Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Das achte Kapitel, "Imperien und Nationalstaaten - Die Beharrungskraft der Reiche", beginnt mit der Feststellung, dass die internationale Politik nach anderen Regeln als die Innenpolitik funktioniert (und auch eine schlechtere Quellenlage hat) und als oberstes Ziel die Vermeidung von Kriegen hatte. Osterhammel macht fünf Grunddynamiken der Außenpolitik des 19. Jahrhunderts aus: Die Volksbewaffnung, die zu einer größeren Unwägbarkeit von Krieg führte; der Wechsel von dynastischer zu nationaler Außenpolitik; die neuen technologischen Möglichkeiten in der Kriegsführung; die zunehmende Bedeutung von Wirtschaftskraft als Machtfaktor (die Mächte wie die Niederlande oder Schweden endgültig bedeutungslos werden und die USA trotz ihrer militärischen Schwäche bedeutungsvoll werden ließ); und zuletzt die Entwicklung eines Weltstaatensystems, das eben die USA, aber auch Japan und China, einschloss.
Daran schließt sich die Erzählung von Aufstieg und Fall des europäischen Staatensystems an. Osterhammel bietet zwei Versionen.
Zum einen die vom Aufstieg der Nationalstaaten. Sie beginnt irgendwann zwischen den Frieden von Osnabrück und Utrecht (je nach Präferenz), weist als Meilenstein die Napoleonischen Kriege mit ihrem Griff nach der europäischen Hegemonie (und deren Scheitern) auf, skizziert die Entstehung der Ordnung des Wiener Kongresses und ihres Falls, dessen Beginn Osterhammel auf die mangelnde Integration des Osmanischen Reichs in diese Ordnung zurückführt, das zum Austragungsort neuer Großmachtrivalitäten wurde (Krimkrieg). Völlig zerstört wurde die Wiener Ordnung dann durch die deutsche und italienische Einigung, ehe der Erste Weltkrieg den Zerfall der europäischen Dominanz mit sich brachte. In dieser Erzählung stehen die außereuropäischen Großreiche, etwa die USA, sehr am Rand.
Die andere ist die Geschichte von der Metamorphose der Imperien. Der Verlust der amerikanischen Kolonien und Haitis stürzte Großbritannien und Frankreich in eine Art imperiale Krise, aus der vor allem Großbritannien durch eine (nicht selbstverständliche) Umorientierung nach Indien gestärkt hervorging. Über große Teile des 19. Jahrhunderts aber war der Imperialismus und Kolonialismus eher punktuell, beschränkt auf Kanonenbootpolitik. Das änderte sich ab ca. 1870 massiv; der scramble for Africa wie auch die Aufteilung Asiens legen beredtes Zeugnis ab. Osterhammel empfindet sowohl die Bedeutung dieses Imperialismus in vielen Darstellungen der Geschichte der Zeit deutlich unterschätzt als auch sein Potenzial für europäischen Konflikt überschätzt.
Solcherart die strukturelle Grundlage gelegt begibt er sich zuerst auf eine Untersuchung der Nationalstaaten. Diese erklärt Osterhammel anders als die Reiche, die es seit dem 3. Jahrtausend vor Christus gibt, zu einer europäischen Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie definieren sich sehr verkürzt gesprochen aus einer Art Wir-Gefühl, das oft gegen die Nachbarn abgrenzend in Stellung gebracht wird. Für Osterhammel ist der Nationalstaat im 19. Jahrhundert eine Art Paradox: es entstehen recht wenig genuine Nationalstaaten, da viele Staatswesen noch immer Reiche sind; aber innerhalb dieser Reiche bildet sich der Nationalismus als treibende politische Kraft heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg wandeln sich die Reiche dann endgültig zu Nationalstaaten. Andere dagegen entstehen in dieser Epoche tatsächlich neu.
Diese Entstehungen versucht Osterhammel zu kategorisieren. So sieht er etwa in Brasilien, Griechenland oder Belgien revolutionäre Nationalstaatsgründungen aus bestehenden Reichen heraus. Niederlande, Schweiz, Italien und Deutschland etwa sieht er eine hegemoniale Vereinigung durchführen, indem aus vorher bestehenden Einzelstaaten mal mehr, mal weniger gewaltsam, mal mehr, mal weniger erfolgreich integriert, ein neues Ganzes wird. Unter dem Schlagwort der evolutionären Autonomisierung fasst Osterhammel solche Nationalstaatsbildungen wie Australien, Kanada oder Serbien; sie entwickelten sich Stück für Stück durch das Erkämpfen oder gewährt Bekommen von Freiräumen im ehemaligen Reich ihre Autonomie. Sonderfälle sieht Osterhammel in den USA und Japan; vor allem letztere fallen durch ihre hohe Integration bereits VOR der Nationalstaatsbildung und die Sonderform der Meiji-Revolution auf. Zuletzt spricht er über verlassene Zentren, vor allem Spanien und Portugal, die im 19. Jahrhundert ihre Kolonialreiche weitgehend verlieren und sich deswegen kontraktiv als Nationalstaaten konstitutieren müssen.
Nach dieser Aufstellung der Nationalstaaten geht es zu den Imperien. Osterhammel betont, dass die "Aufteilung" Afrikas in Wirklichkeit eine Konzentration zahlreicher politischer Gebilde in sehr wenige Einzelgebiete war, ein Erbe, mit dem Afrika ja heute noch zu kämpfen hat. Asien erlebte eine ähnliche, wenngleich weniger drastische Entwicklung. Nationalstaaten sieht Osterhammel in Afrika und Asien überhaupt nicht entstehen; die Sonderfälle Äthiopien und Korea erfüllten allenfalls teilweise die entsprechenden Kriterien. Er kommt deswegen zu dem Schluss, dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Nationalstaaten gewesen sei, während das 19. Jahrhundert eines der Imperien war. Für den größten Teil der Erdbevölkerung war die tägliche Erfahrung das Leben in einem Reich, nicht in einem Nationalstaat.
Osterhammel unterscheidet Nationalstaaten und Imperien anhand mehrerer Kritierien: klare Grenzen, homogenes Staatsvolk, Legitimation der Politik als für das Volk, Rechtsgleichheit aller Untertan*innen, Teilen kultureller Gemeinsamkeiten in der Gesamtbevölkerung, Proklamation einer imperialen Zivilisationsaufgabe des Zentrums für die Peripherie, Gründungsmythologie biologischer Abstammung vs. Eroberung oder translatio, enges gegen offenes Verhältnis zum eigenen Territorium. Die Integration innerhalb des Imperiums wird vor allem innerhalb der Elite, die tatsächlich kulturelle homogen war, durch den Bezug auf gemeinsame Symbole gefördert. Ansonsten ruht die Integration auf Verwaltung und Militär. Osterhammel spricht von horizontaler und vertikaler Integration; diese Unterscheidung sei erforderlich, weil Imperien radial angeordnet sind: ein Zentrum, aber mehrere Peripherien, die gerne gegeneinander in Stellung gebracht werden. Zurecht weist Osterhammel aber auf den Zwangscharakter jedes Imperiums hin: ein Verband, in dem die Mitglieder freiwillig sind (er nennt als Beispiel die NATO), sei kein Imperium.
Solcherart das Imperium definiert, versucht sich Osterhammel an einer Typisierung. Der in der älteren "Geopolitik" beliebte Trennbegriff von Land- und Seereichen wird von ihm nicht grundsätzlich verworfen, aber in der Schwäche der Trennschärfe benannt (das Imperium Romanum etwa war beides zugleich). Es sei aber offenkundig, dass Landreiche eine Bedrohung ihres Territoriums tendenziell ernster nähmen als Seereiche.
Das Wechselverhältnis von Kolonialismus und Imperialismus sieht Osterhammel als schwierig. So sei der Begriff für die Peripherien des Zarenreichs zwar viel in der Diskussion, aber schwierig, während er für Österreich-Ungarn überhaupt nicht zutreffe (das aber gleichzeitig das älteste Reich des 19. Jahrhunderts überhaupt war). Osterhammel verwirft einen direkten Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Imperialismus; es hätte wirtschaftlich unterentwickelte große Reiche gegeben wie auch wirtschaftlich hochentwickelte Staaten ohne imperiale Tendenzen.
In einer Reihe von Fallstudien untersucht der Autor nun zuerst die Habsburger Monarchie, die im 19. Jahrhundert als territorial saturiert auftrat und sich die spätere Expansion auf den Balkan besser erspart hätte. Die größere Integration der Magyaren schuf zwei Herrschaftsvölker, entfremdete aber vor allem die Slawen. Das weitgehend gewaltlose Zerfallen des Reichs 1918 sieht Osterhammel als Beleg dafür, dass die Einzelbestandteile ähnlich Kanadas oder Australiens im Empire bereits große Autonomie erreichen konnten.
Dem französischen Reich spricht er vier Phasen zu. Einmal des Ancièn Régime, mit merkantilistisch ausgerichtetem "Streubesitz" (der paradoxerweise bis heute französisch und voll in die EU integriert ist); dem hegemonialen Kontintalreich Napoleons; die Phase der nordafrikanischen Expansion bis 1870 und schließlich den Hochimperialismus, der Südostasien als neues Zentrum hinzufügte. Anders als die Briten hatten die Franzosen nie einen großen Siedlungskolonialismus und richteten ihre Kolonien extrem zentralistisch aus, was deren potenzielle Eigenständigkeit stark einschränkte.
Das 19. Jahrhundert sah aber auch einige Kolonien ohne Imperialismus: die Niederlande besaßen etwa mit Indonesien eine große und wirtschaftlich relevante Kolonie, ohne Reichsambitionen zu besitzen. Auch Privatkolonien sind eine Kategorie, etwa wenn es um den Sultan von Brunei, Cecil Rhodes oder Leopold II. im Kongo geht. Eine oft übersehene Kategorie seien die "Reichsgründungen zweiter Ordnung"; vor allem in der Subsahara formierten sich in jener Zeit einige (kurzlebige) Reichsgründungen von beeindruckender Größe, die dann spätestens im scramble for Africa zerstört wurden. Eine Abart dieser zweiten Ordnung war auch der US-Imperialismus, der die USA in einen der größten Flächenstaaten der Welt verwandelte und mit den Philippinen, Hawai und Puerto Rico auch überseeische Besitzungen einschloss, ohne das anti-imperiale Selbstverständnis der USA wesentlich zu beeindrucken. Auffällig ist hier, dass die USA eine nach Rasse kategorisierte Rechtsordnung in ihre Kolonien transportierten, die weltweit ihresgleichen suchte. Osterhammel betrachtet "Rasse" als fundamentale Kategorie amerikanischen Rechts, die die Gesellschaften, in die es exportiert wurde (etwa Lousiana) tiefgreifend umgestaltete.
Der Elefant im Raum ist natürlich das britische Empire. Die britische Reichsidee war im eigenen Selbstverständnis frei vom "Virus des Nationalismus" und diente einer zivilisatorischen Mission. Die Pax Britannica besaß aus mehreren Gründen eine weltweite Durchsetzungskraft: die ungewöhnlich starke Siedlerbewegung sorgte für große, integrierte expats-Gesellschaften; die Royal Navy war weltweit ohne Konkurrenz und garantierte den Freihandel auf allen Meeren für alle Nationen; und die britische Volkswirtschaft war die leistungsfähigste weltweit und stand mit ihrem unilateralen (!) Prinzip des Freihandels allen offen, selbst als ab 1870 die Schutzzölle nach einigen Jahrzehnten europäischen Freihandels zurückkehrten (Osterhammel sieht im Freihandel einen Identitätskern Großbritanniens, der auch moralisch begriffen wurde). Der Autor weist auch darauf hin, wie ungemein mächtig der britische Finanzsektor war, der auch in Instrument des Imperialismus war (anders als in Frankreich, wo der Finanzsektor mit dem Kolonialreich wenig Berührungspunkte besaß und eher in Europa aktiv war).
Osterhammel steigt auch in die Debatte um Kosten und Nutzen des Empire ein. Er verwirft reine Kosten-Nutzen-Rechnungen, weil das Empire zahlreichen Privatunternehmen unzweifelhaft geholfen habe; eine Kostenbilanz lasse sich daher nur ziehen, wenn man die Archive dieser Unternehmen einbeziehe. Während auch das britische Empire unter dem generellen Unterinvestment aller Imperien des 19. Jahrhundert in die Infrastruktur und Bildung der indigenen Bevölkerung litt, weswegen es kaum als segenreich für diese angesehen werden kann, lässt Osterhammel doch keinen Zweifel daran, dass es das harmloseste der europäischen Imperien war, was Gewaltausübung anging (vor der es selbstverständlich nicht zurückschreckte). Bereits ab den 1860er Jahren gab es in Großbritannien Debatten über Rassismus und durch Rassismus motivierte Gewalt, die ein ständiger Begleitton des Empire waren, in einer Zeit, in der man solcherart bei anderen europäischen Reichen vergeblich suchte. Ich möchte an dieser Stelle auf meine Kritik an Elkins "Legacy of Violence" verweisen, das zwar die vorhandene Gewalt im Empire analysierte, genau eine solche Einordnung aber vermissen ließ.
Weiter geht es in Teil 5.
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