Dienstag, 6. Juni 2023

Rezension: Christoph Möllers - Das Grundgesetz

 

Christoph Möllers - Das Grundgesetz

Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Anders kann man eine Verfassung, die bald 75 Jahre alt sein wird, kaum beschreiben. Wenige geschriebene Verfassungen erreichen ein solch stattliches Alter. Was genau darin steht und wie es zu lesen ist, ist allerdings vielen Menschen nicht bekannt. Hier spielt eine Dichothomie eine Rolle, die vielfach bemerkt wurde: die Sprache des Grundgesetzes ist schlicht und angenehm lesbar (für einen Verfassungstext), was aber nicht bedeutet, dass sie deswegen auch verständlich wäre. Christoph Möllers vergleicht das mit einem Gedicht, das ebenfalls sprachlich hoch verdichtet Bedeutungsebenen verschränkt und der Kompetenz der Textanalyse (in dem Fall der lyrischen) bedarf, um tatsächlich verstanden zu werden. Da wir nicht alle Zeit für ein juristisches Staatsexamen haben und Grundgesetzkommentare ohne ein solches auch nicht verständlich sind, ist sein schmales, in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenes Bändchen hier mehr als hilfreich.

Möllers beginnt seine Darstellung in Kapitel 1 vorne, bei "Vorgeschichten und Entstehung". Zuerst beschreibt er in Abschnitt 1 die Vorgeschichten. Die Landesverfassungen vor 1848 sieht er als wenig prägend für das Grundgesetz; vielmehr sei es die Sprache der Paulskirchenverfassung, die stilbildend war und an der sich das Grundgesetz deutlich orientiert. Die Weimarer Reichsverfassung bekommt als erste demokratische und republikanische Verfassung mehr Aufmerksamkeit. Möllers wiederholt die mittlerweile konsensuale Feststellung, dass die Weimarer Reichsverfassung besser als ihr Ruf war, und attestiert dem Grundgesetz eine Überkompensation zum Schutz vor Extremismus, die die Rechtsprechung Weimars übersehe. Gleichzeitig überrascht die Fortführung bestimmter Traditionen aus dem Kaiserreich, etwa die Ausgestaltung des Reichspräsidentenamts oder die starke Stellung des Staats, nicht. Der Nationalsozialismus schließlich dient dem Grundgesetz vor allem als Negativfolie. Seine Missachtung von Grundrechten, sein Aushebeln jeglicher rechtsstaatlicher Prinzipien und seine Vorrangstellung des Staats und seiner Interessen vor dem Individuum waren Negativpunkte, gegen die sich die Ordnung des Grundgesetzes explizit verwahrte.

Von diesem Kurzüberblick geht es zu Abschnitt 2, den Vorentscheidungen. Diese beziehen sich vor allem auf die Arbeit in Herrenchiemsee, wo ein Entwurf erarbeitet wurde, der maßgeblich sein sollte. Für mich ist die Parallele zum Einfluss des Virginia Plan bei amerikanischen Verfassungsgesetzgebung offensichtlich. Hier wurde auch beschlossen, dass das Grundgesetz ein reines Provisorium sein sollte, um die Wiedervereinigung nicht zu verunmöglichen.

In Abschnitt 3 untersucht Möller den Parlamentarischen Rat, indem er kurz entscheidende Personen beschreibt - vor allem Carlo Schmid als Staatsrechtler und Konrad Adenauer als öffentliches Gesicht und vorrangigen "Politiker". Zentrale Streitpunkte betrafen vor allem den Staatsaufbau - die Sozialdemokraten wollten möglichst viel Zentralismus, Alliierte und Christdemokraten Föderalismus, der zudem dem Charakter als Provisorium mehr entgegenkam. Der Streit verschiedener Verfassungsverständnisse ist sehr rechtsphilosophisch - er ging mir ehrlich gesagt über mein Verständnis. Am Beispiel der Menschenwürde, die in Weimar bei weitem nicht so zentral war wie im Grundgesetz, zeigt Möllers den Umgang mit dem Weimarer Erbe genauer auf. Der Konflikt lief hier vor allem darauf ab, ob die Menschenwürde eine rechtliche Norm schuf (was die SPD erklärte) oder einen moralischen Zustand nur festschrieb (was die CDU behauptete). Formal behielt die SPD, in der Sache die CDU Recht, was die hervorgehobene Stellung der Menschenwürde in der Auslegung des Grundgesetzes bis heute erklärt. Abschnitt 4 erläutert kurz die Legitimation des Grundgesetzes: da nicht das gesamte deutsche Volk gefragt werden konnte, bezog es seine Legitimation wesentlich aus seinem Provisoriumscharakter.

In Kapitel 2, "Das Grundgesetz als Text", erläutert Möllers in Abschnitt 1 zuerst Aufbau und Gliederung. Das Grundgesetz stellt einen Grundrechteteil voran, enthält dann zweimal drei Abschnitte zum Staatsaufbau (eine unnötig komplizierte und nicht immer eingängige Konstruktion), ehe es noch Bestimmungen zu Finanzverfassung, Notstand und Übergangsbestimmungen auflistet. Für Möllers aber ist eine Zweiteilung entscheidend: die 19 Grundrechtsartikel zu Beginn, das Scharnier der Staatsziele in Artikel 20 und dann der ganze Rest, der den Verfassungsaufbau vorgibt.

Im zweiten Abschnitt erläutert er dann anhand einiger Beispiele zentrale Normen des Grundgesetzes. Er erläutert den umfassenden Begriff der Menschenwürde, die in Deutschland einen einzigartig hervorgehobenen Platz vor allen anderen Normen besitzt; die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die vor allem eine Aspiration beschreibt, die von Konservativen und Reaktionären erbittert bekämpft wurde und bis heute bekämpft wird; die Meinungsfreiheit als konstitutives Element der Demokratie; das Eigentumsrecht und seinen schwammigen Cousin, die Verpflichtung zum Gebrauch für das Allgemeinwohl; die Bedingung, dass alles staatliche Handeln vom Volk auszugehen habe (also von vom Volk bestimmten Institutionen); die Rolle der Parteien, die er als eine weitere Überkorrektur aus Weimar empfindet, da ihre Konstitutierung als Staatselement zu allen Arten von unangenehmen Verflechtungen beitrug; den wohl missverstandendsten Artikel, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten (die eben nicht von politischem Druck befreit); und zuletzt den quixotischen Artikel 146, der die Abschaffung des Grundgesetzes regelt.

Im dritten Abschnitt beklagt er die Natur der Textänderungen des Grundgesetzes, die allesamt eher die sprachliche Schönheit des Originals zerstört hatten und auf ein Übermaß von verfassungsrechtlicher Festschreibung politischer Konflikte zurückzuführen sind, währen der vierte Abschnitt zur Sprache des Grundgesetzes gerade diese Schönheit noch einmal darlegt.

Das dritte Kapitel, "Das Grundgesetz als Norm", erläutert im ersten Abschnitt den Vorrang der Verfassung: alle Bundes- und Landesgesetze müssen mit ihr konform gehen oder ihre Gültigkeit verlieren, ein entscheidendes Merkmal der Verfassung. Der zweite Abschnitt erläutert das Bundesverfassungsgericht in der Entwicklung des Grundgesetzes. Seine Existenz ist nicht selbstverständlich; der Bundesgerichtshof (BGH), der sich als direkte Fortsetzung des Reichsgerichts verstand und reaktionär ausgerichtet war, beanspruchte diese Rolle für sich und führte zähe Abwehrkämpfe gegen das BVerfG, die sich bis heute fortsetzen. Der dritte Abschnitt skizziert das Wechselverhältnis von Grundgesetz und Politik: das Grundgesetz beschränkt zwar die Politik; gleichzeitig aber beruft sich diese gerne darauf, weitet ihre Spielräume aus und nutzt es als aktive Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Üblicherweise stand das BVerfG in Opposition zu der jeweiligen Regierung und schränkte ihre Spielräume ein.

Diese Auseinandersetzungen werden dann im vierten Abschnitt, Politische Epochen im Spiegel des Grundgesetzes, genauer aufgeschlüsselt. Die institutionelle Konsolidierung und die Anfänge des BVerfG waren noch tastende Schritte, in denen die Richter das Abwägen von Grundrechten ebenso erfanden wie ihre Ausweitung. Diese wurden dann in der "permanenten Grundrechterevolution" immer weiter ausgedehnt, indem das BVerfG die Bedeutung der Grundrechte und die Ansprüche der Bürger*innen darauf ausweitete. Das deutsche Recht erlaubt mit der Verfassungsbeschwerde hier ohnehin viel Spielraum. Die Notstandsgesetzgebung, die in den 1960er Jahren solche Sprengkraft entwickelte, hat sich in der Realität glücklicherweise als bislang irrelevant erwiesen, während das BVerfG in den 1970er Jahren den Reformeifer der sozialliberalen Koalition empfindlich beschnitt.

In den 1980er Jahren erlebte die Kohl-Regierung ähnliche Dämpfer, am berühmtesten wohl im Falle des Volkszählungsurteils 1983, bei dem das BVerfG das Recht auf informelle Selbstbestimmung erfand. Die Entscheidung, die Neuwahl 1983 über die absichtlich verlorene Vertrauensfrage zuzulassen, zeigte dagegen wie auch 2005 eine weise Selbstbeschränkung des Gerichts, politische Probleme den Politiker*innen zu überlassen. Leider ist solche Selbstbeschränkung nicht allzu häufig. Dass es 1989/90 nicht zu einer neuen Verfassung nach Artikel 146 gekommen sei, findet er angesichts der Qualität des Grundgesetzes und der Änderungsmöglichkeit nur folgerichtig.

Die großen Föderalismusreformen 1994 und 2006 ordneten das Verhältnis zwischen Ländern und Bund neu, was auch dringend nötig war: die Bundesländer erfüllten ihre eigentliche Aufgabe bereits lange nicht mehr und waren de facto bundespolitische Player geworden. Die wechselnden Mehrheiten im Bundesrat und die spätere Zersplitterung des Parteiensystems machten diesen zudem zuerst zu einem Blockadeinstrument und haben ihn heute zu einem bedeutungslosen Gremium einer peramenten Allparteienregierung verkommen lassen. Möllers kritisiert zudem die Ausweitung der Staatsziele, die ständig - konsequenzfrei - ins Grundgesetz geschrieben wurden und skizziert noch kurz die Internationalisierung des Grundgesetzes durch die europäische Integration, der auch die Struktur des Bundestags folgte.

In Kapitel 4 untersucht Möllers "Das Grundgesetz als Kultur". Im ersten Abschnitt macht er sich an den Begriff des Verfassungspatriotismus, der als Ersatz für nationalstaatlichen Patriotismus seit den 1970er Jahren durch die Debatte geistert. Zwar schätzt er die rechtsphilosophische Untermauerung der entsprechenden Argumente, bezweifelt aber, dass dieser Verfassungspatriotismus Breitenwirkung entwickeln konnte und kann. Gleichwohl empfindet er die Idee, einen Patriostismus, der explizit vom Nationalstaat losgelöst ist (das Grundgesetz war ja ein Provisorium ohne Staatsvolk!) als wegweisend.

Im zweiten Abschnitt skizziert er kurz die Geschichte der Staatswissenschaft, die als Nebendisziplin der Jura im späten 19. Jahrhundert konsolidiert wurde. Sie beschreibt er als lange Zeit inhärent konservativ bis teilweise reaktionär, in latenter Opposition zum Parlamentarismus und in einem Bekenntnis zur Macht des Staates, was durch die Verschränkungen der Wissenschaftler*innen über Posten und Gutachten mit demselben nicht verbessert würde. Der dritte Abschnitt betrachtet kurz das Grundgesetz im Ausland, das dort in Möllers' Erzählung vor allem in lateinamerikanischen und asiatischen Ländern große Anerkennung genießt. Die deutsche Rechtstradition werde oft höher geschätzt als die angelsächsische, wenngleich sich diese dank der Sprache und amerikanisch-britischen Macht weiter verbreitet habe.

Im fünften Kapitel skizziert Möllers "Herausforderungen". Im ersten Abschnitt geht es um die Herrschaft des Volkes und die Herrschaft des Rechts, also den Erhalt des Rechtsstaatsprinzips und der demokratischen Legitimation aller staatlichen Entscheidungsgremien. Der zweite Abschnitt zu Öffentliche Sicherheit und Schutz der Verfassung zeigt kurz das problematische Verhältnis zwischen allzu frei agierenden Geheimdiensten (vor allem des Verfassungsschutzes) auf, verwirft den angeblichen Dualismus von Sicherheit und Freiheit - Freiheit sei nur in Sicherheit zu haben - und erklärt die problematische Funktion von Parteiverboten. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit Religion. Die Vorrangstellung der christlichen Amtskirchen führe auf der einen Seite zu deren "Verstaatlichung", erschwere andererseits aber die Gleichstellung solcher Religionsgemeinschaften, die nicht über halb-staatliche Organisation verfügen. Dieses Erbe des Parlamentatischen Rats wird sich kaum auflösen lassen.

Der vierte Abschnitt befasst sich mit der demokratischen Öffentlichkeit, die zu gewährleisten im Zeitalter des Internets und der privaten Medien nicht leichter wurde. Zwar bekräftigt Möllers wie das BVerfG grundsätzlich die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen, weist aber deutlich auf deren geschwundene Legitimation und wandelnden Kern hin (die immer stärkere Orientierung an Unterhaltung), die das immer schwieriger aufrechtzuerhalten mache. Ein weiteres heißes Eisen ist der fünfte Abschnitt, der sich mit der Wirtschaftsverfassung beschäftigt. Möllers weist emphatisch darauf hin, dass Regulierungen wirtschaftliche Freiheit oft überhaupt erst ermöglichen und daher zwingend notwendig seien. Er betont zudem, dass das Grundgesetz weder eine kapitalistische Wirtschaftsweise vorschreibe noch irgendeine andere bevorzuge; die Wirtschaftsverfassung sei vielmehr dezidiert im politischen Bereich zu verorten. Zuletzt befasst er sich im sechsten Abschnitt mit der Europäischen Union; nicht erst seit dem ultra-vires-Urteil des BVerfG ist das Spannungsverhältnis zwischen europäischen Rechtsnormen und denen des Grundgesetzes ein ähnlich virulentes Problem wie die Neigung von Regierungen, unpopuläre Beschlüsse über den Umweg transnationaler Organisationen laufen zu lassen.

In seinem Schluss, "Der fehlende Grund des Grundgesetzes", versucht sich Möllers dann noch an einem Fazit. Wenig überraschend sieht er im Grundgesetz ein grundsätzlich relevantes und starkes Dokument, das allerdings im politischen Betrieb noch überbetont wird. Die Neigung der deutschen Politik, politische Fragen zu verrechtlichen, habe viele Nachteile. Er bewundert allerdings seine Fähigkeit, sich anzupassen und glaubt deswegen an seine Zukunftsfähigkeit.

Ich empfand die Lektüre als juristischer Laie als sehr erhellend, auch wenn mir viele Argumentationen aus den Politikwissenschaften bereits bekannt waren. Der schmale Band ist als Einstieg in die faszinierende deutsche Verfassungsstruktur hervorragend geeignet und liest sich sehr flüssig, ohne dass der Autor deswegen an Klarheit verlieren würde. Das alles gilt natürlich nur, wenn man ein gewisses nerdiges Interesse an Verfassungstexten hat. Aber das ist ja für Lyrik auch nicht anders.

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