Dienstag, 26. April 2022

Persische korrupte Atomkraftwerke interpretieren mit russischer Propaganda die US-Verfassung - Vermischtes 26.04.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Die große Angst vorm großen Krieg

Nicht alle überzeugt die Schlafwandler-Analogie, zu ihnen gehört der frühere österreichische Offizier Gustav Gressel. Er ist Fachmann für Sicherheitspolitik beim European Council on Foreign Relations und meint, der russische Präsident bluffe nur, um den Westen so zu schockieren, dass er die Ukraine ungestört vernichten kann. „Putin“, sagt Gressel, „spielt bewusst mit der Angst vor einem Atomkrieg“ – und er tue es vor allem mit dem Ziel, diejenigen in Europa und Amerika zu verschrecken, die der Ukraine helfen wollten. „Er weiß, dass der Nachschub aus dem Westen jetzt kriegsentscheidend ist. Deshalb versucht er, die Bereitschaft zur Hilfe im Westen durch psychologische Zermürbung aufzulösen.“ Und zu dieser Taktik gehöre eben auch „das Gerede vom Atomkrieg“. [...] Brauß untermauert seine Einschätzung mit einer weiteren Überlegung: Putin, glaubt er, ist nicht auf einen totalen Sieg angewiesen. Auch wenn die Ukraine ihn mit westlicher Hilfe etwa dort stoppe, wo er heute stehe, könnte er die bisherigen Eroberungen, also den Donbass und die Landbrücke zur Krim, zu Hause als „Sieg“ darstellen. Putin selbst spreche ja neuerdings davon, dass es ihm vor allem um die Befreiung der Region Donbass gehe, wo die Ukraine angeblich einen Genozid an Russen verübe. Wenn er die heute schon besetzten Gebiete sicherte, wäre das vielleicht schon genug „für eine Siegesparade am 9. Mai“ in Moskau. Nukleare Drohungen wären dann nicht mehr wahrscheinlich. Für Brauß erscheint das westliche „Gerede von einer Eskalation in einen dritten Weltkrieg“ in diesem Licht nur noch wie „undurchdachtes Beschwören der Apokalypse“. Er nennt das „Selbstabschreckung“. (Konrad Schuller, FAZ)

Für mich ist das eine überzeugende Argumentation, und ich teile die Einschätzung grundsätzlich. Das Problem bei der nuclear brinksmanship ist und bleibt nur immer, dass es ein Spiel mit sehr hohem Einsatz bleibt. Ein Restrisiko für Eskalation und dumme Fehler besteht immer, und sicher, dass der andere nur blufft, ist man erst hinterher. - Welche Ziele auf der anderen Seite für Putin ausreichend sein werden, um den Krieg zu beenden, weiß der Diktator vermutlich nicht einmal selbst. Das hängt ja schwer vom Verlauf des Krieges ab. Und der ist, wie alle Kriege, unsicher.

2) Ausfälle von Atomkraftwerken: Frankreich zahlt exorbitante Strompreise

Allein in der vergangenen Woche führten Ausfälle dazu, dass Frankreich von 61,4 Gigawatt installierter Leistung an Nuklearstrom zwischenzeitig über die Hälfte fehlte. [...] Zugleich kurbelten niedrige Temperaturen in dem Land, das hauptsächlich elektrisch heizt, die Stromnachfrage kräftig an. In der Folge mussten die Nachbarländer die französische Stromversorgung stützen. Allein Deutschland exportierte zwischenzeitig bis zu fünf Gigawatt – das ist mehr, als die letzten drei deutschen Atomkraftwerke zusammen produzieren. Zusätzlich musste Frankreich große Mengen an exorbitant teurem Strom am Spotmarkt zukaufen. Am Morgen des 4. April kletterte der französische Tagespreis (Day-Ahead-Preis) auf einen Rekordwert von fast 3000 Euro pro Megawattstunde (MWh), das sind fast drei Euro für eine Kilowattstunde. Im selben Zeitraum kostete Großhandelsstrom in Deutschland 101 Euro pro MWh, das ist dreißig Mal weniger. [...] Deutschland kam in derselben Woche wesentlich besser weg, weil Erneuerbare über 66 Prozent des Strombedarfs deckten. [...] Schon seit Wochen fehle in Frankreich regelmäßig über die Hälfte der installierten Kapazität. „Ich sehe nicht, warum sich dieser Trend umkehren sollte, da nun auch die modernsten Reaktoren wegen Rissen im Not-Einspeisesystem betroffen sind“, so der Nuklearexperte. Inzwischen wurde bekannt, dass neben den fünf AKWs, die im Dezember 2021 abgeschaltet wurden, weitere Baulinien betroffen sind. (Anna Gauto, Handelsblatt)

Angesichts solcher Nachrichten, die sich in den letzten Jahren mit denen zu Extremwetterereignissen häufen, muss die verbreitete Behauptung, die Atomenergie sei krisensicher und die Antwort auf den Klimawandel, schon etwas skeptischer gesehen werden. In jeder Hinsicht am sichersten sind und bleiben erneuerbare Energiequellen. Aber die ideologische Festlegung auf Atomstrom als scheinbar pragmatische Lösung blockiert den Ausbau anhaltend - in Deutschland angesichts des Atomausstiegs besonders absurd.

Natürlich ist die Situation in Frankreich insofern speziell, als dass ein Problem des Landes das Alter der Atommeiler ist. Die meisten französischen Kernkraftwerke sind bereits in die Jahre gekommen und deswegen nicht mehr sonderlich zuverlässig; theoretische Neubauten hätten zumindest dieses Problem nicht. Die deutschen Meiler sind aber ebenfalls alle sehr alt, und die weitgehend sinnfreie Debatte um verlängerte Laufzeiten (die Energiekonzerne lehnen das ja selbst ab) wird dadurch nur noch eine Stufe doofer.

3) Why BARDA Deserves More Funding

The Office of the Assistant Secretary for Preparedness and Response (ASPR), which houses BARDA, only received $2.6 billion in FY22 appropriations, with 71% of the budget dedicated to procuring vaccines against bioterrorist attacks and other medical countermeasures for the SNS. This level of funding pales in comparison to U.S. expenditures on other issues of national defense. For example, the Virginia-class nuclear-powered submarines cost $2.8 billion each. Since 2000, the U.S. has built 22 Virginia-class subs and plans to build 44 more. [...] OWS was a resounding success, achieving its ambitious goal of delivering a safe and effective COVID vaccine in less than a year. The total price tag for the program has reached $18 billion, a bargain compared to the trillions of dollars in social costs from the pandemic. But the federal government could get even more value for its money by developing vaccines before the next pandemic hits. The White House Office of Science and Technology Policy estimates it would cost just over $24 billion to have prototype vaccines ready for each of the 26 known viral families that cause human disease. Showing that these vaccines are safe and promote an immune response before we need them will allow for vaccines to be ready for deployment within 100 days after virus identification. (Nikki Teran, Institute for Progress)

Es gibt so viele Bereiche, in denen bereits verhältnismäßig bescheidene Investments gigantische Gewinne für alle abwerfen würden - gäbe es nur den politischen Willen, die Investitionen zu tätigen. Aber es gibt leider für die Erforschung von Vakzinen (oder jedes beliebige andere Thema, das man hier einsetzen kann) keine Lobby, im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen, die massive Förderung erhalten. Allein wenn man bedenkt, welche Summen wir mit dem Tankrabatt aus dem Fenster werfen, wenn es dann für die wichtige Forschung nicht reicht, es ist zum Haare raufen.

4) Trump, Putin, and the Paradox of Propaganda

The intent of propaganda, of course, is to contain the effect to the audience, who will be steered toward beliefs you find useful, and away from beliefs you find dangerous, regardless of whether either is true. But ultimately, the task of keeping mental double books becomes too difficult. The false world you create drives out the real one. [...] Putin sought to convince his people Ukraine was weak, corrupt, and lacking in any popular legitimacy. He wound up believing his own lies, launching a ruinous war premised on his expectation that Volodymyr Zelenskyy’s government would collapse immediately and that Ukrainians would welcome Russians as liberators. [...] Putin’s long campaign to suppress independent media and foment nationalist aggression against Ukraine is a catastrophic success. Externally, all his foreign-policy objectives are being undermined — Russia is facing economic and diplomatic isolation, has cemented Ukrainian nationalism, and is enlarging NATO. Domestically, the main threat he faces comes not from Russians seeing through his lies, but from Russians who believe them all too fervently. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Es zeigt sich generell dieser Tage wieder einmal, wie viel besser als ihr Ruf die liberale Demokratie doch ist. Trotz aller Blockaden, die sie gerne ausmachen, ist sie durch regelmäßige Wahlen, Regierungswechsel, offene Kritik und Repräsentation wesentlich unempfindlicher gegenüber group think und ähnlichen Problemen, als es autoritäre Regierungen sind. Immun ist sie natürlich nicht; auch demokratische Politiker*innen neigen dazu, sich mit Ja-Sagenden zu umgeben (genauso wie Firmenchefs, Militärs und alles andere, was Autorität hat). Aber es gibt eben viel mehr Kontrollinstrumente.

Ebenfalls spannend ist der Aspekt, dass die Lügenpropaganda unintendierte Nebeneffekte hat, wenn die Leute zu viel vom eigenen Bullshit glauben. Man sieht dasselbe ja beispielsweise auch bei den Republicans, denen die Kontrolle ihrer Propaganda auch entglitten ist, mit den bekannten Folgen von Radikalisierung und Trump und allem. Es wäre düstere Ironie, wenn Putin auf die Art scheitern würde - wenngleich für uns sicher kein sonderlich positives Ergebnis.

5) GOP Admins Had 38 Times More Criminal Convictions Than Democrats, 1961-2016

Republican administrations have vastly more corruption than Democratic administrations. We provide new research on the numbers to make the case. We compared 28 years each of Democratic and Republican administrations, 1961-2016, five Presidents from each party. During that period Republicans scored eighteen times more individuals and entities indicted, thirty-eight times more convictions, and thirty-nine times more individuals who had prison time. Given the at least multiple active investigations plaguing President Trump, he is on a path to exceeding previous administrations, though the effects of White House obstruction, potential pardons, and the as-yet unknown impact of the GOP’s selection of judges may limit investigations, subpoenas, prosecutions, etc. Of course, as we are comparing equal numbers of Presidents and years in office from the Democratic and Republican parties, the current President is not included. (Rand Engel, Rantt Media)

Ich weiß nicht, wie belastbar die verwendete Methodik ist, aber der generelle Trend ist mit Sicherheit richtig. Würde man Trump mit einbeziehen, sähe die Lage noch wesentlich düsterer aus. Es ist ein Trend, der auch nicht auf die USA beschränkt ist. Die Tory-Regierungen haben ein größeres Problem damit als Labour, beispielsweise. Auf der anderen Seite sind wir in Deutschland generell ziemlich verschont davon. Wir diskutieren darüber, ob Spitzenpolitiker*innen wegen Fußnoten und Urlauben zurücktreten müssen, nicht, weil sie sich gerade vor Gericht gegen schwerwiegende Anklagen verteidigen müssen. Wie in Fundstück 4 sehen wir auch hier, dass unser System besser ist als sein Ruf, in vielen Dingen.

6) Was Baerbock und Habeck gerade richtig machen (Interview mit Julian Müller)

Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen sind laut einer Umfrage die beliebtesten Politiker in Deutschland. Sie haben die Kommunikation der beiden untersucht. Was ist das Rezept?

Bei Robert Habeck und Annalena Baerbock können wir eine neue Form politischer Ansprache beobachten, die es in dieser Form sicherlich noch nicht gab, zumindest nicht von Politikern in derart sichtbaren Positionen. Man sollte die beiden allerdings nicht in einen Topf werfen.

Fangen wir mit Robert Habeck an. Was zeichnet sein Auftreten aus?

Habeck zeigt bereits beim Sprechen an, dass er auf der Suche nach der richtigen Position ist, dass er um den richtigen Ton ringt, dass er offen für Gegenargumente ist und um die Zugzwänge politischen Handelns weiß, dass er daher auch nicht deklaratorisch sprechen will, sondern eher selbstkritisch, das eigene Tun und Sprechen immer mitbeobachtend. [...] Ich denke, dass darin sicherlich auch ein Grund für Habecks Erfolg und seine Beliebtheit liegt: dass er seine eigene Zerrissenheit nicht überspielt, sondern demonstrativ ausstellt. [...]

Würden Sie das Vorgehen als typisch grün beschreiben?

Nein, das würde ich gar nicht sagen. Ein Grund für die zwischenzeitlich hohen Beliebtheitswerte von Markus Söder war sicherlich auch, dass er in der ersten Phase der Pandemie manche Dinge demonstrativ hart, bisweilen überhart angesprochen hat. Damit konnte er zeitweise über das CSU-Milieu hinaus punkten. Das Ansprechen von Realitäten ist eine politische Strategie, die lange unterschätzt wurde. [...]

Sie sagten, Habeck und Baerbock dürfe man nicht in einen Topf werfen. Was zeichnet Baerbock – auch im Vergleich zu ihren Amtsvorgängern – aus?

Annalena Baerbock war schon im Wahlkampf darauf bedacht, größere Entschlossenheit als Robert Habeck auszustrahlen. Bei ihr sehen wir keine Ausstellung von Selbstreflexivität und Selbstkritik. Sie inszeniert sich auch nicht als Philosophin, die in die Politik geraten ist, sondern durchaus als Machtpolitikerin. Und sie steht vor Herausforderungen, die sich ja kaum mit denen ihrer Vorgänger vergleichen lassen, und ist ohne Regierungserfahrung innerhalb kürzester Zeit riesigen Bewährungsproben ausgesetzt gewesen. Die Kriegssituation erlaubt Baerbock vielleicht sogar ein entschlossenes, bisweilen sogar undiplomatisches Auftreten, das unter anderen Bedingungen nicht möglich wäre und das wir aus dem Außenministerium nicht kennen. Auch darin dürfte ein Grund für ihren Zuspruch liegen. (Timo Steppat, FAZ)

Ich glaube, Habeck und Baerbock scheinen vor allem durch den Kontrast so stark. Baerbock wird an ihren Amtsvorgängern gemessen, die eine Riege von Pfeifen sondersgleichen darstellen. Und einen reflektierteren und um Positionen ringenderen Stil als die Merkel-Kabinette zu pflegen ist auch nicht unbedingt die höchste Schwierigkeitsstufe. Wenn man die beiden dann als potenzielle Kanzlerkandidat*innen (was sie von Lindner unterscheidet, der ja auch ein guter Kommunikator ist) und ihrer in der aktuellen Krise hervorgehobenen Rolle bedenkt (in der Lindner ebenfalls nicht vorkommt; hätten wir gerade eine Finanzkrise, würde kein Hahn nach Habeck und Baerbock krähen und alle Welt jede Äußerung Lindners auf die Goldwage legen) und diese mit Kanzler Scholz und seiner Nicht-Kommunikation kontrastiert, können sie praktisch nur gut aussehen.

Dass sie hier irgendeinen heiligen Gral der Politkommunikation entdeckt hätten kann ich jedenfalls nicht sehen. Denn: Habecks "philosophisch ringender Stil" kann genauso gut als Unsicherheit und Führungsschwäche gelesen werden, Baerbocks undiplomatisches, entschlossenes Auftreten als Arroganz und Gefühllosigkeit. Es ist alles nur einen Leitartikel vom Verriss entfernt. Objektiv "gut" ist das alles nicht. Sie treffen ein gerade existierendes Befürfnis, wie Merkels moderierender Stil lange ein Bedürfnis befriedigte. Scholz ist aus der Zeit gefallen, das ist alles. Vor einigen Jahren hätte er wahre standing ovations für seine vermittelnden Fähigkeiten und Zurückhaltung erhalten können. Und das kann sich jeden Tag auch wieder ändern.

7) On the West’s Demonization of Ancient Persia

These sentiments are as flawed as they are spurious. The Persians were never out to destroy “democracy” (whatever “democracy” means in its ancient context). In fact, many Ionian Greek city states continued to practice “democracy” under Persian rule—after all, the Persians recognized the Ionian Greeks’ dislike of autocratic tyrants and they happily replaced them with democracies. Had the Achaemenids brought the mainland Greeks into their empire, they doubtless would have tolerated democracy there as well. They might even have encouraged it. A Persian victory over Sparta—the most oppressive freedom-denying slave state of antiquity—would have been a win for liberty. It would have put an end to Sparta’s terrorist-like hold over the rest of Greece. The idea that the Persians inhibited and held back Europe’s cultural development is absurd. Since the era of the Greco-Persian Wars, the Persians themselves have been at the receiving end of a historiographic smear campaign in which they have been cast as the tyrannical oppressors of the free world. The Western intellectual commitment to the promotion of its own supposed singularity and superiority has been very damaging for the study of Persia’s history. It is time to rectify the long-standing injurious distortion that the Persians have suffered by giving ear to a genuine ancient Persian voice. (Lloyd Llewewlyn-Jones, Literary Hub)

Ein sehr wertvoller Artikel, der gut die Gefahren aufzeigt, heutige Interpretationsmuster und Normen direkt auf die Vergangenheit zu übertragen. Gerade die Stilisierung des antiken Griechenland als "Wiege der Demokratie" ist oft nicht mehr als eine Ansammlung von Bullshit, war doch die Demokratie selten und zeitlich auf eine kurze Periode beschränkt und mit dem, was wir unter dem Begriff verstehen, kaum vergleichbar. Umgekehrt ist die andere Stilisierung Griechenlands durch die Renaissance als Hort von Moderne, Kultur und Wissenschaft genauso Unfug. Wie Llewewlyn-Jones korrekt erklärt, waren die Perser hier den Griechen einiges voraus. Griechenland mag aus den Perserkriegen seine Identität bezogen haben (und wir über den Umweg der Renaissance gleich mit), aber für die Perser war Hellas kaum mehr als ein unzivilisiertes Hinterland, selten ihrer Aufmerksamkeit wert.

8) Blasphemy and the Original Meaning of the First Amendment

Until well into the twentieth century, American law recognized blasphemy as proscribable speech. The blackletter rule was clear. Constitutional liberty entailed a right to articulate views on religion, but not a right to commit blasphemy — the offense of “maliciously reviling God,” which encompassed “profane ridicule of Christ. ”The English common law had punished blasphemy as a crime, while excluding “disputes between learned men upon particular controverted points” from the scope of criminal blasphemy. Looking to this precedent, nineteenth-century American appellate courts consistently upheld proscriptions on blasphemy, drawing a line between punishable blasphemy and protected religious speech. At the close of the nineteenth century, the U.S. Supreme Court still assumed that the First Amendment did not “permit the publication of . . . blasphemous . . . articles.” And in 1921 the Maine Supreme Judicial Court affirmed a blasphemy conviction under the state’s First Amendment analogue. Even on the eve of American entry into World War II, the Tenth Circuit upheld an anti-blasphemy ordinance against a facial First Amendment challenge. Only in the postwar period did the doctrine promulgated by appellate courts begin to shift. [...] celebrating the absence of such laws as a core First Amendment principle,though treatise writers, noting the limited authority supporting the laws’ invalidity, tend to be more circumspect.This Note argues that none of the constitutional clauses currently thought to make anti-blasphemy laws unconstitutional — Free Exercise, Free Speech, Establishment — originally prohibited blasphemy prosecutions. In other words, the original public meaning of the First Amendment, whether in 1791 or in 1868,Present-day scholars often assume that anti-blasphemy laws are unconstitutional, allowed for criminalizing blasphemy. (Harvard Law Review)

Es bleibt für mich völlig unverständlich, wie irgendjemand Originalismus ernstnehmen kann. Es ist eine reine Pseudowissenschaft, die zu allem Überfluss auch noch an ihren eigenen Maßstäben gemessen konstant scheitert. Dieser Artikel aus dem Harvard Law Review ist dafür ein hervorragendes Beispiel: den republikanischen Parteigänger*innen im Supreme Court ist offenkundig die Kolonialgeschichte nicht so geläufig, wie sie gerne tun (das Scheitern an den eigenen Ansprüchen) während die "originalistische" Lesung gleichzeitig völlig absurde Konsequenzen hat. Mit dem Verständnis des 1st amendment, wie es die Founders hatten, kann man ziemlich problems die Republik Gilead gründen, aber sie ist völlig ungeeignet für das Leben im 21. Jahrhundert. Vermutlich ist es gut, dass Originalismus so ein Blendwerk ist; wenn die das wirklich ernstnehmen würden wäre das noch schlimmer.

9) Tödliche Ignoranz

Es reicht nicht aus, wenn die für diese Politik Verantwortlichen nun Fehler einräumen. Bei den alten Griechen wären solche Politiker per Scherbengericht für Jahre ins Exil verbannt worden. Heute könnten, deutlich weniger schmerzhaft, die Rücktritte von Herrn Steinmeier (SPD), von Frau Schwesig (SPD) und der Ausschluss von Ex-Kanzler Schröder aus der SPD dazu beitragen, die Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs der bundesdeutschen Sicherheitspolitik herzustellen. Alexander Kluge, Ingo Pies und Florian Post sind keine Einzelgänger. Sie vertreten Positionen, die in der Bundesrepublik derzeit noch mehrheitsfähig sind. Ein finnischer Bauer hat kürzlich auf die Frage, was er im Falle eines russischen Angriffs tun würde, geantwortet, er würde sein Gewehr holen. Sein Kollege in der Bundesrepublik würde sich wohl eher kampflos ergeben und sich dann in neue Machtverhältnisse unkompliziert einfügen. (Udo Knapp, taz)

Der Vergleich mit dem Scherbengericht ist interessant, weil es denselben Impuls bediente: unbedingt strafen und exorzieren zu wollen. Der beschränkt sich auch nicht auf die Politik, ist aber hier besonders weit verbreitet. Man kann sich ständig die rote Herzkönigin vorstellen: "Ab mit seinem Kopf!" Diese rituelle Zerstörung von Existenzen muss so ein Urzeitimpuls sein. Ironisch auch: Das Scherbengericht hat überhaupt nicht funktioniert. Letztlich war es ein Versuch, die Politik so zu zivilisieren, dass Morde nicht notwendig waren, um Machtfragen zu lösen, aber oft genug maskierte es bestenfalls die Verantwortungslosigkeit des demos, während Bürgerkriege und Invasionen von außen durch die ostrakierten ehemaligen Machthaber die schlimmeren Resultate waren...

10) Die Rückkehr der Politik

Über Jahrzehnte verhielten sich die Staaten des vulgär­liberalen westlichen Zeitalters wie Business-Anfänger: Sie zahlten, ohne Fragen zu stellen. Staaten investierten Milliarden in Rechts­sicherheit, Infrastruktur, Bildung und Technologien – und folgten danach brav der eisernen Doktrin, der Staat habe sich rauszuhalten. Sie gewährten, um nur ein Beispiel zu nennen, der Erdöl­industrie diskret die gewünschte Ruhe, wenn es um Abgaben gegangen wäre – und übernehmen seither diskret die Rechnung für Klima­schäden. Sie subventionierten Agrar­wirtschaft und Lebensmittel­industrie jährlich mit Milliarden – und liessen sich jedes Mal schüchtern des Raumes verweisen, wenn es um Umwelt­vorlagen oder Pestizide ging. Sie boten Unternehmen professionell ausgestattete Stand­orte mit Anschluss an Millionen­märkte – und verzichteten, diesen Zugang über Steuern angemessen zu verrechnen. Und so lief es jahrzehntelang: Sie zahlten und schwiegen – bis es eines Tages richtig teuer wurde. [...] Es war der Privat­sektor, der sich am heiligen Markt masslos überschuldet hatte. Trotzdem löste man in Teilen Europas die Krise nach dem gewohnten Rezept: Die Politik reichte die Rechnung kühl weiter an die Bürgerinnen – und bescherte so den Steuer­zahlern von Italien bis Irland eine riesige Staats­verschuldung, die Eurokrise und knallharte Sparprogramme. [...] Gut möglich, dass ohne die Pandemie Deutschland und die anderen europäischen Staats­chefs auf den Einmarsch in die Ukraine viel zurück­haltender, viel zu kleinmütig und viel zu spät reagiert hätten. So aber entschieden sie sich – zum ersten Mal, wie gesagt, seit ich denken kann – dafür, dass sie sich Freiheit etwas kosten lassen würden. Nicht einfach eine Geste. Sondern sehr, sehr viel Geld. [...] Wer glaubt, bei Klima­schutz oder Pandemie­bewältigung gehe es um regenbogen­farbene Wohlfühl­diskussionen, wie vielerorts gerade wieder gerne behauptet wird, der hat die Weltlage nicht im Geringsten verstanden: Es sind absolut existenzielle Fragen – und von höchster ökonomischer und sicherheits­politischer Relevanz. (Olivia Kühni, Republic.ch)

Ich habe schon öfter vom Paradigmenwechsel gesprochen, den wir derzeit beobachten können. Aktuell befinden wir uns in der langen Übergangsphase zwischen den Paradigmen, mit genügend Leuten, die versuchen, das Rad zurückzudrehen. Aber ich wäre schwer überrascht, wenn es eine Rückkehr in die selbst gewählte Machtlosigkeit der 1990er und 2000er Jahre geben würde. Selbst diejenigen, die die entsprechende Rhetorik nutzen, handeln anders, wenn sie in Handlungspositionen sind. Und der Aufstieg des Rechtspopulismus hat für genügend Anpassungsdruck gesorgt, dass diese Haltung kaum mehr möglich ist. - Im Übrigen sei der ganze obige Artikel zur Lektüre empfohlen, er ist sehr gut geschrieben und umfassend.

Resterampe

a) Elon Musk hat persönlich die Bestellung eines Kunden storniert, weil ihm ein Kommentar auf dem Tesla-Blog nicht gepasst hat. Aber klar, lasst den Mann Twitter kaufen. Was soll schon schief gehen?

b) Stichwort "gefühlte Wirklichkeiten": die Wahrnehmung von Verbrechensraten in New York und die Realität haben nicht das geringste miteinander zu tun. Das gleiche Phänomen sieht man bei der Zusammensetzung des Supreme Court; die Mehrheit hat eine völlig falsche Vorstellung. Lässt gewisse Rückschlüsse auf demokratische Politik zu.

c) Dieses Interview ist leider genauso typisch wie irre.

d) Dieser lange Artikel zur Marder-Lieferung begründet ausführlich, warum Deutschland nicht einfach Material schicken kann. Wie im letzten Vermischten besprochen habe ich keine Ahnung, inwieweit das zutrifft, aber es ist auf jeden Fall interessant.

e) Wo wir es gerade von Free Speech und Milliardären mit wesentlich zu viel Macht haben, hier ein Beispiel von Amazon.

f) Ich glaube ich habe den ultimativen Artikel zu Russland und der Ukraine gefunden.

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