John Dos Passos - Mr. Wilson's War
Woodrow Wilson ist im öffentlichen Gedächtnis meistens als "Idealist" bezeichnet. Seine 14 Punkte gelten oft als nette Idee, die aber den Realitäten der Machtpolitik nicht entsprach, weswegen er in Versailles ausmanövriert wurde. Dieses Narrativ ist mittlerweile von der historischen Forschung gründlich revidiert worden, findet sich aber leider immer noch in zahlreichen Schulbüchern und populären Darstellungen. Umso relevanter ist es, sich mit dieser Epoche amerikanischer Außenpolitik, in der die immer noch junge Republik erstmals entscheidend in den Gang des Weltgeschehens eingriff, zu beschäftigen. Den Beginn dieser Entwicklung in der Präsidentschaft McKinleys und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg zu suchen ist kein überäßig revolutionärer Zug; im erst kürzlich hier besprochenen "Gangsters of Capitalism" von Jonathan M. Katz wurde ein ähnlicher Ansatz gewählt. Wäre doch John Dos Passos' Geschichte des gleichen Zeitraums auch nur annähernd so überzeugend geraten.
Wie auch Katz beginnt John Dos Passos mit dem spanisch-amerikanischen Krieg, der die Grundlage für das amerikanische Kolonialreich legte. Anders als Katz legt er aber wenig Gewicht darauf, welche konkreten Dynamiken dahinterstanden und welche Konsequenzen das genau hatte. Dos Passos' Ansatz ist klassischer: er stellt detailliert die Biografien der beteiligten Personen vor. Im Zentrum steht dabei weniger McKinley, der ja auch bald einem Attentat zum Opfer fällt (die Hintergründe des Anarchismus, aus dem dieses Attentat entsprang, bleiben in seiner Darstellung weitgehend im Dunkeln), sondern der wesentlich sensationellere Theodor D. Roosevelt.
Roosevelt, das muss man zugestehen, ist auch ein Charakterkopf. Der jüngste Präsident aller Zeiten war ein Draufgänger, topfit durchtrainiert, mit dem gewissenhaft gepflegten Image des Cowboys und Rough Riders. Nicht nur propagierte er für Amerika einen Platz an der Sonne gegen die europäischen Kolonialreiche; er leitete auch die Ära des Progressivismus ein und kämpfte gegen die Auswüchse des Big Business in der Gilded Age (ich habe diese Zusammenhänge in einer Serie zu Amerika um 1900 ausführlich beschrieben; bei Dos Passos erfährt man darüber wenig). Diese Ära war so prägend, dass selbst die oppositionellen Democrats bald nicht mehr umhin kamen, ihre traditionelle Rolle als Lobbyverein der Wirtschaft zu modifizieren.
Ein weiterer Charakter jener Epoche ist William Jennings Bryan, jener Populist aus dem Mittleren Westen, der seinen quichottigen Kampf gegen den Goldstandard führte. Auch über diese Hintergründe erfährt man bei Dos Passos leider wenig. Bryan gelang es nie, die Präsidentschaft zu gewinnen - neben dem Widerstand des Großkapitals waren dafür auch eigene Fehler verantwortlich - aber es war fast nicht mehr möglich, an ihm und seinen Themen vorbei die Präsidentschaftskandidatur zu gewinnen. Das spürte auch Woodrow Wilson, dem der Löwenanteil des Buches gewidmet ist.
Er inszenierte sich genug als Populist, um Wahlen zu gewinnen, und genug als Freund des Big Business, um die Unterstützung der Partybosse zu gewinnen. 1912 errang er die Präsidentschaft. Seine innenpolitischen Absichten wurden aber bald durch den Schatten des europäischen Krieges verdrängt, der ihn auf die Bühne der Außenpolitik zwang. Zusammen mit seinem Freund Colonel House (ja, der hieß wirklich so) leitete er die Außenpolitik des Landes an den Behörden und Kongress vorbei; das Ausmaß der Amateurhaftigkeit, mit der das Land damals noch regiert wurde (mit einer winzigen Bürokratie, die Wilson tatsächlich einfach ignorieren und durch zwei, drei Freunde und die Tippfähigkeiten seiner Frau ersetzen konnte) ist erstaunlich.
All das führte dann zu den bekannten Folgen der Verwicklung der USA in den Krieg und der scheiternden Versuche von Friedensstiftung und später dem Aufbau einer neuen Weltordnung. Ich will mich aber darin gar nicht zu sehr verlieren; ich habe darüber geschrieben und will lieber das weit überlegende "Sintflut" von Adam Tooze zum Thema empfehlen. Hier will ich stattdessen darüber schreiben, warum dieses Buch nichts taugt.
Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass Dos Passo eine sehr klassische Art der Geschichtsschreibung verfolgt. Es ist eine Geschichte der Biografien großer Männer. Wir erfahren, welche Anzüge Wilson trägt, in welche Intrigen er in seiner Zeit in Princeton verwickelt war, welche Tiere Roosevelt ausstopfen ließ, welche Teemarke seine Frau bevorzugte. Wir erfahren Klatsch und Tratsch um Colonel House und die europäische Aristokratie.
Was wir nicht erfahren, sind Zusammenhänge. Alles bleibt blutleer. Der amerikanische Imperialismus wird zu einer PR-Veranstaltung von Theodore Roosevelt. Begeistert beschreibt Dos Passos dessen Hasardeurstaten auf Kuba, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie viele Marines an Krankheiten zugrundegingen oder welche Massaker an der Zivilbevölkerung für die Profite der amerikanischen Obstfirmen begangen wurden. Wir erfahren zwar, dass Woodrow Wilson als Präsident von Princeton unbedingt Debattenclubs nach britischem Vorbild einführte und mit einem Schirm Fußball spielte, aber nicht, dass er mit aller Macht versuchte, Afroamerikaner auszuschließen. Auch, dass er als Präsident alle schwarzen Staatsbediensteten entließ und die Segregation auf ein Level brachte, das seit den 1870er Jahren nicht mehr gesehen worden war, ist Dos Passos keine Silbe wert.
Diese Art von hagiografischer Geschichtsschreibung, in der irgendwelche großen Männer Geschichte machen, die blutleer und harmlos und voll unterhaltsamer Bonmots und Anekdoten ist, ist nicht nur wertlos, sie ist schädlich. Sie vernebelt mehr, als dass sie enthüllt. Sie kann weg.
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