wrong About Inflation
Im Juni 2022 prophezeite Summers, dass fünf Jahre Arbeitslosigkeit über 5 Prozent erforderlich seien, um die Inflation einzudämmen. Er glaubte, dass die USA Millionen von Menschen gezielt arbeitslos machen müssten, um eine sich verschärfende Inflationskrise zu verhindern. Doch es stellte sich heraus, dass Summers falschlag. Lohn- und Preiswachstum verlangsamten sich, obwohl die Arbeitslosigkeit nahe historisch niedriger Werte blieb. Summers ging davon aus, dass die "natürliche Arbeitslosenquote" bei 5 Prozent liege. Diese Theorie besagt, dass es immer eine bestimmte Arbeitslosenrate gibt, die mit der gewünschten Inflationsrate übereinstimmt. Eine Arbeitslosenrate über diesem "natürlichen" Niveau führt zu niedriger Inflation, während eine Arbeitslosenrate darunter nicht nur zu hoher Inflation, sondern zu einer beschleunigten Inflationsrate führt. Summers' Einschätzung erwies sich als unrealistisch. Die Arbeitslosigkeit bei etwa 3,5 Prozent führte weder zu einer Lohn-Preis-Spirale noch zu starkem Lohn- oder Preiswachstum. Es gibt mehrere mögliche Erklärungen für Summers' Fehler. Eine Möglichkeit ist, dass seine Annahmen zur natürlichen Arbeitslosenquote fehlerhaft waren. Es ist auch möglich, dass das Konzept einer "natürlichen Arbeitslosenquote" grundsätzlich fehlerhaft ist. Es könnte ein Artefakt einer vergangenen Ära sein, in der Gewerkschaften eine größere Rolle spielten und Lohnsteigerungen automatisch an die Inflation angepasst wurden. Heute hingegen sind Lohnerhöhungen schwieriger durchzusetzen. Es ist klar geworden, dass eine enge Arbeitsmarktsituation in den USA nicht zwangsläufig zu einer Lohn-Preis-Spirale führt und Millionen von Menschen arbeitslos gemacht werden müssen, um die Inflation einzudämmen. (Eric Leviz, New York Magazine)
Wenn es nur Larry Summers wäre. Glücklicherweise hat man nicht auf ihn gehört und erledigt sich in den USA die Phantasmagorie einer Lohn-Preis-Spirale von selbst. Die fixe Idee, dass es für eine stabile Wirtschaft eine Sockelarbeitslosigkeit braucht, ist einfach nur pervers. Denn gleichzeitig wird ja immer so getan, als wäre Arbeitslosigkeit eine individuelle Verfehlung und wird hartnäckig verweigert, die Leute äquivalent zum vorherigen Lebensstandard zu stützen. Aber wenn man bewusst Leuten die Existenzgrundlage nimmt, um die Inflation niedrig zu halten, und sie dann im Regen stehen lässt - sorry, das ist einfach nur asozial. Und es betrifft nie die Leute, die sich dafür aussprechen.
In den letzten Wochen des Jahres 1969 entbrannte in den Seiten der National Review eine Debatte darüber, wie amerikanische Konservative auf die Bedrohung durch die New Left reagieren sollten - das erweiterte Universum der Sozialisten, Bürgerrechtsaktivisten, Anti-Kriegs-Protestler, Feministinnen, Umweltschützer und anderer linksradikaler Gruppen, die damals politische Wellen schlugen. Der politikwissenschaftliche Professor Donald Atwell Zoll war der Meinung, dass Konservative den Liberalismus überwinden und gegen den neuen radikalen Linkskurs kämpfen müssten, da dieser die traditionellen Spielregeln nicht einhalten wolle. Er befürchtete, dass der totalitäre Radikalismus die Oberhand gewinnen würde und dass Konservative sich von ihren anti-autoritären Hemmungen befreien und unkonventionelle Methoden anwenden müssten, um zu überleben. Diese Vision stieß jedoch auf Kritik von anderen Konservativen wie Frank S. Meyer, der argumentierte, dass Konservative ihre Werte der Freiheit und des Pluralismus bewahren sollten, ohne zu autoritären Maßnahmen zu greifen. Die Diskussion zwischen den beiden Positionen wurde fortgesetzt, fand jedoch vorerst kein klares Ergebnis. Im Jahr 2019 entfachte Sohrab Ahmari eine ähnliche Debatte, als er den konservativen Liberalismus kritisierte und forderte, dass konservative Christen den Kulturkampf gegen Linke mit Machtmitteln führen sollten, um ihre eigene Ordnung durchzusetzen. David French, ein Vertreter des liberalen Konservatismus, entgegnete, dass der Konservatismus an seinen Grundprinzipien festhalten und einen Raum für alle Meinungen bewahren sollte, auch wenn man in politischen Auseinandersetzungen gegeneinander kämpft. Trotz all des Tumults der 60er und 70er Jahre ist es der Neuen Linken nicht gelungen, die liberale Ordnung zu stürzen oder eine gewaltsame soziale Umwälzung herbeizuführen. Keine einzige Bastille wurde in Amerika gestürmt, geschweige denn hundert. Die demokratische Pluralität hat überlebt. Totalitärer Radikalismus hat bisher nicht gesiegt. Der kulturelle Kataklysmus bleibt wie immer in der Zukunft. Es bleibt abzuwarten, ob die aktuelle Bedrohung durch den Linken intensiver und unmittelbarer ist als in der Vergangenheit. Es ist jedoch zu beachten, dass viele staatliche und lokale Regierungen, fast alle Strafverfolgungsbehörden, das Militär und der Oberste Gerichtshof im Jahr 2023 konservativ ausgerichtet sind. (Stephanie Slade, Reason.com)
Ich finde diese Debatte aus zwei Gründen interessant. Einmal ist da, dass das an die Wand gemalte Schreckensgespenst, das die eigene Radikalisierung legitimieren sollte, offenkundig nicht eintritt. Es gab keine sozialistische Revolution in der Mitte des 20. Jahrhunderts, und umgekehrt haben sich die Horrorszenarien der 68er, die Panik vor den Notstandsgesetzen und Ähnliches, mit denen sich auch die RAF legitmierte, nie erfüllt. Gleiches gilt für die Berufsverbote oder die Sicherheitsgesetze nach 9/11; der (im letzteren Fall auch von mir seinerzeit erwartete) Absturz in den Autoritarismus fiel ins Wasser. Genau dasselbe gilt, Stammleser*innen wissen das bereits, auch für die moral panic der Cancel-Culture-Debatte. Mit etwas Glück wird es sich für die aktuelle Panik über die Umfragewerte der AfD und eine entsprechende Gefahr ähnlich verhalten.
5) Sobald auch nur ein Parkplatz wegfällt
Die Senatsverkehrsverwaltung hat die Bezirke gebeten, vorerst keine neuen Radwegprojekte zu starten, wenn dafür auch nur ein Pkw-Stellplatz wegfallen würde. Eine entsprechende E-Mail aus der Abteilung Verkehrsmanagement der Senatsverwaltung an den Bezirk Lichtenberg wurde dem Tagesspiegel vorgelegt. In der E-Mail heißt es, dass die neue Führungsebene der Senatsverwaltung zukünftig andere Prioritäten bei der Aufteilung der Straßen setzen wird. In Absprache mit Manja Schreiner (CDU), der neuen Senatorin für Mobilität und Verkehr, werden vorerst keine Stellungnahmen, Prüfungen, Anhörungen oder ähnliche Aktivitäten im Zusammenhang mit Radverkehrsplanungen durchgeführt. Es wurde angeordnet, dass alle Projekte vorübergehend ausgesetzt werden sollen, die auch nur einen Autostellplatz gefährden oder den Wegfall von einem oder mehreren Fahrstreifen zur Folge haben. Zudem soll keine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h auf längeren Strecken oder zur Schließung von Lücken im Radwegenetz festgelegt werden. Lediglich besondere Anträge von Kitas und Schulen sollen weiterhin geprüft und umgesetzt werden. Die Errichtung von Ampeln und die Beseitigung von Gefahrenstellen, wie von der Unfallkommission festgelegt, sollen hingegen nicht gestoppt werden. (Robert Klages, Tagesspiegel)
Ich sag es immer wieder: Deutschland ist Autoland. Was die CDU hier in Berlin abzieht, ist völlig absurd. Keine Radwege, wenn auch nur ein Parkplatz wegfällt oder irgendwo Tempo 30 sein muss? Einmal abgesehen davon, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit in Städten eh selten über 30 liegt (geschenkt), das ist effektiv eine Totalblockade. Dahinter steht die Annahme, dass Autofahrende ein Anrecht auf den öffentlichen Raum, mehr noch, auf seine Monopolisierung - und zwar kostenlos! - hätten. Das ist eine Politik, die völlig einseitig auf die Interessen einer Schicht ausgerichtet ist. Das wäre soweit ja noch nicht einmal das Problem (die Berliner*innen haben die ja gewählt), wenn es nicht den Bemühungen um eine Bekämpfung der Klimakrise so offenkundig im Weg stehen würde. Es braucht die bestmöglichen Alternativen zum Auto, und wer diese ausgerechnet in der Großstadt blockiert, wo die üblichen Argumente der schlechten ländlichen Infrastruktur nicht gelten, muss sich das auch voll vorwerfen lassen.
Resterampe
a) Gefühlte Temperaturerinnerung. Oder auch: wenn ein Argument mit "Früher..." anfängt, ist es fast immer falsch.
b) Guter Thread zur neuen nationalen Sicherheitsstrategie.
c) Gute Beobachtung zur Dynamik zwischen Grünen und FDP.
d) Unsere Eliten überschätzen ständig, wie konservativ die Bevölkerung ist.
e) Interessante Kritik/Prognose zu ChatGPT im Unterricht.
f) Sehr guter Artikel zu der Projektionsproblematik bei Rammstein. Danke an Ariane für den Link.
g) Schäuble performt den konservativen Elder Statesman echt gut.
h) Sehr gutes Interview zum Thema Wärmewende, unbedingt lesen!
i) Der Einfluss von ChatGPT auf die Anwaltsbranche. Danke an Dirk für den Link.
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