Freitag, 29. April 2022

Rezension: Kai Frerich - Als das Rad zerbrach

 

Kai Frerich - Als das Rad zerbrach

Vor 25 Jahren starb Ulrich Kiesow, viel zu früh im Alter von nur 48 Jahren an den Spätfolgen seines zwei Jahre zuvor erlittenen Herzinfarkts. Einige geneigte Lesende dieses Blogs mögen sich jetzt fragen, wer Ulrich Kiesow war und warum sie noch nie von diesem wichtigen Menschen gehört haben, dem hier ein ganzer Erinnerungsband gewidmet wurde. Das liegt vermutlich daran, dass einer der kulturellen Meilensteine der jüngeren deutschen Geschichte verpasst wurde: das Fantasy-Rollenspiel "Das Schwarze Auge", kurz DSA. Ulrich Kiesow erschuf es in meinem Geburtsjahr 1984, was es mir leicht macht, das Alter des Spiels nachzuverfolgen. Ich selbst spiele es seit dem 25. Dezember 2000. Den 1997 verstorbenen Kiesow habe ich offensichtlich nie kennengelernt. Aber er hat mich zutiefst mitgeprägt, denn angefangen habe ich mit der dritten Edition von 1993.

Für mich sind die vielen individuellen Tribute seiner Weggefährt*innen in diesem Heft daher auch eher eine historische Quelle. Die Geschichte des Schwarzen Auges wird für Interessierte auch in einer hervorragenden Doku-Serie ("Hinter der Maske des Meisters") ausgebreitet, und dazu gibt es diverse Sekundärtexte von Fans. Zwar war Pen&Paper-Rollenspiel noch nie mehr als ein Nischenhobby, aber in den 1980er Jahren wurde es dank der Marktmacht von Schmidt Spiele und der Popularität von D&D mit DSA zumindest kurzfristig verhältnismäßig weit verbreitet. Inzwischen spielen nur noch einige tausend Spieler*innen regelmäßig in Aventurien, und der mittlerweile dritte Verlag mit der Lizenz, Ulisses, beschäftigt niemanden der alten Garde mehr und hat sich wirtschaftlich klar auf die Zielgruppe der finanzkräftigen, mittelalten Sammler*innen festgelegt. (Ich fühle mich angesprochen.)

Gerade das macht den Rückblick in die 1980er und 1990er Jahre so interessant. Ulrich Kiesow wird als charismatischer, nahbarer Mensch geschildert, der mit viel Idealismus an die Sache heranging und prägend für eine ganze Generation war. Für mich besonders spannend sind die Details über die damalige Szene, die sich aus den verschiedenen Berichten synthetisieren lassen: ohne Internet war man auf Telefon und Briefe angewiesen, was auf der einen Seite die Kommunikation langsam machte, auf der anderen Seite aber natürlich für diejenigen, die sich an den Briefspielen und der Community beteiligten, entsprechend gleich noch intensiver wurde. Auffällig ist, dass die toxischen Grabenkämpfe der Nerd-Community wahrlich kein Internet brauchten. Der übliche Kulturpessimismus über die verheerende Wirkung der sozialen Netzwerke wird angesichts der Aggressivität, mit der seinerzeit Nerd-Schlachten geschlagen wurden, einmal mehr widerlegt.

Etwas merkwürdig fand ich, dass so viele Autor*innen der ersten Generation in diesem Heft abwesend sind. Thomas Römer und andere werden nur in ihren Nachrufen von 1997 in den WunderWelten zitiert; Hadmar Wieser fehlt vollständig. Wollten diese Leute sich nicht äußern? Sind ihre Beziehungen zu Ulisses derart gestört? Ich bin zu wenig in der Szene verankert, um das beantworten zu können, aber die Leerstelle schreit ziemlich laut.

Ich möchte an dieser Stelle gar nicht mehr weiter auf den Band selbst eingehen; wer sich für die Thematik interessiert - wie ich es tue - wird genügend finden, das den Kauf lohnt, und das Geld ansonsten ohnehin als Investition ins Hobby und die eigene Sammlung verbuchen, auch wenn das Softcover-Heft weder vom Äußeren noch vom Inneren her ein Schmuckstück darstellt. Stattdessen habe ich noch einige Gedanken zu Kiesow selbst.

Mir fiel in den Berichten auf, wie unvereinbar sein Stil mit dem ist, was ich - beziehungsweise wir in unserer Gruppe - spielen. Die Autor*innen des Bandes können noch so sehr von den klassischen Abenteuern und Romanen schwärmen, aus heutiger Perspektive sind sie einfach nicht gut. Ich bin auch kein Kunde der DSA1-Retro-Produkte; so weit reichen Sammlerwut und Nostalgie dann doch nicht. Der Kram ist letztlich ungefähr so brauchbar wie die ersten Schreibversuche von Goethe: sicherlich historisch interessant, aber nicht mehr zum Konsum geeignet. Auch was man von Kiesows eigenem Stil des Spielleitens hört, ist längst nicht mehr aktuell. In den 1980er und vielleicht 1990er Jahren mag es noch neu und bahnbrechend gewesen sein (und ich bezweifle das sogar für die 1990er, in denen etwa White Wolf neueres Territorium beschritt), aber heutzutage ist es das nicht mehr.

Natürlich hätte auch Kiesow sich noch gewandelt, keine Frage, und darüber zu spekulieren, wie jemand, den ich nie kannte und der schon lange tot ist, heute auf die vielen Veränderungen reagieren würde, ist müßig. Aber Fakt ist, dass sowohl die ab 2001 erschienene 4. Edition als auch die seit 2014 laufende 5. Edition das Spiel verändert haben - die toxische Reaktion auf beide Editionen in Teilen der Fanszene belegt das ja nur zu gut.

Ich weiß jedenfalls, dass ich mit einigen von Kiesows Sensibilitäten nie viel anfangen konnte. In vielem war der Alt-68er seiner Zeit weit voraus: DSA genderte schon in den frühen 1990er Jahren und richtete Aventurien erbarmungslos emanzipiert aus: es herrschte völlige Gleichberechtigung. DSA war schon immer eine Utopie, das macht einen guten Teil seines Charmes aus (auch wenn ich das lange anders gesehen habe, Asche auf mein Haupt). Auch die sexuelle Freizügigkeit gehörte von Anfang an zum Markenkern (und erleichterte den oft versuchten und nie gelungenen Markteinstieg in den USA sicherlich nicht eben).

Aber gerade hier konnte ich nie wirklich mitgehen. Das Ausleben von persönlichen Kinks in den aventurischen Settings (besonders Heike Kamaris und Jörg Raddatz fallen hier noch ein) war schon immer ein Faktor, mit dem ich mich schwer tat, und Kiesows bellitristisches Mammutwerk "Das zerbrochene Rad" konnte in mir nie die Begeisterung auslösen, die viele Fans empfinden (auch im vorliegenden Heft nachzulesen), weil einerseits seine eigenen Lieblingsfiguren so breiten Raum einnehmen und andererseits die pornografischen Inhalte manchmal allzu offensiv eingesetzt werden (bis hin zum Metakommentar des auktorialen Erzählers, dass "fließender Samen" im Gegensatz zu "fließendem Blut" verpönt sei und dass dies zu kritisieren wäre.

Ich glaube, es ist gut, dass das seit der vierten Edition deutlich heruntergedämpft wurde. So fortschrittlich gleichgeschlechtliche Liebe, sexuelle Freizügigkeit und Gleichberechtigung zu Kiesows Zeit waren, im Rückblick wirkt vieles unter dem Eindruck aktueller Debatten von #Aufschrei zu #MeToo zu #BlackLivesMatter und den Debatten um den kolonialen Blick und den male gaze alles andere als zeitgemäß. DSA hat es im Großen und Ganzen gut geschafft, hier auf der Höhe zu bleiben. Wenn ich mir die harsche Kritik an diesen Anpassungen von älteren Fans anschaue, bin ich skeptisch, ob die erste Generation auch in der Lage gewesen wäre, das Rollenspiel so gut zu modernisieren, wie es die aktuelle Redaktion geschafft hat. Wir werden es nie erfahren; Römer, Wieser, Falkenhagen et al schreiben überwiegend schon seit über 20 Jahren nicht mehr für DSA.

Das alles soll nichts von der großen Leistung Kiesows wegnehmen. Er verdient es, bekannter zu sein als er ist, denn DSA war stilbildend für die deutsche Fantasy. Sein eigentümlicher wie einzigartiger Stil - eine Kombination aus klassischer Mittelalter-Fantasy in Tradition der großen Heldensagen, der starke Einfluss von Grimm'scher Märchenästhetik, die positive, der Renaissance entlehnte Welt und die erwähnte gesellschaftliche Fortschrittlichkeit - macht es, zusammen mit vielen anderen Faktoren wie der tief ausgestalteten Spielwelt, bis heute attrativ (was man von seinem Regelsystem nicht eben behaupten kann). Aber das Werk hat seinen Schöpfer überlebt, hat sich weiterentwickelt und ist mittlerweile mehr als doppelt so lange ohne Kiesow erschienen wie mit ihm. Die Zeit der Flügelhelme auf den Schmidt-Spiele-Covern ist nur noch ferne Erinnerung. Ich bin froh, die fünfte Edition von Ulisses spielen zu können und nicht mit der dritten Edition von Fanpro geschlagen zu sein - aller historischen Verdienste ihrer Schaffer*innen zum Trotz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.