Freitag, 1. April 2022

Bücherliste März 2022

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Gangsters of Capitalism, Hitlers Imperium, Calvin and Hobbes, Kasten

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Green Deal

BÜCHER

Jonathan M. Katz – Gangsters of Capitalism (Hörbuch)

Jonathan Katz‘ „Gangsters of Capitalism“ hat einigen Wirbel verursacht und wurde mit zahlreichen positiven Kritiken besprochen; der Autor war auch in einer Folge von „Why is this happening“ zu Gast, wo er einen Teil des Buchs mit Chris Hayes diskutiert. Ich sage hier bewusst „einen Teil“, weil ich vom Podcast und auch anderen Besprechungen den Eindruck hatte, dass das Buch vor allem als Biografie Smedley Butlers zu verstehen ist und anhand seines Lebens diese Epoche des amerikanischen Kapitalismus‘ nachvollzieht, doch das ist nicht ganz korrekt. Katz ist die Stationen von Butlers Leben nachgefahren und erforscht im journalistisch-essayistischeren Teil des Buchs die Gegenwart von diesen Stationen Butlers Wirkens. Das macht das Buch eher besser als schlechter. Aber der Reihe nach.

Smedley Butler war ein Marine, der seinen ersten Kriegseinsatz im zarten Alter von 16 Jahren (er log bei bezüglich seines Alters) im amerikanisch-spanischen Krieg bei der Eroberung Kubas erlebte und seither eigentlich keinen kriegerischen Konflikt ausließ, ehe er 1928 zum letzten Mal zum Einsatz kam. Der mit zahlreichen Medaillen ausgezeichnete Kriegsheld ist einer der Säulenheiligen Quanticos, ein Vorbild für viele Marines bis heute. Gleichzeitig ist er aber auch ein von Linken gerne zitierter Kritiker des Imperialismus: in den 1930er Jahren erlebte er eine wahre Sinnkrise, schrieb mehrere Bücher (unter anderem „War is a Racket„), bezeichnete sich in einer berühmten Rede als einen „Racketeer for Capitalism“ (wovon sich auch Katz‘ Titel des etwas zeitgenössischeren „Gangsters“ ableitet, der sich auf das ganze Marine Corps bezieht) und verhinderte quasi im Alleingang einen Putsch von Rechtsextremisten und Businessleuten gegen Roosevelt 1933. Ein bewegtes Leben, wahrlich.

Katz folgt Butlers Biografie von den Anfängen im Krieg gegen Spanien 1898 bis in die 1930er Jahre, aber er nutzt sie mehr als Aufhänger fü ein wesentlich ambitionierteres Programm, weswegen ich vom journalistischen Teil sprach. Während Katz‘ intensive Forschungen sich in der Qualität und Tiefe der historischen Betrachtung deutlich bemerkbar machen – der Autor recherchierte über fünf Jahre in Archiven und las sich offensichtlich gewaltige Wissensbestände an – befasst sich ein guter Teil des Buches damit, wie diese Orte heute aussehen und welche Langzeitfolgen das Engagement der USA dort hatte.

Die Struktur des Buches schwingt daher zwischen biografischer Geschichtserzählung (und auch auf die Gefahr hin, dass wir die olle Diskussion wieder aufmachen, es ist trotz der extensiven Recherche eine Geschichtserzählung, während Brockschmidt etwas ganz anderes unternommen hat) auf der einen Seite und der journalistischen Berichte Katz‘ selbst, der diese Orte besucht und mit Menschen vor Ort spricht. Letzteres gleitet teilweise etwas ins Alberne ab, wenn Katz etwa versucht, einen nächtlichen Boot-Trip Butlers über eine philippinische Bucht nachzuvollziehen, nach dem dieser einen Nervenzusammenbruch erlitt, nur um festzustellen, dass er (Katz) sich nicht in seinen (Butlers) Kopf versetzen kann. Es sind solche Albernheiten, die angelsächsischen Geschichtsforscher*innen ihren schlechten Ruf in der deutschen Geschichtswissenschaft einbringen.

Auf der anderen Seite ist diese Struktur sehr flüssig geschrieben und macht das Buch unglaublich unterhaltsam, was man bei der Thematik nicht vermuten sollte. Die Zeit vergeht bei der Lektüre wie im Flug, und Katz findet einen hervorragenden Rhythmus im Wechsel zwischen den Passagen von vor 100 Jahren, in denen Butler als „Gangster“ im Dienst des Kapitalismus agiert, und heute, wo viele dieser Länder die Geschehnisse von damals, in den USA längst verdrängt, als Gründungsmythen neu inszenieren und sich gegen die USA stellen.

Und das ist die eigentliche, halb verdeckt laufende Linie von Katz‘ Buch. Es ist eine längst überfällige Aufrechnung mit der eigenen Vergangenheit, der sich auch etwa Großbritannien, Belgien oder Frankreich bisher nur höchstens unvollständig stellen. Im Interesse geradezu lächerlich spezifischer und kleiner Wirtschaftsinteressen (worüber sich bereits Butler in seinem ersten politischen Moment 1909 in einem Brief an seine Mutter echauffiert) werden amerikanische Soldaten in ferne Länder geschickt und richten ungeheuere Bluttaten an.

Der Krieg gegen Spanien 1898 führt zum ersten Erwerb von Kolonien, aber er weckt eigentlich erst den Appetit der USA. In einem mehrjährigen, blutigen Krieg, der in einer Ära ohne Luftwaffe fast eine Dreiviertel Million ziviler Opfer kostet, werden die Philippinen unterworfen (was eigentlich nur gelingt, weil der philippinische Präsident viel zu lange Feldschlachten schlägt und zu spät auf Guerillakriegsführung umschwenkt, womit die USA in Südostasien noch so ihre Erfahrungen machen werden). Amerikanische Marines schlagen mit den Boxeraufstand nieder und führen sich in Honduras, Nicaragua, Panama und Bolivien auf, als wären sie die Herrscher dort.

Diese weitgehend vergessene Geschichte ist das eine; sie gewinnt ihre pointierte Bedeutung aber in den Besuchen des heutigen Katz, der etwa den Ort eines Massakers der amerikanischen Truppen in den Philippinen besucht und dort Zeuge eines Reenactments wird, in dem die Philippinos nachspielen, wie US-Soldaten Frauen vergewaltigen und Alte bajonettieren, ehe sie mit Begeisterung mit Macheten auf die Invasoren losgehen und sie in Stücke schlagen, oder wenn er in China ein Museum besucht, in dem die Niederschlagung der Boxer als gewaltige historische Lektion für Generationen chinesischer Schulkinder aufbereitet wird, dass man ein starkes Militär brauche, das gegen die USA bestehen kann. Oder wenn er in Nicaragua die Propaganda des örtlichen Diktators beschreibt, der sich vor allem dank eines stets mehrheitsfähigen Anti-Amerikanismus an der Macht hält – ein Anti-Amerikanismus, der angesichts der Geschichte des Landes leider wohl begründet ist.

Generell fällt auf, dass die rassistische Unterscheidung in „zivilisierte“ Staaten, die eine völkerrechtlich kodifizierte Behandlung verdienen, und „unzivilisierte“ Staaten, gegenüber man ungebunden ist, so zeittypisch sie auch war, für die Betroffenen verheerende Effekte hatte. Die von Lady Liberty ausgesandten Dough Boys haben genauso wenig Inhibitionen, Massaker zu verüben, wie Leopolds Privatarmee im Kongo oder die mörderische Truppe von Trothas in Namibia. Die Verbrechen, die die amerikanischen Soldaten verüben, sind in ihrer Regelmäßigkeit und in ihrem Umfang einfach nur schockierend.

Genauso schockierend ist, wie es zu den Invasionsentscheidungen kommt. Wer auch nur die geringste Berührung mit Kolonialismuskritik hatte, dürfte beim Namen „United Fruit“ aufstehende Nackenhaare bekommen, aber die Geschäftsinteressen, die in den USA die Politik bestimmen, sind von einer ganz eigenen Qualität und werden von Katz sehr gut nachgearbeitet. Auffällig ist auch der Export des amerikanischen Rassismus‘; nicht nur werfen Butler und die Politiker mit rassistischen Begriffen um sich, sie löschen die Leistungen schwarzer Soldaten und örtlicher Verbündeter aus der Geschichtsschreibung und segregieren die Länder, die sie erobern, nach amerikanischem Vorbild. Die Folgen dieser Politik prägen die Gesellschaft dieser Staaten bis heute und hinterließen ein jahrzehntelang wirkendes, giftiges Erbe – wie auch in den USA selbst, die immer noch mit diesem Erbe ringen und das wohl angesichts der Radikalisierung der Konservativen und der Zentralität des Rassismus für die Bewegung noch für Jahrzehnte tun werden.

Ebenso auffällig ist, wie die Namen Roosevelt, Mahan und Hoover zusammen mit dem Butlers durch die Jahrzehnte gleiten. Herbert Hoover, der spätere US-Präsident, war finanziell an zahlreichen der zwielichtigen Operationen beteiligt. Dasselbe gilt für die Familie Roosevelt, die gleich zwei relevante Präsidenten dieser Ära hervorbrachte. Und die epochale Bedeutung Mahans sollte allen, die sich für die Zeit interessieren, geläufig sein. Roosevelts Außenpolitik in den 1930er Jahren war, an der wenig beachteten kolonialen Peripherie, dementsprechend auch bei weitem nicht so progressiv wie im Inland. Er betrachtete sich selbst stets ohne Scham als Imperialisten.

Doch die USA stürzten nicht nur Regierungen in Mittelamerika und im Pazifik, um die Interessen der Großunternehmen durchzusetzen. Sie führten auch neue Ordnungssysteme ein, die diese Länder auf Jahrzehnte belasteten – das bereits erwähnte toxische Erbe dieser Politik. Wohin die Marines zogen, folgte ihnen die Segregation und spaltete Gesellschaften, oft zum Punkt von Bürgerkrieg und Genozid in den folgenden Jahrzehnten. So zwang Butler nicht nur Haiti dazu, eine neue Verfassung einzuführen, die amerikanischen Geschäftsleuten Zugang zu den Plantagen gab – indem er mit einigen Marines und den Waffen im Anschlag das Parlament zur Demission zwang – und war so direkt verantwortlich für das furchtbare folgende Regime von Papa Doc, sondern gründete auch die erste Guardia National, eine militarisierte Polizei, die mit liberaler Gewaltanwendung die Kontrolle für die kapitalistischen Interessen aufrecht erhielt.

Dies führte in den USA zu einem Skandal, als diese kolonialen Methoden im Inland angewendet wurden. In den 1920er Jahren war Butler für eine Zeit lang Polizeichef von Philadelphia, und er strukturierte die Polizei als erste in den USA auf eine Weise, die uns heute bekannt vorkommt. Er trainierte sie in der kolonialen Sichtweise, erst zu schießen und dann meist nicht zu fragen, die Anwohner*innen als Feinde zu betrachten und die Minderheiten zu unterdrücken. Dieses Vorbild würde sich weit über die USA hinaus ausbreiten, auch wenn Butler selbst – der es sich mit der republikanischen korrupten „Maschine“ der Stadtpolitik verscherzte, als er auch gegen reiche Verbrecher vorging – nicht mehr involviert war.

Er selbst war aber mittendrin, als die kolonialen Methoden zum ersten Mal gegen Seinesgleichen angewandt wurden: als die betrogenen Veteranen des Ersten Weltkriegs 1933 nach Washington marschierten, um ihre Bonuszahlungen einzufordern, schoss das amerikanische Militär sie brutal zusammen – mit den eingeübten Methoden der Unterdrückung in den amerikanischen Kolonien. Den Zeitgenossen war das zutiefst bewusst, denn sie beschwerten sich lautstark darüber, so behandelt zu werden wie Menschen in „Bananenrepubliken“ – und unter denen, die sich lautstark beschwerten, war auch Butler.

Abgesehen von seinen irrlichternden Versuchen, seinen Ruhm zu Geld machen, endet damit Butlers Geschichte in den 1930er Jahren. Die Verschwörung gegen Roosevelt, die er aufdeckte, wurde nie ernsthaft verfolgt – zu gut vernetzt waren die reichen Interessen. Die Parallelen zum 6. Januar 2021 allerdings sind unübersehbar, und eine wenngleich gewundene Linie führt von den Gewalttaten der kolonialen Epoche der USA bis in die Gegenwart, ob für die „Bananenrepubliken“ oder die Vereinigten Staaten selbst.

Manchmal geht mir Katz hier mit seiner Linienziehung etwas zu weit, setzt Ereignisse zu sehr gleich und konstruiert arg simplifizierte Kontinuitäten; es ist in diesen Momenten, wo die journalistischen Instinkte klar über die des Historikers gewinnen. Aber das Buch bleibt insgesamt ungemein wertvoll, schon allein, weil es eine weitgehend vergessene – oder verdrängte – Epoche der Geschichte behandelt, die gleichzeitig aber ungemein wichtig für das Verständnis der heutigen Welt ist. Denn die Völker am receiving end des amerikanischen Imperialismus erinnern sich sehr gut.

Mark Mazower – Hitlers Imperium (Mark Mazower – Hitler’s Empire)

Das 2009 erschienene „Hitlers Imperium“ des britischen Historikers Mark Mazower beschäftigt sich mit der Frage der Verwaltung der von den Nazis eroberten Gebiete. Untrennbar mit diesem Thema ist stets die Frage nach dem Potenzial verbunden, das das Deutsche Reich besaß, diesen Krieg tatsächlich zu gewinnen. Denn von der Ausbeutung der Ressourcen des unterworfenen Europa hing alles ab; sie war das explizite Ziel des Krieges, elementar als „Lebensraum“ in die NS-Ideologie eingebunden. Bekanntlich gelang es den Deutschen nur in sehr eingeschränktem Maße, ihre Ziele zu erfüllen. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex; sie reichen von praktischen Herausforderungen über Inkompetenz zu ideologischen Einschränkungen. In Letzteren sieht Mazower wieder und wieder den eigentlichen Grund für das immanent notwendige Scheitern der Nazis in ihren Absichten.

Das erste große Kapitel, das fast die Hälfte von Mazowers Werk einnimmt, befasst sich mit der Eroberung und Unterwerfung des Ostens zwischen 1939 und 1942. In dieser Zeit stürmte die Wehrmacht über Osteuropa, dicht gefolgt von Einsatzgruppen und SS, die den größten organisierten Völkermord aller Zeiten begannen. In dieser tödlichen Logik sehen wir auch von Anfang an die Probleme. Mazower zeichnet die Debatten nach, die in den verschiedenen, disparaten Machtzentren des chaotischen NS-Staates auftraten. Dieses Chaos war ebenfalls in die Ideologie eingebunden; es sorgte für Unklarheit, Kompetenzüberlappungen, Machtkämpfe, förderte Inkompetenz und sorgte für ständige Reibungen. Ich habe darüber schon vor Jahren geschrieben.

Diese Machtzentren, deren tatsächlicher Einflussbereich sich praktisch täglich ändern konnte, je nachdem, wer gerade das Vertrauen des „Führers“ errang oder seinen Phlegmatismus ausnutzen konnte, waren unter anderem: Hermann Görings Mammutbehörde für den Vierjahresplan; das Reichswirtschaftsministerium; die Reichsernährungsbehörden; das Innenministerium; das Außenministerium; die SS; der Generalgouverneur des „Warthegau“, Hans Frank; die verschiedenen Stäbe der Wehrmacht; die NSDAP; das Ostministerium unter Alfred Rosenberg und Hitler selbst.

Selbst innerhalb dieser Institutionen gab es erbitterte Richtungsstreitigkeiten. Die Ziele waren dabei völlig unvereinbar. Rosenberg etwa versuchte, nationale Aufstände gegen die Sowjetherrschaft auszunutzen und Deutschland als Hegemon zu etablieren, während Himmler und seine SS die „niederen Rassen“ völlig unterwerfen und zu guten Teilen auslöschen wollten. Versuche des Innenministeriums, die Verwaltung zu vereinheitlichen, stießen auf erbitterten Widerstand von SS und NSDAP, die aber wiederum völlig unterschiedliche Ansätze verfolgten. Völlig korrupte Gauleiter, oft genug genauso inkompetent wie korrupt, besaßen Vollmachten, die sie jederzeit unter Berufung ihres Status als Nazis der ersten Stunde bei Hitler behaupten konnten. Und so weiter.

Auch die praktischen Ziele der Politik liefen gegen- und übereinander. Von Beginn an versuchte die SS, das Vernichtungsprogramm in Gang zu bringen, aber der ebenso inkompetente wie radikale Himmler schuf damit massenhaft Probleme für diejenigen, die mit der Umsetzung wenigstens mittelbar betraut waren. Das Dritte Reich improvisierte sich von Lösung zu Lösung, Anweisung für Anweisung auf dem Pfad des Holocaust entlang, dessen ideologischer Primat völlig quer zu den Erfordernissen der Kriegswirtschaft stand. In epischem Maßstab wiederholte sich dieses Muster beim Angriff auf die Sowjetunion, bei dem Millionen von Menschen ermordet wurden (meist durch Hunger und Vernachlässigung), die bereits drei Monate später als Arbeitskräfte dringend gebraucht würden.

All diese Konflikte zeichnet Mazower in erschöpfendem Detailgrad nach. Kompetenzstreitigkeiten noch und nöcher, Machtkämpfe unter den Satrapen, ideologische Grabenkämpfe, und all das in einem beginnenden Weltkrieg, der sich mit jedem Monat mehr gegen Deutschland wandte. Man hat immer wieder das ungute Gefühl, einer Art schwarzer Komödie beizuwohnen, aber angesichts der Millionen von Toten und noch viel mehr Millionen zerstörter Existenzen kann kein Gefühl der Erheiterung aufkommen. Das ganze Ausmaß der Inkompetenz der Nazis ist aber immer wieder bemerkenswert.

Mazower zeichnet auch nach, wie die Nazi-Besatzungspolitik funktionierte, wo denn eine solche unternommen wurde (und nicht nur wie in Osteuropa Todesräume geschaffen wurden). Dies betrifft vor allem die Benelux-Staaten, Frankreich, Dänemark und Norwegen. Der Kontrast ist gewaltig. Während auch hier Kompetenzchaos herrscht, ist doch allgemein die Auffassung vorherrschend, dass die Kooperation mit den lokalen Behörden und eine leichtere Hand notwendig sind. Wo die Nazis am wenigsten Gewalt anwandten – in Dänemark – erzielten sie besten Ergebnisse, wo sie sich verhältnismäßig am stärksten einmischten – in Frankreich – die schlechtesten.

Mazower zeigt, wie problemlos die Kooperation mit den bestehenden Verwaltungen und Regierungen war. Die betroffenen Länder wollen das heute zwar nicht mehr wissen – besonders Frankreich und Holland malen geradezu aggressiv eine Résistance-Mythologie darüber – aber ohne diese willige Kollaboration hätte weder die NS-Kriegswirtschaft noch der Holocaust in den betreffenden Ländern funktioniert. Mazower wirft auch den Blick auf das, was er „Ersatzdiplomatie“ nennt: den Umgang mit den unterworfenen und verbündeten Nationen, wobei die Nazis wenig Unterschied zwischen beidem machten. Hitlers Weigerung, Diplomatie und Politik in irgendeinem nützlichen Sinn zu betreiben und eine „Gegen-Atlantikcharta“ zu formulieren, ja, das explizite Verbot an die Dienststellen, auch nur über so etwas nachzudenken, zeigt den Herrschaftswillen der Nazis, dem sich alles zu unterwerfen hatte. Auf dieser Basis konnte niemals Frieden und Nachbarschaft möglich sein, und wenig überraschend begannen 1942/43 auch Absetzbewegungen aller Verbündeten.

Mazower lässt diese aber nicht vom Haken sondern untersucht in einer kurzen Vergleichsstudie, wie deren eigene Besatzungsregime aussahen. Die Italiener erzählten sich zwar nach dem Krieg gerne den Mythos von der sanfteren italienischen Besatzungspolitik, viel dran war da aber nicht. Und die Gewalt etwa Rumäniens in ihrer Besatzungszone „Transnistrien“ schockte die SS, die sich über die übermäßige Gewalt beklagte.

Dominiert allerdings wird die Besatzungspolitik am Ende immer von der „Endlösung“. Mazower zeichnet deren Genese aus den Kompetenzkämpfen der verschiedenen Behörden nach und zeigt, wie der eigentliche Plan entstand. In diesem Bereich leistet er wenig Neues, aber die Zusammenfassung ist immer willkommen, und der Fokus auf dem Behördenchaos und den Eifersüchteleien ist erhellend. Das Bestreben der SS, die „Endlösung“ durchführen zu können, hat mindestens so sehr mit der Hoffnung auf Machtzuwachs zu tun wie mit ideologischem Eifer: die Ausrottung der Juden in Europa ist ein bürokratisches Megaprojekt, und die Institution, die den Zugriff darauf bekommt, bekommt Personal, Mittel und – vor allem – Kompetenzen. Der Konflikt um eben diese Kompetenzen ist es, der dann am Wannsee entschieden wird. Die Frage, ob man ein solch verbrecherisches Programm auflegen will, spielte da keine Rolle.

Wesentlich kontroverser dürften die folgenden Kapitel sein, in denen sich Mazower Westeuropa zuwendet. Zuerst skizziert er die wirtschaftliche Bedeutung der unterworfenen Länder und zeigt auf, wie die deutschen Besatzungsbehörden mit vergleichsweise sachter Hand agierten, um die bestehenden Systeme nicht zu sehr zu stören und so ein Maximum aus den besetzten Gebieten zu holen (selbiges Maximum war sehr, sehr bescheiden, aber diese Analyse findet sich beim brillanten Adam Tooze). Doch all das wäre ohne die bereitwillige Kollaboration der westlichen Länder nicht möglich gewesen.

Diese Kollaboration, die in den meisten dieser Länder nach wie vor sehr unzureichend aufgearbeitet und von einem heroischen Résistance-Mythos überkleistert ist, analysiert Mazower im dreizehnten Kapitel vor allem am Beispiel Frankreichs. Spannend ist hier nicht nur, dass es die Deutschen schaffen, das Land mit gerade einmal 2000 eigenen Leuten zu verwalten, weil die französische Bürokratie bereitwillig die deutschen Forderungen umsetzt, sondern wie Vichy es anstellt, die eigene Souveränität so lange wie möglich zu erhalten, indem es den Eiertanz dieser Kollaboration aufführt. Je weiter der Krieg voranschreitet, und je schlechter er für Deutschland läuft, desto unwilliger wird diese Kollaboriation, und desto mehr Leute wechseln die Seiten zur Résistance.

Besonders bemerkenswert ist aber, wie wenig die Deutschen mit dieser Bereitwilligkeit machen. Hitler lehnt es stets ab, eine enge Zusammenarbeit mit Vichy einzugehen, weil in seinem Europa nur brutale Dominanzstrukturen vorstellbar sind. Die französische Rechte, begeistert über den deutschen Einmarsch und sich brutal an ihren linken Gegnern rächend, beginnt sich selbst in einem Fraktionskampf zu zerreißen, der bis an den Rand des Bürgerkriegs führt (und vermutlich nur vom alliierten Einmarsch gestoppt wird). Der Sieg der französischen Rechten über ihre republikanischen Gegner ist total, und dass die Deutschen nicht in der Lage sind, das auszunutzen, zeigt einmal mehr die Schwäche des ganzen nationalsozialistischen Ideologiesystems.

Natürlich ist der französische Fall ein Klacks gegen das Wegwerfen von Chancen und Möglichkeiten in Osteuropa. Mazower untersucht auch die polnische Kollaboration. Zwar erzählt sich Polen den Mythos, dass es keine solche gegeben hätte. Aber die Verwaltung hat auch in Polen viel zu wenig Personal, um das ohne örtliche Hilfe zu schaffen. Es gab genug Polen, die mehr als bereit waren, unter deutscher Vorherrschaft an einem anti-bolschewistischen Kreuzzug teilzunehmen. Aber jeder Ansatz in diese Richtung scheiterte an Hitlers Fanatismus und seiner unbedingten Weigerung, mit irgendjemandem irgendwie zusammenzuarbeiten. Aus seiner Sicht gab es nur totale Unterwerfung. Kein Wunder, dass, sobald das allen Beteiligten klar war, sich massiver Widerstand regte.

Generell ist es faszinierend, dass die Nationalsozialisten erst um 1942/43 herum verstanden, dass sie viel zu wenig Personal hatten, um ihr zusammenerobertes Imperium selbst zu verwalten. Angesichts der Tatsache, dass Hitler stets bewundert hatte, mit wie wenig Personal die Briten ihr eigenes Kolonialreich verwalteten, wäre doch anzunehmen, dass er sich einmal die Frage gestellt hätte, warum das so ist. Aber offenkundig erklärte nicht nur er, sondern die gesamte deutsche (nicht nur: NS-)Elite sich das mit rassischen Überlegenheitsfantasien.

Überhaupt, die Rassefantasien. Als der Krieg sich gegen Deutschland wandte, begann ausgerechnet Himmlers SS mit Feuereifer, rassische Kategorien aufzuweichen und sich (natürlich falsch verstanden) an k.u.k.-Modellen zu orientieren. Die Waffen-SS wurde zu einer multiethnischen, multinationalen Söldnertruppe, und vom Import von Millionen Sklaven aus dem besetzten Europa, die Deutschland zum ersten Mal zu einem wirklich multiethnischen Land machten (wenngleich natürlich mit scharfer Apartheid) sei einmal ganz abgesehen. Das NS-Regime konterkarierte seine eigenen ideologischen Ziele, was es dann durch umso verschärfte Radikalität auf anderen Feldern, etwa beim Holocaust, wettzumachen versuchte. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so bitternernst wäre.

Und zum Lachen war es den Leuten nicht. Denn die andere Seite der Medaille der Kollaboration ist die des Widerstands. In den besetzten westlichen Gebieten begann er vor allem ab 1943 ernsthaft, allerdings weit weniger in Form der später mythisch überhöhten Sabotageakte und direkten Angriffe durch tapfere Résistance-Kämpfer*innen als vielmehr im Blockieren von Anordnungen und Lieferungen. Wesentlich gewalttätiger war einerseits der Widerstand im Osten. Ohne Chance auf Kollaboration blieb den Unterworfenen oft nur der Widerstand, und ab 1942 rief die Sowjetunion gezielt zur Partisanentätigkeit hinter den deutschen Linien auf. Auch in Jugoslawien und Griechenland war der Widerstand um ein Vielfaches gewalttätiger als in Westeuropa.

Die Reaktion der Deutschen darauf bestand in blanker, erbarmungsloser und unterschiedloser Gewalt. Die offiziellen deutschen (!) Zahlen in Belarus etwa sprachen von 73 toten Belarussen für jeden toten Deutschen; die reale Zahl dürfte noch um ein Vielfaches höher liegen. Zehntausende wurden ermordet, Dörfer eingeebnet. Das stärkte auf Dauer die Partisanen, da die Menschen keinen anderen Zufluchtsort mehr hatten.

Aber die Deutschen handelten nicht irrational. Die massive, vergeltende Gewalt gegen jedweden Widerstand unterdrückte denselben im Großen und Ganzen sehr wirkungsvoll – das Gebiet der Sowjetunion stellte da eher die Ausnahme denn die Regel dar. Selbst in Jugoslawien, wo der Partisanenmythos sich besonders hartnäckig hält, waren die Massenmorde, mit denen die Deutschen auf den Widerstand reagierten, in seiner Unterdrückung außerordentlich effektiv. Da das Personal fehlte, um echte Kontrolle über das eroberte Territorium auszuüben, blieb nur diese massive Gewalt – eine Spirale, die sich mit verschlechternder Kriegslage immer schneller drehte.

Während der militärische Wert des Widerstands, wieder mit Ausnahme der Sowjetunion, praktisch bei null lag, kann seine Bedeutung für die Nachkriegsordnung kaum hoch genug geschätzt werden. Mazower verweist darauf, wie in den besetzten Ländern der Widerstand vor allem 1943/44 dazu führte, dass die vorhergehende Kollaborationszeit aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwand und durch das Einheitsnarrativ des Widerstands ersetzt wurde, eine wohl unabdingbare Voraussetzung für das Verhindern zerstörerischer Bürgerkriege, wie sie etwa Griechenland plagten.

Am Ende aber stand dann die unabwendbare Niederlage. Die Zerstörung wandte sich nun auch gegen seine Urheber. Hitlers strategisch kontraproduktive Haltung des „keinen Schritt zurück“ sorgte dafür, dass Polen und Deutschland nun genauso verheert wurden wie vorher die Sowjetunion. Eine Stadt nach der anderen wurde in Schutt und Asche gelegt (während im Westen etwa Paris kampflos aufgab, um genau dieses Ergebnis zu vermeiden; gegen ausdrücklich anderslautenden Befehl Hitlers übrigens). Neben den Massenvergewaltigungen, Plünderungen und Morden, die damit einhergingen, begannen auch sofort die Vertreibungen. Die Staaten Osteuropas wollten auf jeden Fall vermeiden, dass nach diesem Krieg die „Volksdeutschen“ erneut eine 5. Kolonne deutschen Revanchismus würden. Die Folgen für die Bevölkerung waren verheerend.

Mazower thematisiert dies nicht weiter, weil es außerhalb des Rahmens des Buchs liegt, aber ich bin immer wieder fasziniert davon, wie sehr die Jahre 1945-1948/49 aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden sind. Für die meisten Deutschen begann die schlimme Leidenszeit mit dem Ende des Krieges, aber in der „offiziellen“ Erinnerung ist das eine Leerstelle; man springt gerne von der Kapitulation zum Wirtschaftswunder, ohne die Dekade dazwischen, in der das Leben für große Teile der Bevölkerung furchtbar war. Das dürfte gerne mehr thematisiert werden.

In seinem Epilog schließt Mazower mit dem ganz großen Bogen, der gefühlt genug Stoff für ein eigenes Buch ausmachen würde. Er nennt es „Wir Europäer“ und stellt die Frage, welche Europa-Konzeption die Nationalsozialisten hatten und welche anderen Nachkriegspläne es gab. Wenig überraschend sehen wir, dass ab 1943 die NS-Rhetorik sich zunehmend auf „Europa“ beruft. Mazowers These ist, dass hier viel Potenzial bestand, eine anti-bolschewistische europäische Identität zu schaffen (wie es ja dann später auch unter anderen Vorzeichen geschah) und dass der Sieg der politischen Rechten in den 1930er und 1940er Jahren, die in praktisch allen Ländern die Vorherrschaft gewann (spätestens durch den deutschen Einmarsch) hier große Möglichkeiten schuf.

Diese Möglichkeiten waren aber wegen des Nationalsozialismus‘ selbst nicht nutzbar: „Europa“ blieb immer eine Leerstelle in der NS-Ideologie; die Rhetorik hatte keinerlei Inhalt. Hitler konnte sich Europa nicht anders als von Deutschland unterworfen vorstellen. Für ihn gab es keine souveränen Staaten außerhalb Deutschlands, gleichrangige ohnehin nicht. Nach seinem Selbstmord fabulierten einige NS-Funktionäre denn auch davon, ein geeintes, anti-bolschewistisches und föderales Europa zu schaffen und so deutsche Macht zu retten, einer der Gründe, warum der Idee eines förderalen Europas (für das es ja in den 1950er Jahren ebenfalls die Option gab!) auf so viel Misstrauen stieß und zugunsten einer Zusammenarbeit von Nationalstaaten beiseite gelassen wurde: es war gerade die Europa-Rhetorik der Nationalsozialisten, die förderalen Lösungen einen Riegel vorschob. Diese These würde wesentlich mehr Erkundung ermöglichen als nur einen Epilog.

So oder so aber bleibt Mazowers Buch eine sehr wertvolle Lektüre. Ich habe viele seiner Thesen hier natürlich nur ausschnittsartig und unvollständig wiedergeben können. Ich kenne aber kein anderes Werk, das sich mit der Frage deutscher Besatzungs- und Verwaltungsordnung so intensiv und umfassend beschäftigt und dies auch aus europäischer Perspektive tut wie dieses. Unbedingte Empfehlung!

Bill Watterson - Complete Calvin&Hobbes Complete Edition (Hardcover) (Paperback)

Calvin and Hobbes ist zwar vielleicht nicht der berühmteste, aber wohl einer der einflussreichsten Comic-Strips, die je in US-Zeitungen erschienen sind. Zwischen 1985 und 1995 (eine vergleichsweise kurze Zeit für einen solchen Strip) erschien er wöchentlich und zog ein großes Publikum an. Ich hatte bisher keinen großen Bezug dazu. Einzelne Strips oder sogar nur Panels tauchten immer wieder in meinem Orbit auf, als Memes oder auszugsweise in der Timeline. Aber ich hatte mich nie groß damit beschäftigt. Ich hatte es aber immer auf der (stets zu langen) To-Do-Liste, und dieses Jahr habe ich mich entschlossen, diese Bildungslücke endlich zu füllen und meine Comicsammlung mit einer Calvin&Hobbes-Gesamtausgabe zu bereichern.

Ich muss sagen, es war die nicht ganz günstige Anschaffung wert. Ich habe die Strips überwiegend sehr genossen, und das nicht auf diese "milde amüsiert sein"-Art, wie sie etwa "Garfield" oder "Baby Blues" oder was der zahlreichen sonstigen Erzeugnisse der funny pages mehr sind. Stattdessen bietet Calvin&Hobbes meist einen feineren Humor, wenngleich nicht alle Strips diesbezüglich gleich zu betrachten sind.

Worum geht es?

Calvin ist ein sechsjähriger Junge, der davon überzeugt ist, dass sein Lieblingskuscheltier, ein Tiger namens Hobbes, lebendig ist. Er ist sein bester Freund und begleitet ihn fast überall hin (außer in die Schule) und dient meist als teils ironischer, teils auch sardonischer Kommentator des Geschehens. Die Strips folgen einige Leitmotiven, die immer wieder auftauchen und häufig in eine Woche umspannenden Mini-Serien verfolgt werden. Sie folgen dabei den realen Jahreszeiten; Strips, die im Dezember erscheinen, thematisieren Weihnachten, und so weiter.

Die Strips umfassen genretypisch ein sehr überschaubares Repertoire an Charakteren. Calvins namenlose Eltern (Hausfrau und als Patentbeamter arbeitender Vater), den Babysitter Rosalyn, das Nachbarsmädchen Susie, der Schulhofschläger Moe, die Lehrerin Mrs. Wormwood. Die Mehrzahl der Strips enthält auch nur Calvin und Hobbes selbst. Immer wiederkehrende Motive sind Moes Angriffe auf Calvin, Calvins geistige Abwesenheit im Unterricht, sein Terror gegen den Babysitter, sein nie endender Kampf gegen Susie (einerseits, weil sie ein Mädchen ist, andererseits, weil sie sein Spiegelbild ist - gut in der Schule und brav) und seine nie endenden Versuche, nur von Fastfood zu leben und seine Bettgehzeit zu verlängern und sich gegen das Baden zu wehren.

So weit, so normal. Wer aber Comic-Strips haben will, die lustig "die Realitäten" des Elternseins und der Existenz junger Kinder aufs Korn nehmen (sie wollen nicht schlafen, hohoho), der ist mit Formaten wie "Baby Blues" bestens bedient. Zwar gibt es das auch gelegentlich bei Calvin&Hobbes. Aber der Comic hat seine Beliebtheit und Berühmtheit nicht deswegen erlangt, weil er eben diesen harmlosen Humor bedient, sondern weil er tiefgründiger arbeitet.

Ein immer wiederkehrendes Leitmotiv etwa ist Kritik an Kunst und Geisteswissenschaft, die Watterson gerne durch einen parodisierenden Calvin aufs Korn nimmt. Über den wohl berühmtesten Strip mit diesem Thema hatte ich übrigens auch meinen Erstkontakt mit dem Comic. Auch den schwarzen Humor bedient Watterson gerne. Jeden Winter baut Calvin (unrealistisch) elaborierte Schneemänner, die von existentialistischem Nihilismus zu Anspielungen auf die französische Revolution über solchen auf Katastrophenfilme alles beinhalten. Einige Konzepte des SciFi oder der Philosophie werden über Calvins Spiel mit Kartons, die alle möglichen fantastischen Maschinen darstellen, thematisiert. Das Spiel "Calvinball", bei dem Calvin und Hobbes die Regeln on the fly verändern und dessen einzige Regel ist, dass keine Regel zweimal hintereinander angewendet werden darf, führt zu den absurdesten Ergebnissen, ebenso ihr selbstgegründeter Club G.R.O.S.S. (Get Rid Of Slimy Girls), der die Meetingkultur aufs Korn nimmt. Visuell am berühmtestens sind vermutlich die Wagen- oder Schlittenfahrten, in denen Calvin und Hobbes irgendwelche Abhänge hinunterrasen und währenddessen irgendwelche philosophischen Konzepte diskutieren. Zuletzt genannt werden sollten noch die Alter Egos Calvins, etwa Spaceman Spiff, aus dessen Perspektive er seine großen Gegner (Schule und häusliche Pflichten) als gefährliche Planeten fasst, Tracer Bullet, ein Noir-Privatdetektiv, der zum Einsatz kommt um seine Untaten zu verdecken, und Stupendous Man, ein Superheld, der zuverlässig nicht in der Lage ist, Calvin aus brenzligen Situationen zu holen, sondern diese ebenso zuverlässig verschlimmert.

Es ist schwierig, in einer Besprechung wie dieser den eigentlichen Reiz der Comic-Strips zu erklären, denn diese liegt jenseits der reinen Motive und Ploterklärungen. Was mich anzieht ist vor allem die Sprache. Das Vokabular, das Calvin benutzt (und nur er), ist geradezu lächerlich anspruchsvoll. Der Clou ist, dass dieses Vokabular mit der Geisteswelt und dem Horizont eines Sechsjährigen kombiniert wird: Calvin versteht die Welt aus der Sicht eines Kindes, aber er fasst seine Erkenntnisse in das Vokabular eines wohl gebildeten Erwachsenen. Allein aus diesem Gegensatz entstehen wundervollste Kombinationen und viel subtiler, feinsinniger Humor.

Gleichzeitig ist Calvin&Hobbes aber auch ein Blick in die 1980er und 1990er Jahre. Wenig überraschend ist das stark veraltete Geschlechterbild; Calvins Mutter ist eine klassische Hausfrau, sein Vater kann es oft kaum erwarten zur Arbeit zu gehen um dem Stress von zuhause zu entkommen und beteiligt sich null an der Hausarbeit, und so weiter und so fort. Das wird auch von Calvin selbst weder wahrgenommen nocht kritisiert, was angesichts seiner sonstigen Perzeptionsfähigkeiten eine auffällige Leerstelle darstellt. Auch ist das gesamte hier zur Schau gestellte Amerika weiß und suburban, was für das Genre wahrlich keine Ausnahme darstellt, aber ebenfalls nicht ohne seine Probleme ist und von Calvin ebenfalls nie thematisiert wird.

Auffällig für mich war aber der Umgang mit Freizeit und Erziehung, wie er dargestellt wird. Nicht nur verfügt Calvin über gewaltige Zeiten für freies Spiel in der Natur, diese werden auch exzessiv genutzt - und zwar in einem großen örtlichen Radius. Bedenkt man, dass Calvin gerade einmal sechs Jahre alt ist, ist die zur Schau gestellte "geh raus zum Spielen" und seine Reichweite für solches Spiel, ebenso das genutzte Spielgerät, beachtlich. Natürlich wird das für den Strip deutlich übertrieben, aber Watterson fand es offenkundig nur eine Überzeichnung, während es aus heutiger Perspektive keinen Bezug mehr zur Realität hat. Gleiches gilt für die Erziehungsmethoden. Das Verhältnis zwischen Calvin und seinen Eltern einerseits und seinen Autoritätspersonen (Mrs. Wormwood und Rosalyn) andererseits ist sehr viel konfrontativer, als das aus heutiger Perspektive der Fall wäre.

Aus der Meta-Perspektive betrachtet ist es so eine Merkwürdigkeit, dass das Format des wöchentlichen Comicstrips es nie nach Deutschland geschafft hat. Deutschland ist generell kein fruchtbarer Boden für Comics - letztlich kommt kein einziger kulturell relevanter Comic von hier, wir importieren alles aus Dänemark und Italien (Lustige Taschenbücher), Frankreich und Belgien sowie den USA. Aber meines Wissens nach sind auch Comic-Strips keine feste Größe in deutschen Zeitungen und auch nie gewesen. Ich glaube, das sagt etwas über unsere Kultur aus, aber ich bin nicht ganz sicher, was.

Isabel Wilkerson - Caste. The lies that divide us

Der Umgang mit dem Holocaust war und ist für die Deutschen ein schmerzhafter und von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägter Prozess. Von der Weigerung, sich damit zu befassen, zu dem Versuch, eine klare Trennung zwischen einigen wenigen "bösen Nazis" und dem Rest der unwissenden, unbescholtenen Mehrheit zu ziehen bis hin zu dem qualvollen Prozess der Anerkennung, dass Mitwissendenschaft und sogar Mittäter*innenschaft wesentlich weiter verbreitet waren als vorher wahrgehabt dauerte es Jahrzehnte. Der Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen, hat seine blinden Stellen und zwingt uns ständig zur immer wieder neuen Auseinandersetzung. Ich erwähne diese Geschichte deswegen, weil solche Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit und nicht die Regel sind. Dass die ständigen Rufe nach einem Schlussstrich bisher in Deutschland nicht verfangen konnten, ist ein kleines Wunder. Solche Auseinandersetzungen aber sind nicht exklusiv für uns. Großbritannien beginnt langsam, sich mit seiner Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, und die USA führen seit mehreren Jahren einen scharfen Kampf um das Erbe von Sklaverei und Rassismus, der noch in seinem Anfangsstadium steckt. Es ist vor diesem Hintergrund, vor dem man Isabel Wilkersons Buch "Caste. The lies that divide us" gesehen werden muss.

Es gibt zahlreiche Abhandlungen über Rassismus, die sich in einer erschreckenden Geschichte nach der anderen erschöpfen. Wilkerson hat, obwohl sie mehr als genug Geschichten in diesem Kontext zu erzählen hat, eine andere Zielrichtung vor. Sie versucht, ein neues Theoriesystem zu schaffen, um über den Rassismus in den USA, seine Natur und seine Wurzeln nachzudenken. Ihre These: es geht nicht so sehr um Rassismus, sondern um das Schaffen eines Kastensystems. Dazu weitet sie den Blick und zieht das nationalsozialistische Deutschland und das indische Kastenwesen als Vergleiche heran.

Ihre grundsätzliche These ist, dass der (amerikanische) Rassismus nicht nur verstanden werden darf als ein individuelles Element abwertender Haltungen, sondern als die Gesellschaft ordnendes und strukturierendes System. Sie verwendet dazu den Begriff "Kaste". Die Gesellschaft ist in mehrere Kasten unterteilt, denen unterschiedliche Wertigkeiten zugesprochen werden und für die andere Rechte und Gesetze gelten, mal explizit - wie etwa während der Sklaverei oder der späteren Segregationsphase -, mal implizit bei der Benachteiligung von Jobs, den Morden durch die Polizei und vielem mehr.

Der Beginn dieses amerikanischen Kastensystems findet sich im Jahr 1619, als die ersten Sklaven amerikanischen Boden betreten. Es ist also fast so alt wie die angelsächsische Besiedlung des Kontinents selbst. Dieser lange Zeitraum von über 400 Jahren ist es auch, der zu der tiefen Verankerung dieses Kastensystems in der amerikanischen Gesellschaft führte, die zwar von den US-Konservativen harsch bestritten wird, aber geschichtswissenschaftlich eindeutig feststellbar ist. Wilkerson zeichnet die Genese dieses Kastensystems nach, das zu Beginn grundsätzlich noch rechtlich gleichberechtigte schwarze Bürger*innen der Kolonien kannte, aber unter dem vergiftenden Einfluss der Sklaverei zunehmend zu einer biologisch begründeten Kastenordnung überging, die in den 1700er Jahren fest installiert war und selbst freien Schwarzen keinen gleichen Status zuerkannte.

Aus diesem System heraus bildeten sich zahlreiche soziale Konventionen und institutionelle Normen, die zu guten Teilen bis in die heutige Zeit überdauert haben. Anhand von Praxisbeispielen führt Wilkerson eine theoretische Unterfütterung ein, unter anderem "Die Acht Säulen der Kaste" und zahlreiche Wirkungsmechanismen. Dabei zieht sie immer wieder den Vergleich zum Nationalsozialismus einerseits heran, in dem ein neues Kastensystem aus dem Boden gestampft wurde, das auf einem übersteigerten Rassismus basierte, und das indische Kastensystem, das nicht von rassischen, sondern eher klassismischen Systemen ausgeht und religös untermauert ist.

Die Stärke dieser Vergleiche finden sich vor allem dann, wenn etwa aufgezeigt wird, wie sehr Amerika für die Nationalsozialisten ein Vorbild war. Die jüngere Holocaustforschung hat darauf immer wieder hingewiesen, aber Wilkerson zeigt besonders deutlich, dass die amerikanische Rassengesetzgebung den NS-Funktionären ein Vorbild war, das sie aber nicht komplett umsetzten, weil es ihnen zu radikal war (!). Diese Vergangenheit ist in den USA völlig weichgewaschen und weitgehend noch nicht aufgearbeitet. Auch die Strukturen des indischen Kastenwesens helfen, weil es wegen seiner langen Bestehenszeit das besterforschte Kastensystem ist und so ebenfalls zahlreiche Vergleiche zulässt, vor allem was den Umgang mit der niedrigsten Kaste anbelangt, zu der Wilkerson ein widerwärtiges und fürchterliches Beispiel nach dem nächsten bringt.

Diese Vergleiche finden allerdings auch deutliche Grenzen, die immer wieder die Frage aufbringen, ob Wilkerson sich wirklich einen Gefallen damit getan hat. So düster faszinierend die Traditionslinien der Nürnberger Rassegesetze gegenüber den Jim-Crow-Gesetzen sind, so fällt doch in Details immer wieder auf, dass Wilkerson nicht firm in der Geschichte ist, etwa wenn sie bezüglich der Lynchings, bei denen die Weißen Souvernirs der getöteten Afroamerikaner*innen kauften und ausstellten, behauptet, dass nicht einmal die Nazis so etwas getan hätten. Ich stand nur von einer Museumsscheibe getrennt vor einer NS-Geldbörse aus Menschenhaut, das ist leider nicht wahr. Auch die vorbildhaft herangezogene deutsche Vergangenheitsbewältigung steckt voller Detailfehler. Das alles bringt die Frage auf, ob bei der (mir nicht besonders bekannten) indischen Geschichte ähnliche Fehler sind. Wilkersons journalistische Wurzeln scheinen hier deutlich durch, die einer klaren und guten Geschichte den Vorzug vor historischer Akkuratheit zu geben scheinen.

Das allerding ist Detailkritik. Die eigentliche Argumentation besteht problemlos aus eigener Kraft, so sehr, dass sich die Frage stellt, ob der (ohnehin nicht kohärent durchgehaltene) Ansatz des Vergleichs und der Allgemeingültigkeit nicht einfach ein Sich-Übernehmen der Autorin darstellt. Denn ihre scharfsinnige Betrachtung der Geschichte und Funktionsweise des amerikanischen Kastensystems hätte ja auch mit einem einzelnen Kapitel zu den Einflüssen auf die Rassegesetze einerseits und die ähnliche Funktionsweise Indiens andererseits genügt. Aber zurück zur Substanz.

Wilkerson zeichnet das amerikanische Kastenwesen aus der Genese der Sklaverei nach. Es umfasst auch von Anfang an mehr als nur die simple binäre Ordnung Weiß vs. Schwarz. Die indigene Bevölkerung, Einwander*innen aus dem nicht angelsächsischen (und, absurderweise, skandinavischen Raum, der in einer beängstigenden Parallele zum NS-Rassenwahn laut Wilkerson in den USA höher geschätzt wird als eine Herkunft aus England!) weißen Europa, Einwander*innen aus Süd- und Osteuropa, Lateinamerikaner*innen, asiatische Einwander*innen, karibische Einwander*innen, Inder*innen - alle werden in eine differenzierte rassische Kastenhierarchie sortiert, in der nur eines beständig ist: Schwarze sind ganz unten. Und selbst die Schwarzen selbst werden, wie Wilkerson mit scharfem Blick analysiert, intern in Unterkasten sortiert.

Die Sklaverei stellt sicherlich den Höhepunkt der blutigen Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordnung der Afroamerikaner*innen dar. Aber das in den USA so lange gehegte Narrativ, dass die Emanzipation mit Ende des Bürgerkriegs das Problem quasi gelöst habe, dass aber spätestens Martin Luther King es beseitigt habe, wird von Wilkerson klar zerlegt. Der Horror der Sklaverei wird in den Südstaaten praktisch sofort durch neue Strukturen - Stichwort Jim Crow - ersetzt, die die Schwarzen weiterhin unten halten, und durch brutalen und tödlichen Terror durchgesetzt. Es handelt sich um ein rassistisches Terrorregime, das den Vergleich mit Besatzungsregimen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa nicht zu scheuen braucht, ein Kapitel der Geschichte, das die Hälfte des amerikanischen politischen Spektrums gerade per Gesetz totzuschweigen versucht. Die Lynchjustiz, die über mehr als 70 Jahre ungehemmt im Süden der USA herrschte und der zehntausende von Menschen zum Opfer fielen, ist einer kollektiven, bewussten Amnesie unterworfen, die erst seit den späten 2010er Jahren langsam gelüftet wird.

Doch das Ende der Sklaverei brachte das Kastensystem des Südens paradoxerweise auch nach Norden. Die Freiheit der Schwarzen, ihren Wohnort und ihr Glück im Norden zu suchen, brachte diesen dazu, eine jahrhundertelange Trennung aufzuheben - die zwischen Nord und Süd - und ebenfalls ein Kastensystem zu installieren, das zwar nicht so blutig wie das Terrorregime des Südens war, aber an Effektivität wenig nachstand. Systematisch wurden Schwarze am sozialen Aufstieg gehindert, diskriminiert und an ihre untergeordnete Stellung erinnert.

Wilkersons Verdient ist weniger, die Geschichte nachzuzeichnen (wobei sie das als herausragende Journalistin mit großem Geschick tut), sondern dem Ganzen durch ihre Begrifflichkeit und theoretischem Unterbau der Kaste Struktur und Erklärungsgehalt zu geben. Anstatt vor individuellen Akten des Terrors und der Unterdrückung zu stehen und kopfschüttelnd zu fragen, wie "damals" so etwas geschehen konnte, zeigt sie die Logik eines Systems auf - und wie es sowohl Unterdrückende als auch Unterdrückte in seinen eigenen Erhalt zwingt, von der Rekrutierung armer weißer Südstaatler in Sklavenpatrouillen zu heutigen selbsternannten Vigilanten und Bürgermilizen, die den Erhalt der "Ordnung" auf sich nehmen. Der Vergleich mit der deutschen Holocaustverarbeitung drängt sich auf, wo die Erkenntnis, dass es eben nicht einige wenige moralisch pervertierte Täter in einem mystischen "früher", sondern ein systemischer Massenmord war, ebenfalls eines langen und schmerzlichen Prozesses bedurfte.

Wilkerson weist auch immer wieder darauf hin, dass der Erhalt dieses Kastensystems nicht nur der unterdrückten Kaste schadete, sondern auch der durchsetzenden Kaste selbst (in einer gespenstischen Parallele zu "Das Patriarchat schadet allen"). Seit 400 Jahren leben die Weißen in den USA bei Kontakt mit Schwarzen in einem ständigen Stresszustand, früher weil man stets Rebellion befürchten musste, heute wegen völlig überzogener Kriminalitätsbefürchtungen. Neben diesen gesundheitlich-emotionalen Kosten leidet die herrschende Kaste auch unter anderen sehr realen Kosten. Wilkerson geht auf diese Aspekte nicht schwerpunktmäßig ein, aber ich halte sie für mehr als diskussionswürdig. Das Ausmaß, in dem das amerikanische Kastensystem - und weniger die liberale Philosophie, die die USA ja durchaus mit Großbritannien teilen - die Struktur des Landes bestimmt, ist atemberaubend.

So etwa das lange Wehren der USA gegen auch nur den geringsten Sozialstaat. Während in Europa ein Land nach dem anderen Grundsicherungen einführte, kamen diese in den USA erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen des New Deal, und auch dann mit so vielen komplizierten und ineffizienten Einschränkungen, damit ja keine Schwarzen in ihren Genuss kommen konnten. Die Verabschiedung einer allgemeinen Krankenversicherungen im Rahmen dieser Reformen scheiterte an den Democrat-Südstaatlern, die verhindern wollten, dass Schwarze davon profitieren. Als ab den 1950er Jahren die Desegregierung erzwungen wurde, reagierten die Südstaaten mit einer geradezu absurden Selbstverletzung.

Diese ist übrigens glaube ich der Teil der ganzen Geschichte, der am heftigsten unterdrückt wird. So kennen heute alle einschlägig Gebildeten zwar die Geschichte von Little Rock, wo Bundestruppen schwarzen Schüler*innen den Zugang zur Schule erzwangen (spätestens die aus heutiger Sicht problematische Szene aus "Forrest Gump" ist vielen geläufig), aber praktisch niemand, wie es weiterging. Die Schüler*innen wurden von ihren weißen "Mitschüler*innen" systematisch ausgegrenzt und körperlich attackiert. Sie bekamen kein Essen und nachdem die Bundestruppen verschwunden waren, wurden sie aus der Schule herausgedrängt. Um der Desegregierung zu entgehen, schlossen die öffentlichen Schulen für mehr als anderthalb Jahre komplett, in denen es einfach für niemanden Unterricht gab - nur damit die Schwarzen nicht auch zur Schule konnten! Danach eröffneten die Schulen als Privatschulen wieder, denen das oberste Gericht der herrschenden Kaste, der Supreme Court, das Recht auf Diskriminierung bis heute zugesteht, und die Segregation hielt an.

Dasselbe Spiel findet sich in Parks, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen. Als die Rechtsprechung des Supreme Court ihre Desegregierung erzwang, öffneten sie nicht für alle, sondern wurden komplett geschlossen. Zahlreiche Städte gingen soweit, ihre Schwimmbäder mit Beton auszugießen, damit sie nicht gezwungen werden konnten, diese für Schwarze zu öffnen. Die öffentlichen Institutionen wurden privatisiert, geschlossen oder ihrer Mittel beraubt. Diese atemberaubende Vernichtung öffentlicher Güter geschah zur Aufrechterhaltung des Kastensystems.

Auch andere Mechanismen dieses Systems verschlagen einem die Sprache. Die berühmte amerikanische Demokratie etwa dient ebenfalls direkt der Aufrechterhaltung des Kastensystems. Die in den USA gewählten "school boards", über die Eltern massiven Einfluss auf Unterricht, Bildungspläne und Schulen erhalten, sind bis heute deutlich weiß dominiert. In den Südstaaten stellten die weißen "school boards", die auch für schwarze Schulen zuständig waren, immer die schlechteren Kandidaten ein - damit die Qualität der Schulen, die zudem keine Finanzmittel erhielten, mit Sicherheit schlecht war. So erhielten die guten Kandidat*innen keine Jobs, sondern nur die Schlechten, ein System, das sich auch durch die Privatwirtschaft zog und die generationenlang eingeübte Tradition schuf, auf keinen Fall gut in der Schule zu sein - was die herrschende Kaste dann wiederum zur Rechtfertigung des Kastensystems nutzte, weil die untere Kaste ja offensichtlich nichts taugt.

Ich könnte endlos so weitermachen. Das Buch ist voll mit diesen Beispielen, die die Funktionsweise des Kastensystems in über 30 geordneten Kapiteln untermalen. Selbst für jemanden, der sich mit dieser Geschichte bereits recht gut auskannte, ist es voll mit Details und Analysen, die das Ganze in einen Zusammenhang setzen, der in seiner erschreckenden Allumfassenheit vorher schlicht undenkbar schien. Diese Lektüre ist schmerzhaft, aber sie lohnt.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte - Green New Deals

Spätestens seitdem der linke Flügel der Democrats in den USA den Green New Deal als neuen Schlachtruf für sich entdeckte, ist er als Konzept in der breiten politischen Debatte angekommen. Als Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als Kommissionspräsidentin der EU einen "Green Deal" einforderte (wohlgemerkt ohne das allzu sozialdemokratische "New"), war die Vorstellung einer "grünen Transformation" im politischen Mainstream verankert. Nur, Konzepte zum "Green (New) Deal" gibt es zahlreiche, weswegen das vorliegende Heft im Titel auch zu Recht die Pluralform verwendet. Und letztlich verstehen alle unter dem Gummi-Begriff ein Sammelsurium ihrer jeweils eigenen bevorzugten Politiken. Linke fordern massive staatliche Investitionen; worin, ist da eher sekundär. Bei Grünen ist klar, dass jeder Green New Deal eine Abkehr von fossilen und nuklearen Technologien bedeuten muss, während Konservative und Liberale vor allem eine Entfesselung von Markt und Innovation sehen. Einig sind sich aber alle, dass die Zukunft irgendwie grün sein müss. Umso wichtiger, dass hier etwas Licht in den Nebel der Begriffe gebracht wird.

Den Auftakt macht Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena, der in "Alle reden vom Klima. Perspektiven sozial-ökologischer Transformation" die These einer "Zangenkrise" aufwirft. Er drückt mit diesem Begriff den Dualismus der Klimakrise aus, die sowohl als ökonomische Krise daherkommt - das bisherige, auf Ausbeutung fossiler Energien und endlicher Rohstoffe basierende System gerät absehbar an seine Grenzen - als auch als ökologische Krise, mit Erderwärmung, Umweltverschmutzung und all den daran hängenden Folgen. Er postuliert, dass diese "Zangenkrise" in der bisherigen Menschheitsgeschichte einmalig sei, auch weil sie alle Lebensbereiche erfasse und sich nicht auf einzelne Teilbereiche reduzierbar sei.

Ein weiterer Dualismus besteht für Dörre in der Gerechtigkeitsfrage: jede Lösung der Zangenkrise muss gleichzeitig innerstaatlichen wie interstaatlichen Gerechtigkeitskriterien genügen. Innerstaatlich, weil die Reichen ein Vielfaches mehr an CO2-Emissionen verursachen als die Armen, während die Hauptlast der Gegenmaßnahmen überproportional die Ärmeren trifft; interestaatlich, weil unter den Staaten effektiv dasselbe passiert. Die reichen Staaten sind hauptverantwortlich für die Klimakrise, aber die Kosten sollen - über stark verringerte Emissionsmöglichkeiten - die aufstrebenden Volkswirtschaften tragen. Das kann nicht funktionieren.

Dörre skizziert vier grundsätzliche Auswege aus der Zangenkrise, die sich natürlich keineswegs ausschließen (wenngleich das in der öffentlichen Debatte ja gerne suggeriert wird und sich leider auch etwas durch den Band selbst zieht): die Marktoption, in der etwa durch Instrumente wie CO2-Bepreisung die Kräfte von Angebot und Nachfrage wirken; die Technikoption, in der etwa Elektromobilität und CO2-Capturing die Lösung bringen; die Staatsoption, in der der Staat Forschung und Wirtschaft stärker als bisher steuert; und die Demokratieoption, in der die Gesellschaft stärker die Verantwortung übernimmt, etwa in Genossenschaftsmodellen.

Keine dieser Optionen ist dabei ein Allheilmittel, und Dörre skizziert die jeweiligen Schwächen auch ziemlich deutlich mit. Als Matrix, innerhalb derer man Lösungen diskutieren kann, halte ich aber die Dualismen der Zangenkrise und die vier Optionen für sehr sinnvoll.

Der folgende Aufsatz "Improvisierend durch die Krise: Der New Deal" von Kiran Klaus Patel, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in München, ist vor allem strukturell für das Heft wichtig, weil er den historischen New Deal in Kontext setzt. Für mich war da wenig Neues drin; ich verweise da auch auf meine eigene Serie zum Thema. Betont sei hier, dass Patel sinnvollerweise die Natur des New Deal als Sammelsurium von Improvisierungen und Experimenten betont; das deckt sich mit meinen eigenen Forderungen zur Lösung der Klimakrise: wir sollten nicht auf ein Allheilmittel hoffen, wie es leider viel zu viele tun, sondern alles ausprobieren: Ansätze an die Wand werfen und sehen, was kleben bleibt. Es hat schon einmal funktioniert.

Thomas Döring, Professor für Politik und Institutionen in Darmstadt, wirft einen weiteren Blick in die Geschichte, auf die berühmte Studie zu den "Grenzen des Wachstums", die dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiert (siehe dazu auch dieser informative Podcast). In seinem Essay "50 Jahre "Grenzen des Wachstums". Von der Wachstums- zur Post-Wachstumsökonomie?" skizziert er kurz die Geschichte der berühmten Studie, eher er zu dem leider wenig bekannten Ergebnis kommt, dass diese Studie ziemlich richtig lag (in der populären Version der Geschichte lag der Club of Rome grotesk falsch und wird gerne verlacht, was aber vor allem an der Unkenntnis darüber liegt, dass er Szenarien durchrechnete und dass das Verlachte immer das ist, dass sich vom Stand 1972 nichts ändert; eine Annahme, die auch der Club of Rome unrealistisch fand). Es wäre an der Zeit, wieder wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf Prognosemodelle zu legen.

Notwendigen sachlichen Hintergrund für die aktuelle politische Debatte steuert Susanne Dröge, Ökonomin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, mit ihrem Aufsatz "Der Europäische Green Deal. Ziele, Hintergründe und globale Dimension" zu von der Leyens Initiative bei. Wie zu erwarten ist es ein detailliertes Abtauchen in die EU-Politik, aber schnell zeigt Dröge auf, wo die eigentlichen Probleme liegen: wie bei der EU üblich formuliert der Green Deal zwar einige Ziele, aber diese sind gleichzeitig sehr anspruchsvoll - ihre Umsetzung wird von den üblichen Verdächtigen blockiert - und unzureichend. Es bleibt abzuwarten, gerade auch vor der seit der Veröffentlichung erfolgten Prioritätenverschiebung der EU durch den Ukrainekrieg, was von dem Green Deal bleibt.

Die folgenden Essays befassen sich dann mit konkreten Umsetzungen einer grünen Transformation.

In "Entwicklung statt Wachstum" erteilt Rainer Land, Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler am THünen-Institut, sowohl Degrowth-Fantasien eine Absage. Stattdessen erklärt er, dass statt einer quasi horizontalen Wachstumsperspektive - also einem "mehr", wie Wirtschaftswachstum bisher verstanden wird - eine eher vertikale Perspektive folgen müsste, in der die Entwicklung im Vordergrund steht, also ein ökologischer Umbau. Er favorisiert, sozusagen in Dörres Diktion, die Technologieoption.

Johannes Müller-Salo, Philosoph aus der Uni Hannover, und Rupert Pritzl, Beschäftigter im bayrischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie, vertreten in ihrem gemeinsamen Essay " Klimaschutz durch Innovation und Marktwirtschaft" wenig überraschend die Marktoption; der Titel verrät das ja bereits. Etwas überraschend befassen sie sich dann erst einmal vorrangig mit der Gerechtigkeitsfrage, nämlich der von Dörre eingangs festgestellten Problematik, dass der Wandel vor allem die Ärmeren betrifft. Sie fordern daher den Vorrang der Effizienz und eine Technologieoffenheit; beides soll durch eine Stärkung der Marktkräfte sichergestellt werden. Dadurch erhoffen sie sich auch eine größere gesellschaftliche Akzeptanz.

Das letzte Essay von Birgit Mahnkopf, emeritierte Professoin für Europäische Gesellschaftspolitik in Berlin, mit dem Titel "Der große Selbstbetrug. "Klimaneutralität" durch "grünes Wachstum"", zeigt noch einmal die Schwächen des Green Deal auf. Sie postuliert die Notwendigkeit eines "ökologischen Imperativs", also der Ausrichtung der Politik auf das Verhindern der Klimakatastrophe, und zeigt auf, warum dem Green Deal das trotz guter Ansätze nicht gelingt. Danach wird sie grundsätzlicher und diskutiert, warum "die Politik den Wandel bewirken könnte - dies aber nicht tut". Vor allem eine Fundamentalkritik des Wachstumsimperativs und der zerstörerischen Kräfte des Lobbyismus spielen hier eine Rolle. Mahnkopf vertritt also am ehesten die Staatsoption.

Ich mochte den Aufbau dieses Heftes insgesamt sehr, weil es mehr als häufig üblich die Aufsätze in sinnige Struktur gruppiert: zuerst der theoretische Unterbau (Dörre), dann der historische Kontext (Patel, Dörring), dann die konkrete Politik (Dröge), ehe verschiedene Perspektiven gleichberechtigt nebeneinander diskutiert werden (Land, Salo/Pritzl und Mahnkopf). Das Einzige, was wieder etwas stört, ist ein zu wenig entschlossenes Lektorat: nachdem das dritte Essay die Probleme klassischer Wachstumsvorstellungen in seiner Einleitung skizziert, verdreht man nur noch die Augen. Da dürfte gerne mehr Koordination existieren. Aber davon unbeeindruckt sei die Lektüre des Heftes Interessierten unbedingt empfohlen. Es ist ohnehin kostenlos.

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