Montag, 19. Dezember 2011

"A more perfect union" - Vorbild USA?

Von Stefan Sasse

In der LA Times vergleicht Bruce Ackerman die Philadelphia Convention von 1787 (siehe hier im Geschichtsblog) mit der derzeitigen EU-Krise und Großbritannien mit dem damals ähnlich renitenten Rhode Island. Wenn wir seine Prämisse akzeptieren - dass das, was wir gerade erleben, sehr wohl die Geburt der Vereinigten Staaten von Europa sein könnte und dass die Weigerung der Briten effektiv ihre Exklusion zur Folge haben könnte - dann könnten wir das Beispiel gleich auf die Spitze treiben. Einmal angenommen, es würde tatsächlich eine Föderation europäischer Staaten gegründet, an deren Spitze dann eine echte, gewählte, europäische Regierung steht - warum modellieren wir diese nicht nach dem erfolgreichen Abbild der Politikstruktur der USA? Die einzelnen Mitgliedsstaaten behalten relativ umfrangreiche Rechte zurück (wesentlich mehr als etwa die Bundesländer), besitzen weiterhin ihre lokalen politischen Strukturen und Prozesse, die auch nach völlig unterschiedlichen Regeln funktionieren, während es eine Art darübergestülpte Europa-Ebene gibt, eine ganz neue Bundesregierung. Deren exekutive, legislative und judikative Form könnte dabei der der USA entsprechen. Wie würde das dann aussehen? 

Die judikative Gewalt entspräche dem Surpreme Court oder dem deutschen Bundesverfassungsgericht. Diese Entwicklung ist bereits am weitesten fortgeschritten, denn der Europäische Gerichtshof hat sich in den letzten Jahren bereits eine Reihe von Kompetenzen angeeignet, die seine Intention deutlich werden lassen, die letzte Instanz der EU zu werden. Vorausgesetzt, dass die nationalstaatlichen obersten Gerichtshöfe (besonders das BVerfG) das zulassen, könnte er diese Funktion ohne größere Änderungen übernehmen und wäre damit quasi die erste gesamteuropäische Gewalt in diesem neuen System, die sozusagen bezugsfertig wäre. Das wäre eine Umkehr der Reihenfolge, wie sie bei Gründung der USA vorherrschte (hier wurde der Surpreme Court erst im frühen 19. Jahrhundert bedeutend), aber sie würde auf eine gewisse Art zur Mentalität besonders der Deutschen passen. Die vorherige Festlegung des juristischen Rahmens könnte durchaus helfen, Bedenken zu zerstreuen. 

Die Legislative könnte nach dem Modell des Kongresses als Zweikammernsystem durchgeführt werden. Dies hätte tatsächlich schwerwiegende Vorteile: einerseits ist ein solches System sehr gut geeignet, um Alleingänge eines Mitglieds zu verhindern und Sand ins Getriebe zu streuen, was besonders euroskeptischen Ländern sehr entgegen kommen dürfte. Andererseits ist durch die verschiedenen Repräsentationsmechanismen klar die Möglichkeit gegeben, sowohl die Bevölkerungszahl als auch die Mitglieder selbst zu repräsentieren. Das Repräsentantenhaus würde demzufolge wie das jetztige Europäische Parlament nach Bevölkerungszahl besetzt, während alle Mitglieder eine fixe Nummer von Senatoren in den Senat entsenden. Auf diese Art wird beiden nationalen Interessen gedient. Für die Konstituierung der Legislative wäre es allerdings absolut wichtig, dass das Wahlgesetz in allen Ländern gleich ist und nicht wie jetzt in jedem Land divergiert. Andernfalls kann eine europäische Bundesregierung niemals die Legitimation erlangen, die sie benötigt. Ein solcher politischer Aufbau würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem raschen Aufbau von europäischen Parteien führen, da anders in einem solchen Gremium kaum mehr gearbeitet werden kann, besonders da die Zahl der Abgeordneten kaum das jetztige Niveau behalten kann, das für ein Arbeitsparlament absurd hoch ist. 

Die Exekutive bestünde dann aus einem alle X Jahre zu wählenden Präsidenten, der über eine allgemeine Volkswahl in allen Mitgliedsstaaten bestimmt wird. Nach Lage der Dinge wäre das derzeit keinesfalls ein Deutscher; wahrscheinlich würde sich ein Politiker irgendeines kleinen Mitgliedslands wie Belgien, Luxemburg oder etwas Ähnlichem als Kompromisskandidat herausstellen, sofern nicht eine große Zahl von Kandidaten zu ersten Wahl antritt, was durchaus möglich ist. Spätestens nach ein oder zwei Wahlen und der Konstituierung europäischer Parteien in der Legislative dürfte aber auch die Wahl des Präsidenten in dieses Schema fallen. Seine Funktion wäre dann vorrangig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die interne Koordination. 

Wenn eine solcherart konstruierte Europäische Föderation Bestand hätte, würden vermutlich die einzelnen Mitgliedsstaaten mehr und mehr an Bedeutung verlieren und sich Kompetenzen Stück für Stück auf die neue Bundesebene verlagern. Der Präsident würde an Gewicht gewinnen, ebenso die Legislative, während die nationalen Parlamente an einigen spezifisch verfassten, für das Funktionieren der Föderation aber irrelevanten überkommenen Rechten festhalten und die Verwaltung der kleinen Bereiche selbst übernehmen würden. Als absolut notwendig für ein solches Funktionieren wäre allerdings die demokratische Legitimation durch ein allgemeines, gleiches, geheimes und regelmäßig ausgeübtes Wahlrecht sowie die Bildung von europäischen Parteien. Letzteres allerdings würde vermutlich automatisch vor sich gehen. 

Und wer jetzt kommentieren will, bedenke vorher: das ist eine Spinnerei, keine Prognose. Ich sage weder, dass es so kommen wird, noch dass es so kommen sollte. Es ist allerdings tatsächlich eine Möglichkeit, deren prinzipielle Funktionsfähigkeit wir am historischen Beispiel überprüfen können. So, legt los. :)

12 Kommentare:

  1. Schöner Artikel und gar nicht mal so ganz abwegig. Aber als ausgesprochener Europäer/Linker/Technokrat sind mir zuletzt doch einige Zweifel gekommen. Nicht über den Sinn Europas, oder das Ziel einer stärkeren europäischen Vereinigung und Integration. Aber über die Sinnhaftigkeit immer größerer politischer (aber natürlich auch wirtschaftlicher) Einheiten.

    Am Beispiel Amerika kannst Du das schön beobachten: Der New Yorker Progressive hat weder kulturell noch politisch noch ideologisch irgendwas mit dem Texaner Bauern gemein und das zeigt sich auch in der washingtoner Politik: Es ist ein politischer Kampf ohne Gnade, ohne kulturelle, emphatische, republikanische Selbstzurückhaltung und Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl. Es ist ein Moloch, weit weg von den Bürgern, von Lobbyorganisationen beherrscht.

    Wäre das nicht in Europa ähnlich? Und: Wie soll eine europäische Öffentlichkeit entstehen, die auch die weniger Gebildeten erreicht? Ich weiß nicht. Ein vereintes Europa: wünschenswert ja, machbar vielleicht nicht.

    BTW mal noch was anderes: Hast Du Dich mit dem Spiegelfechter überworfen oder warum erscheinen Deine Artikel dort nicht mehr? Ich könnte es ja verstehen, es sind doch einige inhaltliche Differenzen sichtbar geworden zwischen Dir und der NDS/JB-Linie.

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  2. Naja, die Gemeinsamkeiten ostdeutscher Arbeitsloser und Berliner Boheme halten sich auch in Grenzen, und die leben nur Kilometer entfernt. Ich denke, die aktelle Spaltung der USA hat andere Ursachen. Von daher sehe ich das etwas optimistischer.
    Was den SF angeht: nein, keine Spaltung. Ich stelle aber nicht alle meine Artikel beim SF ein, und der SF hat ein bestimmtes Profil, dem die Artikel entsprechen sollten. Deswegen erscheint nicht alles von mir beim SF, und gerade so Sachen wie "Konsequent zu Ende gedacht" oder ein Infoartikel zu den Vorwahlen ist eher nicht sein Ding ;) Da kommt bald mal wieder was, keine Bange. :)

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  3. Einen sehr verlockenden Gedanken, den du hier entwickelst, Stefan!

    Ich möchte auf folgende Punkte verweisen:

    1. Zentralisierung - In den USA war der Konflikt zwischen Föderalisten und denjenigen Repräsentaten, die die Rechte der Einzelstaaten betonten, bereits auf der verfassungsgebenden Versammlung ein heißes Thema (Stichwort Jeffersonians vs Hamiltonians)

    Trotzdem vollzog sich die Zentralisierung über einen lange Zeitraum, mehrere Generationen, und auch nicht beständig, sondern schubweise, etwa im Civil War. Wie wahrscheinlich ist eine nachhaltige Zentralisierung für unsere hypothetischen "US of E" und mit welcher Geschwindigkeit könnte sie sich vollziehen?

    2. Sollte das Mehrheits- oder das Verhältniswahlrecht praktiziert werden?

    3. Bauen wir unsere eigene europäische Hauptstadt? Wie soll sie heißen?

    Ich will es zunächst hierbei belassen.

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  4. 1. Ich denke, das ist ein Prozess, der auch bei uns Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. Da muss vermutlich eine neue Generation heranwachsen und politische Kontrolle übernehmen, die mit einem vereinigten Europa aufgewachsen ist.

    2. Bin mir nicht sicher. Ich denke fast, Mehrheitswahlrecht macht mehr Sinn.

    3. Hab ich noch gar nicht dran gedacht, ist aber eigentlich eine gute Idee. Und heißen...ka ^^ Irgendne Idee?

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  5. Zu 1. Ich glaube die Zentralisierung wird rasch voranschreiten und wahrscheinlich zu größeren Teilen bereits bei der Konstruktion der Verfassung mitangelegt sein. Entspräche den Zwängen moderner Ökonomie, so kann man nämlich die historische Z. der USA ganz gut erklären.

    Ich fände diesen Umstand allerdings zumindest fragwürdig, da zentralisierter Macht immer ein antidemokratisches Moment innewohnt.

    Zu 2. Ich wäre auch für Mehrheitswahl, weil mit ihr die regionale und nicht die nationale Verankerung der Repräsentanten gefördert wird. Parteien als Organisationsplattform blieben wohl weiterhin wichtig und wünschenswert.

    Zu 3. Wir müssen sie nach unserem ersten Präsidenten nennen...

    Weitere Punkte, die zu erwägen sind:

    4. Militär: Ja oder Nein zur Unionsarmee? Und / oder "Nationalgarden"

    5. Finanzen: Bundessteuern und/ oder Gelder aus den Haushalten der Bundesstaaten

    6.Inneres 1: Europolizei?

    7. Inneres 2: Europäische Gesetzbücher oder lieber Kasuistik

    Ließe sich fortsetzen...

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  6. Ein Verhältniswahlrecht hat den großen Vorteil, dass dabei weniger Stimmen verloren gehen, und kleinere Parteien überleben. Es ist kein Zufall, dass sich in den USA ein Zweiparteiensystem herausgebildet wird.

    Und was die Hauptstadt angeht: Brüssel ist doch ideal. Die Belgier wollen sich sowieso aufspalten, und der einzige Grund, weshalb es noch nicht passiert ist, ist, dass keine der beiden Gruppen auf Brüssel verzichten will. Machen wir also Brüssel zu einer unabhängigen Bundesstaat, und der Rest Belgiens wird dann in zwei Teile geteilt. (Ganz im Ernst: ich denke nicht, dass man extra eine neue Stadt aus dem Boden - bzw. analog zu den USA aus dem Sumpf - stampfen muss. Und die Hauptstadt muss auch nicht auf "neutralem" Territorium stehen.)

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  7. Spannend. Ich hab neulich auch nochmal über die amerikanische Staatenbildung gelesen und mir gedacht, dass vieles davon eigentlich perfekt auf Europa passen würde.

    Ich hab allerdings ein anderes Problem gesehen, vielen Staatenbildungen ging ja so etwas wie ein "nationaler Moment" voraus. Der Unabhängigkeitskrieg, in Deutschland die Revolution von 48 und dann der Krieg gegen Frankreich usw.
    Das ist sicher nicht alles, das Zusammenwachsen hat dann Jahrhunderte in Anspruch genommen, aber doch sehe ich darin den Anstoß, der hm den Weg frei gemacht hat, sozusagen.
    Kurz gesagt, ich fürchte es fehlt ein äußerer Feind, der Europa zusammenschweißen könnte. Und ich weiß auch nicht, wie und ob heutzutage so ein nationaler Moment entstehen könnte.
    Eigentlich wären die Bedingungen mit Eurokrise, Occupybewegungen usw ja ideal, aber das scheinen keine Sachen zu sein, die Europa mehr zusammenschweißen.
    Oder fällt dir/euch was ein, wo so etwas ohne Krieg, äußere Feinde etc vor sich ging?

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  8. Brüssel als District of Columbia finde ich gut! So verliert der innerbelgische Konflikt an Brisanz. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

    So eine Staatengründung kann meiner Meinung nach aus rationalem Geist, somit ohne äußeren Anlass vonstatten gehen.

    Mehrheitswahl wie in Frankreich, d.h. Nachwahl bei Verfehlen der abs. Mehrheit, scheint mir sinnvoll. Es überwiegt dann doch gegenüber dem solideren Verhältniswahlrecht der Vorteil der regionalen Verankerung.

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  9. Ein Problem sehe ich da: Die Amis hatten Washington und Jefferson, wir haben Merkel und Sarkozy...

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  10. Vorbildlich:
    http://www.jungewelt.de/2011/12-20/020.php

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  11. Zitat "warum modellieren wir diese nicht nach dem erfolgreichen Abbild der Politikstruktur der USA?"

    Ja genau, so ein 2-Parteiensystem ist klasse. Die Skrukturen da sind sowas von festgefahren. Der Zustand der Demokratie ist da noch fertiger als in D.
    NDS von heute:
    http://www.orf.at/stories/2081693/2084014/

    Da gibt es noch wesentlich mehr Beispiele, aber ich spare mir das Suchen, da du beim Thema USA total vernagelt bist.

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  12. @Jonas:
    4. Bundesarmee, ganz klar, Nationalgarden...denke ich braucht's eher nicht, aber schadet auch nichts.
    5. Bundessteuern
    6. Ja
    7. Europäische Gesetzbücher

    @Nicolai: Stimmt wohl.

    @Ariane: Ich denke es wäre auch ohne Krieg möglich. Zwar gibt es einen solchen häufig, aber die eigentliche Staatsbildung der USA 1789 war ja auch unkriegerisch.

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