Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Mit dem Entlastungspaket II bekommen diese Worte einen finanzpolitisch bedrohlichen Beigeschmack. Es war offensichtlich, dass die Ampel-Partner aus SPD, Grünen und FDP mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen in die Gespräche gegangen sind. Die FDP mit dem Ziel, Autofahrer so schnell wie möglich zu entlasten, dafür stand Christian Lindners "Tankrabatt", der bei den Koalitionspartnern gar nicht gut ankam. Vor allem nicht bei den Grünen, weil sie ja eigentlich für eine Verteuerung fossiler Energieträger sind, Erleichterungen beim Benzinpreis aus ihrer Sicht also geradezu kontraproduktiv sind (auch wenn natürlich den Grünen die aktuellen Preissprünge zu weit gehen). Und da ist die SPD, die zwar auch "die breite Mitte der Gesellschaft" entlasten will - ein Ausdruck, den FDP und Union in den vergangenen Tagen erfolgreich in die Debatte eingebracht haben - nur müsse das eben sozial gerecht gestaltet werden. [...] Aus diesen Unterschieden ist in der Tat eine Ergänzung geworden: Anstatt Kompromisse zu schmieden, bei denen jeder auf etwas verzichten muss, ist das Entlastungspaket II zum großen Füllhorn geworden, bei dem für (fast) alle etwas dabei ist. Vor allem aber für die Ampel-Partner selbst, die sich allesamt als Sieger fühlen können. (Hans-Joachim Vieweger, ARD)
Ich zitiere diesen Artikel aus zweierlei Gründen. Einerseits, weil er einmal mehr das dämliche Narrativ von den angeblich so grünen Öffentlich-Rechtlichen Lügen straft; was das angeht, sind die stockkonservativ (was ja auch meine Dauerthese ist: die Progressiven haben die Debatte auf manchen Feldern gewonnen, die Konservativen auf anderen). Das was Vieweger hier sagt könnte ich in jede CDU-Wirtschaftsflügel- oder FDP-Rede schreiben. Sind die Öffentlich-Rechtlichen deswegen MEINUNGSMACHE!!elf1!! oder dergleichen? Nein, die haben halt solche und solche Meinungen.
Rein inhaltlich wird es die geneigten Lesenden überraschen, dass ich die Position wenig sinnvoll finde. Klar, jede Partei kriegt irgendwas, aber, Newsflash, das ist Politik. Darüber kann man sich natürlich beschweren, aber das sind wie diese Dauerbrenner-Artikel von "Partei XY total zerstritten!" weil tatsächlich mal zwei Optionen zur Wahl stehen. Ohne solche Kompromisse funktioniert Demokratie nicht.
Davon abgesehen bin auch dieses Narrativ satt, nach dem keine Opfer gebracht werden würden. Jede der Ampel-Parteien hat bereits schwere Opfer gebracht. Die SPD hat ihre Opposition zum 2%-Ziel, bewaffneten Drohnen und nuklearer Teilhabe aufgegeben, über die sie sich seit Jahren agonisiert hat. Die Grünen haben in der Energiepolitik bittere Kröten schlucken müssen und auch beim 2%-Ziel. Und die FDP musste ihre haushaltspolitischen Wunschvorstellungen begraben. Alle drei Parteien sind über ihren Schatten gesprungen wie seit der Agenda2010 nicht mehr, und was sie kriegen ist dieses arrogante Genöle eines Vieweger. Ich find das widerwärtig.
2) „Ich musste das einfach mal aufschreiben“ (Interview mit Ulrike Guérot)
WELT: In Ihrem Buch schreiben Sie von einer „Gleichschaltung“ der Medien in Sachen Covid-Berichterstattung. Der Begriff ist historisch vorbelastet. Er beschreibt, wie Adolf Hitler ab 1933 alle Institutionen auf den Nationalsozialismus ausrichtete. Bedarf es solcher abstrusen Vergleiche, um einen gewissen Mainstream in der Covid-Diskussion zu kritisieren?
Guérot: Ich vergleiche das nicht, und den Zusammenhang haben Sie mit Ihrer Frage erst hergestellt. „Gleichschaltung“ findet sich ohne Einschränkung als Eintrag im Duden. Aber ich bin gerne bereit, den Begriff zurückzunehmen. Jeder macht Fehler. Ich habe auch eigentlich keine Lust, meinen ganzen Essay an diesem Begriff festzumachen. Ich habe den Text in drei Wochen am Stück geschrieben, und nur mit grünem Tee. Ich musste das einfach mal aufschreiben. Vielleicht war der Begriff übergriffig oder überschüssig, das konzediere ich Ihnen gerne. Aber ich habe ja auch einschränkend gesagt, dass die Gesellschaft in einen Modus der Panik eingestiegen ist, der sich verselbstständigt hat. Das gilt auch für die Medien, weil man dort natürlich Drama besser verkaufen kann als gute Nachrichten. [...]
WELT: Im letzten Teil Ihres Essays entwickeln Sie eine Art Utopie für eine künftige Gesellschaft. Ihre Formulierungen klingen seltsam aufwiegelnd. „Wir überantworten die Verantwortlichen dem Internationalen Strafgerichtshof“ heißt es da zum Beispiel. Ist das ihre Fantasie? Etwa Karl Lauterbach nach Den Haag zu überstellen?
Guérot: Nein. Ich finde interessant, was Menschen in diesen Zeilen lesen, was dort aber gar nicht steht. Manchmal sagt das, glaube ich mehr, mehr über sie selbst und ihre Fantasien, als über die der Autorin. Und manchmal sind die Dinge auch banaler, als man denkt. Dieses Kapitel habe ich zwischen 2 und 7 Uhr morgens geschrieben. Das war in mir und ich habe es einfach runtergeschrieben. (Jörg Wimalasena, Welt)
Ich habe die Cause Guérot nicht von Anfang an verfolgt, würde sie aber spontan in die gleiche Schublade einordnen wie Stefan Homburg oder Christof Kuhbander (der, wie könnte es anders sein, auf die Kritik mit dem Vorwurf der Cancel Culture reagiert; es ist nur noch lächerlich). Aber dieses ständige Gerieren als Opfer ist eine widerliche Tendenz in diesen Kreisen. Natürlich schimpft sie auch auf Twitter, gleiche charakterlose Chose wie Prien auch abgezogen hat.
Was Guérot sagt ist auch extrem wütend machend: dieses weinerliche "ich hab den Text nachts geschrieben" ist Guttenberg-Level an Ausflüchten, genauso das "ich hab den Text in drei Wochen am Stück geschrieben". Als ob sie ihren Studierenden durchgehen lassen würde, eine rotzige Hausarbeit mit dem Argument abzugeben, dass sie sie halt in drei Wochen am Stück und nachts geschrieben hätten! Es ist dieser typische Kubicki-Liberalismus: Regeln für dich, aber nicht für mich. Das kann echt weg. Aber wahrscheinlich cancele ich sie mit dieser Kritik jetzt wieder.
3) Putin’s useful German idiots
Slowly but surely, it’s begun to dawn on Germans that Merkel’s soft-shoe approach to Russia — which reached its zenith with the 2015 decision to greenlight the Nord Stream 2 pipeline despite Russia’s annexation of Crimea and its role in the separatist war in eastern Ukraine — didn’t just open the door for Putin to go further, it effectively encouraged him to do so. Russia’s invasion of Ukraine is not just a repudiation of Merkel’s chancellorship, however, but of a whole generation of German politicians from across the spectrum blinded by nostalgia for Ostpolitik and Wandel durch Handel, the 1970s-era détente policies championed by Chancellor Willy Brandt that according to German legend led to the end of the Cold War. [...] Having been wrong about Russia and Putin every step of the way, Germany’s politicians have resorted to the “who knew?” card. [...] Even as allies welcome Berlin’s Zeitenwende, they aren’t fooled by its foxhole conversion. (Mathew Karnitschig, Politico)
Ich teile die Kritik völlig. Es ist glaube ich meine große Gemeinsamkeit mit Stefan Pietsch, dass wir hier im Blog schon seit langem die Russland-Falken waren. Bernd Rheinberg hat bei den Salonkolumnisten eine ähnliche Generalkritik unter dem Titel "Sie müssen reden" aufgemacht und fordert eine Aufarbeitung dieser Haltung bei den betroffenen Parteien. Er nennt spezifisch SPD und CDU, und ich denke, das kommt weitgehend hin. Zwar unterstützt etwa Armin Laschet gerade lautstark den Kurs der Regierung, aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein ebenso starker Verfechter von Nordstream 2 war wie Manuela Schwesig und dass Gerhard Schröder ihn über seinen "Parteifreund" Olaf Scholz als Kanzler empfohlen hat, was Armin Laschet damals, im entfernten 2021, noch gerne annahm. Die beiden ehemaligen Volksparteien haben da noch massenhaft Altlasten. FDP und Grüne stehen wesentlich besser da, während die LINKE und AfD schon fast hoffnungslose Fälle sind. Das Ausmaß der Verstrickung der deutschen Politik in russische Energiepolitik ist jedenfalls beachtenswert und sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden.
4) G7-Staaten lehnen laut Habeck Energiezahlung in Rubel ab
Für die unmittelbare Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine seien die Zahlungen aus dem Westen für Energielieferungen nicht maßgeblich. Die Armee finanzieren, Soldaten versorgen, Treibstoffe für Panzer liefern oder Kriegswaffen bauen könne Putin weitgehend im eigenen Land. »Dazu braucht er Rubel. Die Rubel kann er drucken«, sagte Habeck. »Solange die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter die Rubel als Zahlungsmittel akzeptieren, kann er den Krieg aus der eigenen Kraft heraus finanzieren.« Allerdings sei der Tausch von Rubel in Fremdwährungen wegen Sanktionen gegen die Zentralbank extrem erschwert, sagte Habeck. Zudem müsse man sich unabhängig machen von Gas, Kohle und Öl aus Russland, um die russische Regierung nicht zu stärken oder am Leben zu erhalten. Russland sei »ein unzuverlässiger Lieferant« und habe mit seinem Feldzug »maßgeblich zu einer globalen Störung von Frieden und Ordnung« beigetragen. (dpa, SpiegelOnline)
Ich bin ja so froh über das Personal, das wir in dieser Regierung haben. Habeck und Baerbock sind und bleiben die größten positiven Überraschungen; die beiden liefern eine starke Leistung nach der anderen ab - im Gegensatz zur SPD, deren Wahl von Lamprecht sich als genau der Rohrkrepierer erweist, den Kritiker*innen von Anfang an an die Wand malten; mea culpa, da war ich zu optimistisch. Und auch Scholz bedeckt sich nicht gerade mit Ruhm. Aber zurück zum obigen Ausschnitt: Allein, dass es bemerkenswert ist, dass Habeck grundsätzliche finanzpolitische Zusammenhänge versteht, lässt tief blicken. Ja, Putin kann Rubel drucken. Dem geht das Geld nicht aus, solange es um den russischen Binnenmarkt geht. Da können wir uns auf den Kopf stellen. Ich finde auch Habecks offene Haltung, dieses deliberierende Für und Wider, das er zur Schau stellt, und die Ehrlichkeit und Transparenz dahinter, einen so tollen neuen Stil, ich hoffe, dass sich das durchsetzt. Sein Auftritt bei Lanz ist da nur ein Beispiel.
5) Wähler von AfD und Linke haben starken Hang zum Narzissmus
«Die AfD-Wähler sind sehr von sich überzeugt», sagt Elmar Brähler von der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig der Deutschen Presse-Agentur. Er ist einer der Autoren einer Studie mit dem Titel «Die Parteien und das Wählerherz 2018», für die zwischen November 2017 und Februar 2018 bundesweit rund 2100 Wahlberechtigte nach ihren Parteipräferenzen und ihrem Selbstbild befragt worden waren. «Relativ hohe Narzissmus-Werte haben wir auch bei den Wählern der Linken gefunden. Allerdings waren diese dort - anders als bei den AfD-Wählern - nicht verknüpft mit einem Hang zum Autoritären» [...] Auf der Narzissmus-Skala der Forscher erreichten die AfD-Wähler den höchsten Wert. Die Anhänger der Linkspartei lagen dahinter. Den geringsten Hang zum Narzissmus attestieren die Autoren den Wählern von FDP und SPD. Im Mittelfeld lagen die Anhänger der Grünen und der Unionsparteien. [...] «Die AfD-Wähler sind sehr von sich überzeugt. Viele von ihnen denken, dass sie den Durchblick haben und etwas Besonderes sind», sagt Brähler. Wer so denke, habe oft eine starke Neigung zu Verschwörungstheorien. Die Zustimmung zu dem Satz «Ich habe es verdient, als große Persönlichkeit angesehen zu werden» war bei den Anhängern der Linken allerdings noch ein wenig höher als unter den AfD-Wählern. [...] Dem Satz «Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen» stimmten den Angaben zufolge besonders viele AfD-Wähler zu. Die geringste Zustimmung fand diese Aussage bei den Anhängern der Grünen. Auch die meisten Wähler der Linken konnten dieser Idee wenig abgewinnen. (dpa, ZEIT)
Kein einziges dieser Ergebnisse ist irgendwie überraschend. Als ehemaliger Linker kann ich nur bestätigen, wie identitätsstiftend es immer wahr, im Besitz der Wahrheit zu sein, die von den bösen Mächten der Welt nur unterdrückt wird - und wie unglaublich wütend machend, dass so viele andere das Licht nicht sehen. Mit wenig habe ich auf der Linken so wenig Geduld wie mit "wenn die Millionen alle nur verstehen würden, was ich verstanden habe, dann würden sie links wählen" und dessen kleinen Bruder, das "sie wählen gegen ihre Interessen". Narzissmus trifft es ziemlich gut, und dass der selbst den der AfD übertrifft glaube ich sofort.
Gleichzeitig sehen wir aber auch, bei aller Liebe zum Hufeisen, weiterhin Unterschiede zwischen der radikalen Linken und radikalen Rechten. Denn gerade der starke Unterschied bei der Haltung zu Führungsfiguren trennt die beiden Lager deutlich; gleiches gälte, wäre es abgefragt worden, für Haltungen zu Nationalismus, Grenzen, Umgang mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Das sollte man nicht vergessen. Der Unterschied ist akademisch, wenn sie Gewalt ausüben, das ist klar, aber gerade diese Ablehnung von Autorität ist gleichzeitig die größte Schwäche der radikalen Linken. Die sind hauptsächlich ein Fall für die Kriminalpolizei oder gegebenenfalls die Terrorbekämpfung; die Demokratie bedrohen sie, anders als die AfD, nicht. Danken wir auf Knien der eigenen Blödheit dieser Bewegung.
6) Chris Wallace’s stark admission about Tucker Carlson shames Fox News
Nicole Hemmer, the author of an excellent history of conservative media, notes the larger context: After Jan. 6, Fox appears to have felt serious pressure from more extreme right-wing news sources, such as Newsmax, which offered even more egregious whitewashing of the insurrection. "Fox News has to compete with those other right-wing sources,” Hemmer told me. She added that when Fox got “too far out to the left, like when they acknowledged Joe Biden won the 2020 election, they found their audience was beginning to revolt.” In the weeks after the 2020 election, Hemmer noted, right-wing protests that attacked the “liberal media” for its coverage of the election’s aftermath also attacked Fox. As Hemmer put it, a key driver of Fox’s support for Carlson’s Jan. 6 propaganda is the network’s need to “shore up and continue to do maintenance on its reputation with MAGA people.” What that says about Fox as a journalistic organization is bad enough. What it says about Fox’s low opinion of its audience’s incapacity for exposure to the truth might be even worse. (Greg Sargent, Washington Post)
Wie unglaublich abgedriftet die ganze amerikanische Rechte mittlerweile ist kann man exemplarisch hier sehen. Wenn es als "left-wing" gilt, den Wahlsieg Joe Bidens anzuerkennen, dann bist du einfach aus dem demokratischen Spektrum raus. Ich hab null Sympathie für FOX News, aber dass die sich mit ihrer Radikalisierung selbst in eine Ecke geschoben haben, aus der sie nicht mehr herauskommen, weil ihr Publikum mittlerweile so mit radikalisiert wurde, dass es jede Abweichung hart sanktioniert, ist extrem besorgniserregend, schon alleine deswegen, weil FOX News ja Konkurrenz rechts von sich hat - wenn sie nicht weiter den proto-faschistischen Kurs fahren, gehen die Leute eben zu OAN. Den Schaden tragen wir alle.
7) The British Empire Was Much Worse Than You Realize
As the sole imperial power that remained a liberal democracy throughout the twentieth century, Britain claimed to be distinct from Europe’s colonial powers in its commitment to bringing rule of law, enlightened principles, and social progress to its colonies. Elkins contends that Britain’s use of systematic violence was no better than that of its rivals. The British were simply more skilled at hiding it. [...] Indeed, the main reason that the British Empire was able to sustain itself for more than two centuries, she maintains, was that the British model of state violence came wrapped in this “velvet glove” of liberal reform. [...] Defenders of empire like the historian Niall Ferguson insist that the rule of law proved Britain’s most important gift to its colonies when, in time, they achieved independence. [...] The ungainly truth is that liberal thought has been a resource for repression and resistance alike, and theories of imperial power impatient with this ambiguity may not withstand the scrutiny they deserve. (Sulhil Khilnani, New York Magazine)
Ich habe immer mal wieder am Rande erwähnt, dass die Vergangenheitsbewältigung, was die Kolonialgeschichte angeht, gerade in Frankreich und Großbritannien noch sehr viel Luft nach oben hat. Dieser Artikel ist ein super Beispiel dafür. Während ich inhaltlich voll dahinter stehe, lässt die Überschrift mich etwas ratlos zurück. Selbstverständlich war das britische Empire schlimmer als es die Bilder von "gebildeten Europäern in Tropenhelmen" vermuten lassen. Die Lebenslüge der Briten, man habe ein "liberales Imperium" gehabt, das irgendwie besser gewesen sei als der Rest, überlebt nicht eine einzige Google-Suche. Da ist noch sehr, sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Von den Restitutionen einmal ganz zu schweigen.
8) Chartbook #105: Heat pumps for energy sovereignty - Europe's options in the face of Putin's War
Finding these efficiency gains and then training the skilled labour to actually carry out the program will require huge parts of European society to become much more savvy and expert in all things energy. It is akin to the revolutions implied by motorization or digitization. We need the entire chain of energy production, distribution and use to be brought out of the black box and opened up to massive collective experimentation and implementation. To achieve the targets now set for Europe’s renewable energy capacity by 2030 - to get from 350 to 900 GW within 8 years - will require, as the Agora team point out a “true European industry project”. The rate of annual new installation needs to surge at a spectacular rate. [...] If you look at the recent trajectory of solar installation in the EU it becomes clear that what is needed is a dramatic turnaround. Since the highpoint of 2011 it has been heading in the wrong direction. [...] In the long-run using less energy saves money. The Agora team estimate that currting 1200 TWh reduction in gas consumption by 2027 would save an estimated 127– 318 billion euros and generate additional savings going forward. The savings would be even larger if prices were to settle at the hugely elevated levels we have seen recently. But, getting those savings will require investment. The Agora team suggest that their measures would need to be flanked by a new EU Energy Sovereignty Fund, modelled on NextGenEU and equipped with 100 bn EUR until 2027. This figure is not the cost of investment, which will be far higher. It is the public support necessary to make renewable projects investible and to stabilise their revenue streams. How much subsidy is actually needed will vary depending on how expensive fossil fuels become (the more expensive the better from this point of view) and Agora suggests a bandwith from 30 billion to 285 billion euros, in the event that fossil fuel prices were to plunge. (Adam Tooze, Chartbook)
Die Darstellung hier in nackten Zahlen finde ich vor allem deswegen bemerkenswert, weil sie zeigt, vor welcher Herausforderung wir stehen - nicht nur außenpolitisch in Reaktion auf Putins verbrecherischen Angriffskrieg, sondern auch in unserer Reaktion auf den Klimawandel. Diese gigantischen Herausforderungen lassen sich nicht dadurch bewältigen, dass man an den Erfindergeist der Wirtschaft appelliert. Die Zahlen sind so gigantisch, dass ohne massive Investitionen niemals die nötigen Skalen in dem notwendigen Zeitrahmen erreichbar sind. Wir brauchen eine Transformation, die sich nicht im Rahmen von fünf oder sechs Jahrzehnten vollzieht, sondern in weniger als der Hälfte dieser Zeit. Es ist völlig naive Traumtänzerei anzunehmen, das sei anders möglich. Wir brauchen eine realistische Klimapolitik.
9) Wie der Krieg gegen die Ukraine überholte Männlichkeitsbilder wieder hochspült
Der Diskurs brutalisiert sich, auch in Deutschland. Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt schreibt zum Beispiel, dass die deutsche Gesellschaft aufgrund ihrer moralischen Gewissheit und ihrer Schwäche für jemanden wie Putin einfach ein Frühstück sei. Und weiter heißt es: „Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männer-Toilette verteidigt. (..) Unser medial und kulturell dominierendes Menschenbild und auch – ja – das Männerbild sind ein Ausdruck feigen Appeasements gegenüber dem Zeitgeist.“ Ein Ruf nach toxischer Männlichkeit: Männer dürfen keine Schwäche zeigen, sondern müssen hart sein. Sie müssen ihre Gefühle wieder unterdrücken, und den Konflikt im Ernstfall durch Gewalt lösen. Eine Position, für die AfD-Politiker Björn Höcke 2016 noch scharf kritisiert wurde, scheint gerade zum gesellschaftlichen Konsens zu werden. Damals rief Höcke: „Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur, wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft und wir müssen wehrhaft werden!“ [...] Klar. Staubsauger und Gendersternchen zersetzen die Kriegsmoral! Diese Diskursverschiebung zu mehr Männlichkeit hat politische Folgen. Wir müssen aufrüsten, stark werden, sagt auch der heldenhafte, deutsche Kriegsreporter Paul Ronzheimer im Bild-Talk: „Ich glaube tatsächlich, dass wir zu schwach waren in den vergangenen Jahren und dass wir gewissermaßen auch jetzt noch zu schwach sind in unserer Antwort.“ [...] Es schmerzt, dass Konservative den Krieg für ihre Agenda missbrauchen und Feminismus und Progressivität diskreditieren. Und dass die alten Männlichkeitsbilder, egal ob heldenhafter Kämpfer, tapferer Kriegsreporter oder der junge Patriot, wieder hochgespült werden. Umso wichtiger, dass es Menschen gibt, die darauf hinweisen, dass schreckliche Fernsehbilder und ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg noch keine Gründe dafür sein müssen, Männer darauf vorzubereiten, für nationalstaatliche Interessen zu töten und zu sterben. (Ferdinand Meyen, BR)
Diese Machohaltung, wie sie gerade Poschardt und andere gerade aus den sicheren, warmen Redaktionsstuben heraushängen, ist ebenso lächerlich wie ärgerlich. Ronzheimer begibt sich ja wenigstens ins Kriegsgebiet und riskiert was. Aber mein Punkt ist ein anderer, der vom obigen Artikel nicht angesprochen wird: Es gibt diesen konstruierten Widerspruch zwischen Krieg und progressiven Werten einfach nicht. Man kann auch für die Freiheit des Gendersterns in den Krieg ziehen. Warum sollte jemand, der geschlechtergerechte Sprache verwenden, weniger "hart" sein als jemand, der ihn wie die Springer-Journalist*innen ablehnt? Das hat doch nicht das geringste miteinander zu tun! Dasselbe gilt für feministische Werte. Und so weiter. Dieser ganze Gegensatz ist kompletter Unfug; da nutzen Leute wie Poschardt die furchtbare Lage in der Ukraine für ihre identitätspolitischen Schlachten. Das ist genauso verachtenswert wie wenn andere Leute jetzt die Ukrainekrise für ihre bevorzugten Politiken oder kulturkämpferischen Episoden hernehmen.
10) Die Linke und Putins Krieg
In allen zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre hat sie es nicht mehr geschafft zu vermitteln, wofür sie eigentlich steht – egal ob es um Flucht und Migration, die Klimapolitik, Minderheitsschutzrechte, Corona oder nun den Ukrainekrieg geht. Angeführt von Sahra Wagenknecht gab und gibt es stets einen höchst öffentlichkeitswirksamen Flügel, der Parteibeschlüsse konterkariert und damit de facto belanglos gemacht hat. [...] Die alte und die neue Parteiführung haben es zugelassen, dass Kronzeug:innen aus den eigenen Reihen fälschlich, aber systematisch behauptet haben, die Linkspartei sei eine Ansammlung von „Lifestyle-Linken“, die sich nicht mehr für die „einfachen Leute“, für Arbeiter:innen und Rentner:innen, interessierten. Sie haben es zugelassen, dass Wagenknecht & Co demagogisch die soziale gegen die ökologische und die bürgerrechtliche Frage ausspielen. So verlor und verliert die Linkspartei nach allen Seiten. Und jetzt kommt auch noch die Friedensfrage dazu, auf die die alten Antworten nicht mehr gegeben werden können. [...] Um eine Grundsatzdiskussion über ihre Friedenspolitik wird die Linkspartei nicht herumkommen können. In der Vergangenheit mündete der Zoff auf Parteitagen allerdings stets in windigen Formelkompromissen. Und wenn gar nichts mehr ging, wurden halt irgendwelche Sätze aus dem Erfurter Grundsatzprogramm von 2011 recycelt. Das wird nach dem Überfall auf die Ukraine nicht mehr reichen. Die Welt hat sich verändert. Die Linkspartei muss es auch tun. (Pascal Beucker/Stefan Reinecke/Anna Lehmann, taz)
Die ausführliche Analyse der LINKEn, die ich in ihrer gänzlichen Lektüre nur ans Herz legen will, ist völlig zutreffend. Die Partei hat sich völlig verrannt. Ich habe das auch in den letzten Jahren und besonders vor der Bundestagswahl immer wieder betont: die außenpolitische Haltung der Partei macht eine Koalition auf Bundesebene unmöglich. Dieser Versuch seitens der CDU und FDP, das Gespenst einer rot-rot-grünen Koalition an die Wand zu malen, war von Anfang an absurd, nicht einmal die SPD war so blöd, sich darauf einzulassen. Vielleicht kann die LINKE diesen Konflikt lösen und sich neu aufstellen. Wahrscheinlicher scheint mir, dass sie das zerreißt. Good riddance.
Ich habe zum Artikel aber noch eine kleine stilistische Kritik: Gibt es eigentlich überhaupt noch eine Partei, die es geschafft hat, "zu vermitteln, wofür sie eigentlich steht" oder ist das nur noch eine belanglose Phrase? Ich frage das ernsthaft. Es ist so ein Satz, den man ständig liest, in den verschiedensten Kontexten (in letzter Zeit war es meistens die CDU), und auch in Umfragen sagen die Leute ständig, dass sie nicht wüssten, wofür die Parteien stehen würden, aber mein Gefühl ist, dass das nur noch ein Klischee ist.
Resterampe
a) Sehr nützlich ist dieser (englischsprachige) Glossar militärischer Fachbegriffe mit Praxisbeispielen aus dem Ukrainekonflikt.
b) Großartiges Beispiel dafür, wie zersetzend der Bothsiderismus ist.
c) Dieses ausführliche Porträt von Putins Regentschaft ist sehr lesenswert, gerade für die frühen, hoffnungsvolleren Jahre.
d) Während Scholz Waffenlieferung an die Ukraine blockiert, ist es Habecks Wirtschaftsministerium, das jetzt ermöglicht hat, dass die Ukraine Waffen direkt bei den Herstellern kauft.
e) Interessante Übersicht über die Ablehnung französischer Präsidentschaftskandidat*innen. Macron ist quasi der Olaf Scholz Frankreichs.
f) Die Geschwindigkeit mit der Julian Reichelt völlig abdreht ist bemerkenswert. Dass der Mann die größte Zeitung Deutschlands jahrelang geleitet hat, macht echt Angst.
g) Ein absolut faszinierender Blick in den Prozess der Entwicklung von Sozialwohnungen.
h) Übermedien hat was zu der Überlappung rechtskonservativen Feuilletons à la Welt und Faz, Poschardt und Reichelt, mit Putin, von dem Tini, Ariane und ich ja auch im Podcast sprachen.
i) Da sie die Homo-Ehe nicht angreifen können, spielen Republicans jetzt über Bande und versuchen Sprachverbote zu institutionalisieren.
j) Wo wir gerade dabei sind: auf FOX News drohen sie explizit damit, im Falle eines Wahlsiegs Disney das Copyright für ihre Werke zu entziehen und den Staatsapparat gegen sie einzusetzen, weil ihnen die politische Meinungsäußerung nicht passt. So viel zu dem Thema. Das ist Putin-Level.
k) Christina Schröder rutscht immer weiter ins Extrem ab. Leider sehr vorhersehbar.
l) Merz wird selbst in der FAZ für seine Herabwürdigung von Baerbock kritisiert. Told you so.
m) Ich habe kein einzelnes Zitat für diesen großen Artikel zum "neuen Eisernen Vorhang" von Jeremy Cliffe, daher einfach der Link.
n) Nochmal Friedrich Merz: der bezeichnet die Bundeswehr als "dysfunktionale Armee" und die Leute, die bei von der Leyen und AKK ganz laut aufgeschrieen haben, sind merkwürdig still ob dieses Generalverdachts.
o) Falls mal wieder jemand einen Beweis für illegale Pushbacks bei Frontex braucht, oder dass es bei der Eurodebatte nie um das Einhalten von Verträgen ging.
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