Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
The question posed by Vladimir Putin’s invasion of Ukraine is whether in this fundamental sense the spell of the End of History has finally been broken. Has history restarted in a tragic key, as President Macron has recently put it? Have we reached the end of the end of military history? [...] Putin invokes them himself. And that should make us suspicious. We would perhaps be better advised to turn back to Fukuyama. In the final chapter of The End of History (1992) – titled “Immense Wars of the Spirit” – he ponders the question of “how long megalothymia will be satisfied with metaphorical wars and symbolic victories”. In the early 1990s Fukuyama was already warning that the moment would come for a figure like Putin, who would break out of the stifling conventions of post-history to launch “a nihilistic war against liberal democracy”, a bloody battle for prestige, “only this time with modern weapons”. On this reading Putin would not be so much the lineal descendant of Ivan the Terrible, as a postmodern, time-warped avatar. Indeed, amid the Vegas glitz of the Kremlin’s public rooms, his regime seems something closer to a cosplay re-enactment. The defining characteristic of the Russian invasion, other than its brutality, is the sense of history repeating itself as farce. There is little to suggest that Putin imagined he was embarking on an existential trial of strength. In fact, the opposite seems to be the case. His approach to invading one of the largest countries in Europe, with a population of more than 40 million, was nothing short of frivolous. He thought of war as a bagatelle – asymmetric, swift, decisive, like Georgia in 2008 or Crimea in 2014. It would be little green men writ large. [...] But we should beware our Eurocentric prejudices. It is not Ukraine’s call to arms that marks this war as distinct. The Iraqi insurgents and the Taliban too saw themselves precisely in these terms. In their own cultural sphere, they made appeals no less far-reaching than Zelensky’s. Nor is this the first war to be broadcast through social media. For the past decade anyone who wanted to could follow the gruesome fighting in Syria, siege by siege, day by day. What marks this war as different is that the Ukrainian resistance has stopped Putin’s invasion in its tracks. The Iraqi and Afghan resistance were never able to do that. (Adam Tooze, New Statesman)
Dass die wenigsten Leute, die sich über Fukuyama lustig machen, je etwas von ihm gelesen haben, ist leider wahr. Ich wusste auch lange nicht, was er mit "end of history" eigentlich gemeint hat, und obwohl seine These nicht überragend haltbar ist, ist sie bei weitem nicht so albern, wie sie oft dargestellt wird. - Generell finde ich die Interpretation hier im verlinkten Artikel zwar interessant, ich bin aber generell skeptisch, ob wir bereits so umfassende Analysen aus dem Ukrainekrieg anstellen sollten. Toozes Bereitschaft, auch als Historiker zeitgenössische Geschehnisse zu analysieren in allen Ehren, aber ob wir in zehn Jahren die Geschehnisse als "Zeitenwende" sehen werden, als scharfen Bruch der internationalen Ordnung, oder ob es nicht eher eine Aberration oder gar, man wagt kaum zu hoffen, ein letztes Aufbäumen vergangener Politikformen war, ist einfach noch nicht wirklich klar. Vor allem was Details des Umbruchs angeht, ist alles noch viel zu sehr im Fluss. Ich bin aber zuegegeben anders als Tooze viel zu wenig bewandert in den entsprechenden Spezialgebieten, was meine Zurückhaltung mit erklären mag.
In jedem Fall Recht hat er aber damit, dass der Widerstand der Ukraine die ganze Debatte überhaupt erst ermöglicht hat. Es kann kaum ernsthaft bestritten werden, dass wenn Putins "spezielle Militäroperation" nach Plan gelaufen wäre, Selensky entweder im Exil, einem russischen Gefängnis oder im Grab wäre und einige weitgehend symbolische Sanktionen gegen Russland beschlossen worden wären und wenig sonst. Diese Mechanismen habe ich in meinen Artikeln zur Logik der Abschreckung und ihrer Anwendung auf die Ukraine beleuchtet. Die Ukraine 2022 ist ein Musterbeispiel dafür, warum Krieg zwar die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, diese Mittel aber zero-sum und unglaublich riskant sind, selbst wenn man die scheinbar überlegene Position hatte.
2) „Deutschland war nie eine pazifistische Macht“ (Interview mit Jakub Eberle)
WELT: Wenn Deutschland sich schon immer auf Krieg vorbereitet, warum ist die Bundeswehr dann derzeit so gut wie nicht einsetzbar?
Eberle: Das ist erst eine Entwicklung der vergangenen Jahre. Die Regierung von Kanzlerin Angela Merkel setzte auf die Schuldenbremse und einen ausgeglichenen Haushalt. Neben den Auslandseinsätzen sah man keinen Bedarf für eine teure Armee, Investitionen ins Heer waren wenig populär. So trocknete die Bundeswehr aus. Ebenso gab es in Merkels Biedermeier-Zeit auch wenig Investitionen in öffentliche Infrastruktur oder in Digitalisierung. Statt eines „instinktiven Pazifismus“ beobachte ich einen instinktiven Konservativismus. Man wollte lieber nichts Neues ausprobieren, bloß nicht an der vermeintlichen Stabilität rütteln, auch nicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Das ist insofern verständlich, als Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern gut dastand. Merkels Stil war, die Probleme auszusitzen und erst zu reagieren, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.
WELT: So wie jetzt ihr Nachfolger Olaf Scholz: Erst als mit Putins Angriff der Krieg vor der Haustür der Nato stand, versprach er schlagartig 100 Milliarden für die Bundeswehr.
Eberle: Ja, der Stil von Olaf Scholz erinnert bisher sehr an den von Angela Merkel. Wie plötzlich seine als „Zeitenwende“ wahrgenommene Rede zur Aufrüstung kam, erinnert mich daran, wie Merkel damals nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima praktisch über Nacht den Atomausstieg verkündet hat, ohne ein Konzept dafür zu haben. Jetzt wird es spannend sein zu sehen, wie Olaf Scholz der historischen Krise des Ukraine-Krieges begegnet. Klar ist schon jetzt, dass die Verkündung der massiven Investitionssumme die Probleme der Bundeswehr nicht innerhalb kurzer Zeit lösen kann. Es geht eben nicht nur um Geld. Deutschland muss eine Strategie und klare Ziele seiner Außenpolitik entwickeln, anstatt spät und nur auf Krisen zu reagieren. Das wird dauern. Aber anders funktioniert es nicht in einer Welt, in der es Herrscher wir Wladimir Putin gibt. ( , WELT)
Ich bin langsam echt verwirrt, was diese Debatte um den Zustand der Bundeswehr angeht. Warum besteht nicht einmal annäherungsweise ein Konsens darüber, wie schlecht der Zustand der Armee nun eigentlich ist und worauf das zurückzuführen ist? Wurde sie nun kaputt gespart? War es die Dekadenz der Kriegsdividende? Ist es die Bürokratie? Wird alles einfach nur übertrieben? Ich hab alles schon gehört, von lauter verschiedenen Leuten, und die Erklärungen sind maximal teilweise komplementär und schließen sich überwiegend aus. Was also ist es? Ich hab keine Ahnung, aber das scheint mir schon relevant für die Debatte zu sein.
Völlige Zustimmung habe ich zu der Ähnlichkeit von Scholz' Handeln mit Merkel. So positiv sich die Ampel von der Vorgängerregierung abhebt, an der SPD liegt das sicher nicht. Es ist möglich, dass Scholz im Hintergrund der totale Mastermind mit dem geheimen Masterplan ist, aber solche Behauptungen hat man über Merkel auch gerne gelesen, und am Ende stand sie immer blank da. Den Vertrauensvorschuss kann ich Scholz schlicht nicht geben; er bleibt für mich die größte Enttäuschung der Ampel (relativ gesehen, weil ich bei einigen anderen Leuten, Stichwort Lambrecht, nie zu enttäuschende Erwartungen hatte).
3) How Germany Became Putin’s Enabler
Yet Germany took the lead in demanding that debtor nations impose extreme austerity measures, especially spending cuts, no matter how large the economic costs. And those costs were immense: Between 2009 and 2013 the Greek economy shrank by 21 percent while the unemployment rate rose to 27 percent. But while Germany was willing to impose economic and social catastrophe on countries it claimed had been irresponsible in their borrowing, it has been unwilling to impose far smaller costs on itself despite the undeniable irresponsibility of its past energy policies. I’m not sure how to quantify this, but my sense is that Germany received far more and clearer warning about its feckless reliance on Russian gas than Greece ever did about its pre-crisis borrowing. Yet it seems as if Germany’s famous eagerness to treat economic policy as a morality play applies only to other countries. (Paul Krugman, New York Times)
So sehr ich es begrüße, dass an die zerstörerische Politik der Schwarz-Rot-Gelben Koalition 2010ff. erinnert wird, so dumm ist das Argument hier. Weil Deutschland Griechenland ruiniert hat, muss es sich nun im Gegenzug selbst ruinieren? Es kann ja sein, dass die Boykott-Politik sinnvoll wäre (ich habe keine Ahnung, für die Debatte gilt für mich das gleiche wie für den in Fundstück 2 beschrieben Zustand der Bundeswehr), aber dieses Argument zieht halt echt überhaupt nicht. Wer A sagt, muss nicht B sagen; er oder sie sollte stattdessen bitte erkennen, dass A falsch war.
Relevant ist das alles aber, wo es um die Reputation Deutschlands geht. Krugmans Verweis hier zeigt, dass sich die deutsche Selbstgefälligkeit hier in einer Blase bewegt. Das Ausland hat die entscheidende Rolle des Euro-Halbhegemons nicht vergessen. Zusammen mit der in der Öffentlichkeitswirkung verheerenden Zauderei und Blockiererei Scholz' zerstört das gerade massiv das politische und moralische Kapital, das wir uns mit Vergangenheitsbewältigung und soft power jemals aufgebaut haben. Auch Aktionen wie der Baerbock-Rückruf für die Abstimmung über die nutzlose Impfpflichtgesetzgebung helfen da echt nicht.
Zwar können in – Achtung, Juristendeutsch! – Gebietskörperschaften strengere Maßnahmen eingeführt werden, aber nach welchen Kriterien und ob auch Flächenländer gemeint sind, ist unklar. [...] Dass die vorgeblichen Freiheitskämpfer um FDP-Justizminister Marco Buschmann und Wolfgang Kubicki überhaupt die Oberhand gewinnen konnten, liegt auch an den unzähligen Widersprüchen der Coronapolitik der vergangenen zwei Jahre, die dazu führten, dass viele die Coronamaßnahmen satthaben. Zur Erinnerung: Am Anfang der Pandemie durfte man allein nicht im Park stehen oder sitzen, vor einem Jahr wurde eine sinnlose Ausgangsbeschränkung beschlossen, später durfte man nur mit 3G einkaufen, in Baumärkten ging es auch ohne. Ständig variierte auch das Ziel der Maßnahmen. Am Anfang ging es darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, zwischendurch darum, die Zahl der Todesopfer zu minimieren, dann war das Ziel, die „kritische Infrastruktur“ inklusive der Feuerwehr zu schützen, jetzt steht das Gesundheitssystem wieder im Zentrum. Wer ständig neue Ziele ausruft, muss sich nicht wundern, wenn der Weg dahin irgendwann sehr umstritten ist. Die Extreme der Vergangenheit haben in einer Art Pendelbewegung das neue Extrem erst möglich gemacht. (Gunnar Hinck, taz)
Die Kommunikationspolitik der Regierung während Corona kann man gar nicht genug kritisieren. Das völlige Chaos, die kleinschrittigen, teilweise absurd detaillierten Regelungen (erinnert sich noch jemand an diesen kafkaesken Irrsinn aus Hamburg?), es alles trug dazu bei, dass man nur noch Haare raufen wollte. Auch ist bis heute unklar, was eigentlich die Pandemiestrategie ist. Ich jedenfalls weiß ehrlich nicht mehr, warum ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln Maske tragen muss, im Klassenzimmer aber 20-30 Virenschleudern masken- und schutzlos ausgesetzt bin. Inwieweit diese beständige Lawine an Bullshit das andere Extrem "erst möglich gemacht hat" oder ob es so oder so gekommen wäre, weiß ich nicht. Geholfen aber hat es sicherlich nicht. Und immer noch findet keine Aufbereitung statt; die ganze Pandemie wird bereits jetzt mit voller Kraft verdrängt. Ich bin sehr skeptisch, ob wir die Aufarbeitung je bekommen werden.
5) Why Texas Parents Want to ‘Ban Books’
But the parents who support the removal of these books make a stronger case. They are right to champion the innocence of children and their right to have a truly safe space to learn about the world without being corrupted by it. Further, the objections to removing such books are logically weak. To begin, to equate removing pornographic books from a school library with undermining the very purpose of literature is to miss the crux of the debate, which is whether the books in question are appropriate for young people. People aren’t discussing the literary merits of Toni Morrison’s Bluest Eye or a biography of Michelle Obama, but whether children and adolescents should be reading something like the graphic novel Gender Queer, which takes readers on a “journey of gender identity and sexual orientation” and includes “a few pages of explicit illustrations depicting oral sex.” It is fair to ask whether Gender Queer and other such books offer any educational benefit to students. They don’t seem to learn anything from this story. They don’t even get much practice reading, since it’s a graphic novel. More importantly, narratively, some guy exploring his (their?) sexuality and gender sounds incredibly dull. It’s hard to see how the inclusion of Gender Queer amounts to anything but the school library’s endorsement of LGBTQ ideology and a sexually active lifestyle. [...] More to the point, the fact that kids are exposed to obscene content on television and the internet should be a cause for alarm, not an argument for capitulation. Parents have a responsibility to seek the source of their children’s problems. If the problem is at home, parents can address it themselves. But if it’s at school, parents have to work through existing processes to address the issue. (Auguste Meryat, The American Conservative)
Der Artikel ist noch viel länger - so viel Worte, nur um "It's okay if we do it!" zu sagen. Es ist der Vorwurf, den ich Kritiker*innen der "Cancel Culture", "Wokeness" und was der Modewörter nicht mehr sind (es ist dieselbe Leier wie seit Jahrzehnten, nur andere Worte) immer und immer wieder gemacht habe. Ihnen geht es nicht um Meinungsfreiheit, sondern um die Freiheit einer Meinung: ihrer. Das ist auch keine Überraschung. Leute, die sich konsequent für die Freiheit aller Meinungen einsetzen gibt es, egal wie oft man Voltaire und Rosa Luxemburg zitiert, praktisch keine. Das ist auch eine Haltung, die psychologisch kaum durchzuhalten ist. Zudem sind die Grenzen fließend. Wie oft haben Leute sich entrüstet als "gecancelt" betrachtet, nur weil sie kritisiert wurden? Wo fängt das an, wo hört es auf? Das kann nur gesellschaftlich verhandelt werden, und durch weite juristische Rahmung abgesichert. Aber dafür reichen die bestehenden Gesetze locker. Alles andere ist Debatte. Sofern man sie denn möchte.
6) Imperiale Phantomschmerzen: Neue russische Blicke auf Alaska
Dabei gehört die Idee, der Verkauf Alaskas an die USA im Jahr 1867 müsse – wie auch immer – rückgängig gemacht werden, bereits seit einiger Zeit zum Grundrauschen des russischen Neoimperialismus. [...] Insbesondere seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wird die Rückgabe der Region von russischen Politikern und Meinungsmachern immer wieder thematisiert. [...] Doch aus zwei Gründen wird der neo-imperiale Alaskadiskurs nun ernster genommen: Erstens wird die Region unter geostrategischen Aspekten in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung gewinnen. Aufgrund des Klimawandels verringern sich die Eismengen in den arktischen Meeren und es entstehen dauerhaft nutzbare Routen, die den globalen Handel verändern werden. Zugleich könnten bislang unzugängliche Rohstoffvorkommen in der Arktis erschlossen werden. Und schließlich stellt das tauende Eis auch eine militärische Herausforderung dar. Russland hat ökonomische sowie strategische Risiken und Potenziale dieser gravierenden Veränderungen erkannt und baut im Zuge einer Arktisstrategie seine Präsenz im Norden massiv aus. Die USA reagieren mit Manövern und dem Ausbau ihrer Truppenpräsenz in der Region. In diesem beginnenden „Kalten Krieg“ kommt Alaska eine zentrale Rolle zu. [...] Und zweitens zeigt Russlands Krieg in der Ukraine, wie lebendig in Moskau das Denken in imperialen Kategorien ist. Der Verweis auf die imperiale Vergangenheit Alaskas ist in diesem Zusammenhang nicht als konkrete Restitutionsforderung zu begreifen. Sie steht hier vielmehr für ein Russland, das sich seiner „historischen“ Grenzen bewusst ist. (Robert Kindler, Geschichte der Gegenwart)
7) Aldi-Süd: Betriebsratsgründung endet mit Tumult und Polizeieinsatz
Bislang gibt es bei Aldi-Süd nur einen einzigen Betriebsrat im benachbarten Langenfeld. Aldi-Süd ist grundsätzlich und tradtionell gegen Betriebsräte und bekämpft diese mit härtesten Bandagen. Mit der Gründung eines zweiten Betriebsrats wäre die Gründung eines Gesamtbetriebsrats möglich. 526 Teilnehmer waren im Kölner Maksim-Saal zusammen gekommen, obwohl die Einladung bewusst kurzfristig ausgesprochen wurde. Auffällig jedoch: Unter den Anwesenden waren geschätzt deutlich über 100 Filialleiter, stellvertretende Filialleiter und Nachwuchs-Filialleiter*innen, die — ganz nach dem Drehbuch des klassischen Union Busting — als anti-demokratische Stänkerer und Chaoten fungierten. Erkennbar an ihren schwarzen Aldi-Hemden. Die Filialleiter störten die Versammlung von Beginn an durch ununterbrochene Zwischenrufe. [...] Als rund eine Stunde nach Beginn der Versammlung ein Versammlungsleiter bestimmt werden sollte, eskalierte die Situation. [...] Schließlich stürmten mehrere Personen die Bühne, es kam zu Gerangel und Beleidigungen. Die Initiatoren brachen die Wahl folgerichtig ab. Zur Unterstützung der Security wurde die Polizei gerufen. [...] Die Aktion gegen Arbeitsunrecht fordert die Kölner Staatsanwaltschaft auf, unverzüglich Ermittlungen zum Tathergang und seiner ganz offensichtlich planmäßigen Vorbereitung aufzunehmen. Ein demokratischer Rechtsstaat, der sich selbst und seine Gesetze ernst nimmt, dürfte Zustände wie diese nicht dulden. Jedoch hat sich in den bundesdeutschen Arbeitsbeziehungen über Jahrzehnte ein eigenartiger Rechtsnihilismus entwickelt, der die allgemeinen Erzählung von „sozialer Marktwirtschaft“ und „Sozialpartnerschaft“ konterkariert. Es herrscht Straffreiheit für offensichtliche Kriminelle im Management und spezialsierte Anwaltskanzleien. Das zu ändern, ist die Aktion gegen Arbeitsunrecht 2014 angetreten. (Jessica Reisner, Arbeitsunrecht in Deutschland)
Genau das habe ich vor drei Jahren gemeint, als ich in meinem Artikel zur Ungleichheit in Deutschland (Punkt IV.2)rechtliche Hilfen für Gewerkschaftsarbeit gefordert habe. Arbeitgebende in Deutschland brechen geradezu gewohnheitsmäßig das Arbeitsrecht, und besonders betroffen ist das Betriebsverfassungsrecht. Angesichts der krassen Asymmetrie zwischen beiden Seiten halte ich es für dringend geboten, ein höheres Maß an Waffengleichheit herzustellen. Gleichzeitig muss das Strafrecht hier viel offensiver eingesetzt werden. Die permanenten Rechtsbrüche der Arbeitgebenden sind ja wie das Verhalten der deutschen Ordnungskräfte gegenüber Autofahrenden, die die StVO brechen. Diese rechtsfreien Räume müssen aufgebrochen werden.
8) Republicans are bowing out of presidential debates. Good.
We call that a "debate," but it's really not. In classic form, political debate involves speakers taking opposing positions on a fixed proposition. That's what Abraham Lincoln and Stephen Douglas did in their famous series of joint appearances leading up to the 1858 senatorial election in Illinois. [...] Real debate is a showcase for speakers' knowledge, poise, and rhetorical fluency. It doesn't prove they're suited to govern. But it does indicate whether they have a clear position on some important issue and are capable of defending it. The awkward group interview we call "debate" does little of the kind. The question-and-answer format either gives the speakers free rein to select their own topics or degenerates into tit-for-tat exchanges between participants or with the moderator. [...] When debates make a difference, finally, their influence may have less to do with their actual content than with media narratives about them. Because candidates' statements are usually vacuous, journalists tend to emphasize superficial qualities of vocal tone, body language, or diction. It's been said that if you want to know who "won" a debate, watch with the sound turned off. That's an indictment of the whole exercise. (Samuel Goldman, The Week)
Ich kann mich dem nur anschließen. Good riddance. Dasselbe gilt für die meisten TV-Formate. Ich kann mich ja endlos über die politischen Talkshows aufregen, gerade auch in Deutschland, und Kanzlerduelle (früher) und Kanzlertrielle (zukünftig) haben jetzt qualitativ auch nicht gerade überzeugt. Ich glaube, das von Goldman hier angesprochene Debattenformat wäre wirklich einmal interessant. Macht eine Serie von Debatten mit Beiträgen von je so 20 Minuten. Das füllt mit Pausen, Einordnungen etc. locker auch 90 Minuten und könnte wesentlich interessanter sein. Es wäre zumindest ein interessantes Experiment. Das jetztige Format ist an seinen Ansprüchen gemessen klar gescheitert. Warum hofft man Woche für Woche, Wahl für Wahl, dass es doch anders sein möge?
9) The lessons and implications of seizing Russian oligarchs’ assets
The first and the most obvious lesson that we can draw from the confiscation of Russian oligarchs’ assets is that the pre-February 24 Russia was not an oligarchy, as many believed, but an authoritarian autocracy. Instead of being ruled by a few rich people, it was ruled by one person. [...] The global implication is that foreign plutocrats who often moved their money from their own countries to the “safe havens” of the US, UK and Europe will be much less sure that such decisions make sense. This applies in the most obvious way to Chinese billionaires who might experience the same fate as Russian. [...] Financial fragmentation is very likely, and would be driven not solely by the fears of billionaires but by obvious fears of potential US adversaries like China that their governments’ assets may too prove to be just pieces of paper. [...] The conclusion that the future Russian oligarchs will draw is the same that the Politburo members did: it is better to have a collective leadership where individual ambitions will be checked rather than to let one person take the full power. [...] The comparison was made with American “robber barons” who also often became rich by illicit means, but had the interest to fight for the safety of property once they became rich. The expectation was that the Russian billionaires would do the same. These expectations were upended by billionaires’ finding a (seemingly) much better way to make their money safe: move it to the West. Most of them did so and it seemed an excellent decision—all the way to about six weeks ago. The new post-Putin billionaires will probably not forget that lesson: so we may expect them to favor a weak central government, that is, a true oligarchy, and to insist on the domestic rule of law—just because they will have no longer any place where to move their wealth. (Branko Milanovic)
Die Analyse finde ich ziemlich spannend. Was mir unklar bleibt: war es nun eine sinnvolle Politik, die Oligarchen zu enteignen? Ich meine, ich begrüße es natürlich schon wegen des Präzedenzfalls, aber ob es irgendwelche Ziele erreicht hat? Wenn der von Milanovic beschriebene Effekt einer Dezentralisierung und "rule of law aus Eigeninteresse" eintrifft, würde ich sagen: ja, definitiv. Inwieweit sich die Fragmentierung des Finanzsystems für die globale Sicherheit negativ oder positiv auswirken würde, kann ich überhaupt nicht abschätzen und wäre sehr interessiert an euren Meinungen.
Bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) könnten die Dozierenden die gendergerechte Sprache als Bewertungskriterium festlegen, heisst es auf Anfrage. Dies müsse jedoch vorher angekündigt werden. Ein neuer Leitfaden sei in Erarbeitung, der für die offizielle Kommunikation der Hochschule verbindlich, für alle anderen Bereiche eine Empfehlung sein werde, schreibt die Hochschule. «Jedoch ist das generische Maskulinum an der ganzen ZHAW explizit nicht erwünscht.» [...] Der Medienstelle der Universität Zürich sind keine Fälle von Punkte- oder Notenabzügen bekannt. Die Notengebung sei jeweils Sache der Dozierenden, heisst es. Welche übergeordneten Kriterien hierfür festgelegt und angewendet würden, entschieden die Fakultäten und die Institute. Eine einheitliche Regelung gibt es also nicht. Die Universität verweist aber ebenfalls auf einen Leitfaden. Im Vorwort heisst es dort: «Lange war es üblich, dass Frauen in deutschen Texten nicht direkt genannt, sondern im ‹generischen Maskulinum› bloss mitgemeint waren. Dass das heute nicht mehr geht, ist nicht nur eine Frage des Respekts.» Die aktuellen Leitfäden der Hochschulen lassen indes Formulierungen wie die Verwendung der männlichen und weiblichen Form oder geschlechtsneutrale Begriffe offen. Die Richtlinien zwingen also niemandem die Verwendung des Gendersterns auf. (Nils Pfändler, NZZ)
Obwohl wir mittlerweile seit Jahren davon hören, dass an den Unis dazu gezwungen wird, zu gendern, gibt es immer noch kein einziges Beispiel, wo das tatsächlich vorgeschrieben wird. Ich halte übrigens von den oben zitierten Regeln nicht viel; ich finde, es sollte einfach generell offen sein, wie die Hausarbeiten etc. abgefasst sind. Ich bin da ziemlich freiheitlich orientiert und halte es auch für meinen eigenen Unterricht so. Es sei CDU und FDP überlassen, da ständig Vorschriften zu machen. Bislang machen die linken beziehungsweise progressiven Kräfte das nicht. Weiterhin kommt die wahre Gefahr nicht vom linken Campus, der maximal eine winzige Minderheit betrifft, sondern von den rechten Kulturkrieger*innen, die tatsächlich an Schaltstellen der Macht sitzen.
Aktuelles Beispiel aus Missouri: ein Lehrer wurde entlassen, weil er im Unterricht den Roman "Dear Martin" besprochen hat, der unter die absurd weit gefassten Verbote fällt, "Critical Race Theory" (genauso wie Cancel Culture oder Political Correctness ein bereits völlig jeder Bedeutung entkleideter Kampfbegriff) zu besprechen. Das ist die reale Gefahr, nicht irgendwelche Einzelfälle an Stellen, die keinerlei Potenzial haben, jemals allgemeine Regel zu werden.
Resterampe
a) Ich teile diese Einschätzungen zum Impfpflichtdebakel von FAZ, NTV und Merkur vollends.
b) Auf Wiedervorlage für die "wer hätte das auch ahnen können" hier die neuesten Hiobsbotschaften zur globalen Erwärmung.
c) Friedrich Merz hat vollkommen Recht. Da, ich hab es gesagt. Allerdings auch schon hier ;)
d) Überrascht es euch, dass die eigene politische Einstellung eng mit den Ansichten zum Genderstern korreliert?
e) Der Faschismus in den USA schreitet mit Riesenschritten voran.
f) Ehemaliger Bundeswehroffizier unterstellt Bundeswehr ein Haltungsproblem, aber anders als von der Leyen seinerzeit. Lesenswert!
g) Gute Einordnung zur Drohnenbewaffnung der Bundeswehr.
h) Mal was Positives zu Lauterbach.
i) Der Artikel von Anna Schneider, der nicht völlig bescheuert ist, muss wohl noch erfunden werden.
j) Adenauer ließ die SPD bespitzeln, damit sie nicht die Wahl gewinnen. Die 1950er Jahre sind echt eine Zeit, die dringend noch mal demokratiegeschichtlich aufgearbeitet gehört.
k) Spannende Rezension zu einem Buch über die Schlacht von Tannenberg, die da einige Mythen zerstört.
l) Bis zu 70% der Energiekosten der energieintensivsten Branchen sollen nach dem durchschlagenden Lobby-Erfolg derselben vom Staat übernommen werden und nein, die CO2-Steuer wird nicht funktionieren, genau aus dem Grund.
m) Superspannende Rezension für Mark Mazowers neues Buch zum griechischen Unabhängigkeitskampf und den Parallelen zur Ukraine.
n) Wo wir es in Fundstück 1 von radikalen Änderungen im Schulsystem hatten, Bob Blume träumt hier ein bisschen.
o) Ein völlig unterdiskutierter Aspekt des Schubs zu den Rechtsextremen, nicht nur in Frankreich.
p) Nicht sonderlich überraschend, dass Alice Schwarzer in den neokolonialen Ukraine-Diskurs einsteigt und der Ukraine die Kapitulation empfiehlt. Diese geistige Verwandtschaft existiert ja schon lange.
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