Mittwoch, 6. April 2022

Rezension: Christian Stöcker - Das Experiment sind wir

 

Christian Stöcker - Das Experiment sind wir

Es ist keine sonderlich aufregende Erkenntnis, dass wir uns in einem Zeitalter großer Umwälzungen befinden. Bedenkt man, dass erste Smartphone gerade einmal im Jahr 2007 verkauft wurde und dass wir seit kaum 25 Jahren im Internetzeitalter leben, wird einem erst klar, wie schnell und tiefgreifend sich die Welt gewandelt hat. Das Wachstum neuer technischer Möglichkeiten ist exponentiell, und der menschliche Geist ist völlig ungeeignet, in exponentiellen Kategorien zu denken. Deswegen, so argumentiert Christian Stöcker, verstehen wir viele der uns umgebenden Änderungen nicht nur nicht, sondern nehmen sie teilweise nicht einmal war. Wir leben quasi in einer Glocke der Ignoranz, die uns von einem realistischen Blick auf die Welt abhält - und das schadet uns allen. In diesem Buch unternimmt es Stöcker, uns durch einen notwendig knappen Rundgang durch die Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts zu führen.

Stöcker baut das Buch dabei nach thematisch sortierten Kapiteln auf, in denen er mit Anekdoten in das jeweilige Thema einführt, optionale Erklärtexte einschiebt (falls man etwa noch nicht weiß, was CRISPR ist) und dann die realen und potenziellen Auswirkungen auf unseren Alltag beschreibt. Zum Glück verfällt Stöcker nicht in Kulturpessismismus à la "Smartphones sind böse und stehlen Aufmerksamkeit!!elf!1!", sondern geht wesentlich differenzierter an die Sache heran (seine Kritik an unwissenschaftlichem Unfug der Marke Manfred Spitzer erwärmt natürlich mein Herz).

Stöcker stellt im Endeffekt eine zweigleisige These auf.

Einerseits fehlt dem Großteil der Bevölkerung das Wissen, um die Vorgänge um uns herum zu verstehen. Das liegt nicht nur an den Bildungsplänen und der Fächerstruktur, die noch immer fest im 20. Jahrhundert verankert ist (und nicht an deren Ende...). Das liegt auch an der Mentalität der meisten Menschen, die eine immanente Unlust haben, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und dazu neigen, sie gering zu schätzen.

Andererseits gibt es einen weit verbreiteten Unwillen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und diese Wissenslücken zu schließen. Schlimmer noch, es gibt eine Überhöhung und Mystifizierung dieses Unwillens; Nicht-Wissen gilt geradezu als chic. Wer jemals Eltern über die aktuellen Apps hat sprechen hören, kennt das.

Am relevantesten ist für Stöcker, quasi als verbindende Klammer, die Exponentialfunktion. Menschen verstehen exponentielles Wachstum nicht, und exponentielles Wachstum bestimmt inzwischen unser Leben. Das ist, um es milde auszudrücken, suboptimal. Exponentielles Wachstum, das er mit einigen griffigen Beispielen deutlich macht, ist die Grundlage der Digitalisierung, und diese wiederum führt zu einem - man ahnt es - exponentiellen Anstieg sowohl unserer Möglichkeiten als auch unseres Wissens. Von der Leistungsfähigkeit der Computer bis hin zu den massiven Entwicklungsschritten bei der KI bis hin zu Gentechnik zieht sich das Bild.

Gerade bei der KI kann Stöcker eindrücklich zeigen, was exponentielles Wachstum oft bedeutet. Ob bei Schach oder bei Go, die Maschinen überflügeln die Menschen und sind mittlerweile mit selbstlernenden Systemen so weit, dass sie nicht einmal mehr menschlichen Input brauchen. Die Konsequenzen dafür sind perspektivisch schwindelerregend. Eine selbstlernende Go-Maschine mag jetzt noch keine schwerwiegenden Folgen außerhalb der Go-Szene haben, aber das Potenzial ist schier endlos. Stöcker weist völlig zu Recht darauf hin, wie schlecht selbst Expert*innen immer darin sind, die Zeiträume abzuschätzen: so waren die Vorhersagen darüber, wann die KI alle menschlichen Spielenden schlagen würde, geradezu absurd daneben. Was in der Realität eine Sache von zwei bis drei Jahren war, wurde gerne in Jahrzehnten bemessen. Stöckers Vorhersage ist, nicht unangemessen, dass dies auf viele andere Bereiche von Gentechnik bis zum autonomen Fahren auch zutrifft.

Wir sind als Gesellschaft furchtbar schlecht auf diese Entwicklungssprünge vorbereitet. Nicht nur begreifen wir sie kognitiv nicht, wir haben auch keinerlei Mechanismen, mit den neuen Techniken umzugehen. Das betrifft soziale Netzwerke genauso wie autonome Fahrzeuge, Genscheren wie KI. Und das sind nur die eigentlichen grundsätzlich positiven Entwicklungen, die wir in exponentiellem Wachstum voranbringen.

Viel schlimmer ist das ebenfalls exponentiell wachsende Problem der Klimakrise. Unter dem Stichwort Kipppunkte wird das ja bereits länger diskutiert, aber angekommen ist diese Erkenntnis immer noch nicht. Auch hier sind unsere Reaktionen dem Problem geradezu katastrophal unangemessen.

Stöckers Buch ist daher sowohl informativ, weil es in die betreffenden Themen einführt - vom Aufbau her trennt Stöcker die Erklärung der Phänomene auch im Layout von seinen Analysen und erlaubt so auch ein Überblättern der Passagen, falls man sich bereits kompetent genug fühlt - als auch prophetisch-warnend. Die Lektüre lohnt in jedem Fall.

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