Dienstag, 5. April 2022

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte: Geschlechtergerechte Sprache

 

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte: Geschlechtergerechte Sprache

Die Debatte um geschlechtergerechte Sprache ermüdet mich zunehmend. Ich würde davon ausgehen, damit nicht alleine zu sein. Alle Argumente sind hinreichend ausgetauscht, und mittlerweile ist ein Großteil dieser "Debatte" in der Hölle des identitätspolitischen Geschreis angelangt, wo einstmals kontroverse Positionen bis zur Unkenntlichkeit auf das Niveau geschrieener Slogans heruntergedummt sind (ich habe im letzten Vermischten schon auf Ulf Poschardts beknackte Idee hingewiesen, dass die Verwendung geschlechtergerechter Sprache die Wehrfähigkeit Deutschlands beeinträchtige). Umso willkommener ist dieser unaufgeregte Band der Bundeszentrale für politische Bildung, der das Thema wieder auf eine argumentative Ebene hebt und sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen Raum für echte Argumentation bietet - und, das empfinde ich als entscheidend, den Sprachwissenschaftler*innen eine breite Bühne gibt, die wissenschaftliche Sicht der Dinge zu präsentieren, statt immer nur Aktivist*innen sich anschreien zu lassen.

Ein letztes Zugeständnis an diese Art der Debatte dürften die "Sechs Perspektiven" sein, die zusammengenommen den ersten Beitrag bilden. Anne Wizorek plädiert für "Sprache als Spielraum" und "Spaß an der Sprache", zu einer Bereitschaft, Neues auszuprobieren und sich darauf einzulassen. Andreas und Silvana Rödder erklären, dass Sprache immer auch mit Macht zu tun hat und deswegen das Sichtbarmachen von Frauen und Minderheiten notwendig ist. Anatol Stefanowitsch stellt die "Diagnose Männersprache" und erklärt noch einmal den Zusammenhang von genus und sexus. Helga Kotthoff warnt in "Zwischen berechtigtem Anliegen und Symbolpolitik" vor Übertreibungen der Freunde geschlechtergerechter Sprache. Diese Kurz-Essays bieten keine neuen Thesen, packen sie aber auf nur vier Seiten für nicht so im Thema steckende Lesende gut zusammen.

Dagegen ließ mich Nele Pollatscheks "They: Gendern auf Englisch" kopfkratzend zurück. Von ihrer nicht eben bahnbrechenden Erkenntnis, dass das Englische leichter geschlechtergerecht geschrieben und gesprochen werden kann und dass "singular they" ein tolles Instrument ist geht das Essay dazu über, dass die meisten Berufsbezeichnungen im Englischen geschlechtsneutral sind. Nur - und jetzt? Der Tonfall des Essays impliziert ständig, dass die Angelsachsen irgendeine tolle Lösung gefunden hätten, die wir nur abschauen müssten, aber das geht ja offensichtlich nicht. Der überhebliche Ton lässt mich nur ratlos zurück.

Auffälliger ist Thomas Kronschläger in "Entgendern nach Phettberg", wo er kurz einen Ansatz zu einer radikaleren Umstellung der deutschen Sprache, das Einführen einer neutralen Version mit -y (Lesy und Lesys für Leser, beispielsweise), erklärt. Während die Einführung neutraler Bezeichnungen (statt -y gibt es auch die Variante mit -x oder Abbrüche vor der Flektion) grundsätzlich die sauberste und beste Lösung wäre, was die grammatikalische Kohärenz angeht, sehe ich keinerlei Aussicht, einen so radikalen Sprachwandel in den nächsten Jahrzehnten durchsetzen zu können; für mich bleibt das eine intellektuelle Fingerübung.

Der erste ausführliche Beitrag des Bandes stammt von Horst J. Simon, der "Geschlechtergerechtigkeit und Sprachwandel aus Sicht der Historischen Soziolinguistik" untersucht. Sein zentrales und wenig kontroverses Postulat ist, dass Sprache sich konstant wandelt. Was er unternimmt ist zu erklären, wie dies üblicherweise geschieht. Simon spricht von Normen, an denen wir unsere Sprache ausrichten. In Deutschland werden diese semi-verbindlich von Rechtschreibrat und Duden geregelt, haben aber wesentlich weniger Regelungskraft als dies etwa in Frankreich der Fall ist (aber mehr als etwa in den USA).

Relevant für den Sprachwandel ist daher mehr das Zusammenspiel von insgesamt vier Gruppen, die Sprachwandel betreiben. Erstens wären da Expert*innen, also Sprachwissenschaftler*innen wie er selbst, denen eine "hervorgehobene Rolle zukommen sollte", wobei der Konjunktiv bereits verräterisch ist. In der Debatte spielen sie, glaube ich, die geringste Rolle. Die zweite Gruppe sind die Modellsprecher*innen, vor allem Prominente und Journalist*innen. Sie sind unsere größte Quelle gesprochener Sprache und haben daher Vorbildfunktion. Simon zeigt sich allerdings sehr skeptisch gegenüber ihrem Vermögen, die Sprache tatsächlich zu ändern; dafür lassen sich kaum Belege finden. Die Sorgen der Konservativen sind hier also unnötig.

Gleiches gilt für die Autoritäten, also Schulen und Universitäten. Wie wohl die meisten Lehrkräfte aus trauriger Erfahrung bestätigen können, sind die Möglichkeiten hier deutlich überschaubar; ihre Setzungskraft ist insgesamt gering, auch wenn sie durch die Autoritätsschnittstelle eine hervorgehobene Rolle im System haben. Sprachwandel, so Simon, passiert hauptsächlich in der mit Abstand größten, vierten Gruppe: den Sprachnutzer*innen. Kurz gesagt: wenn die Menschen anfangen, die Sprache zu ändern, ändert sich die Sprache. Es ist leider notwendig, dass darauf ausführlich hingewiesen wird, weil in der völlig unsachlichen Diskussion diese elementare Wahrheit gerne zugunsten Horrorszenarien von 1984-kompatibler Beeinflussung gerne vergessen wird.

Unter den Schlagworten "Zumutung, Herausforderung, Notwendigkeit" diskutiert Carolin Müller-Spitzer den "Stand der Forschung zu geschlechtergerechter Sprache" zentral die Thematik des so genannten "generischen Maskulinums". Dieses von Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache gerne angeführte Element lässt sich sprachwissenschaftlich nicht belegen. Vielmehr beweist Studie um Studie, dass Frauen sich eben nicht mitgemeint fühlen - und Männer das auch so nicht meinen. Im Weiteren geht Müller-Spitz auch auf Alternativformen wie die Partizipialkonstruktion ein ("Lehrende" etc.), denen gerne vorgeworfen wird, sie seien missverständlich (weil etwa "tote Autofahrende" nach einem Unfall unlogisch sei), was ebenfalls so nicht belegbar ist. Schon Mark Twain übrigens bemerkte die Merkwürdigkeiten von genus und sexus in der deutschen Sprache, sie sind wahrlich kein neues Phänomen.

Eine Generalkritik der geschlechtergerechten Sprache kommt von Peter Eisenberg ("Weder geschlechtergerecht noch gendersensibel"). Er wirft bereits zu Beginn den Fehdehandschuh hin, indem er sich weigert, den Begriff "geschlechtergerecht" zu verwenden und stattdessen den Kampfbegriff der anderen Seite nutzt ("Gendern"). Er stellt Behauptungen auf, die sprachwissenschaftlich nicht haltbar sind - so präsentiert er mit generischem Maskulinum, Doppelnennung, der Kritik an Partizipformen und dem Genderstern genau die Argumente, die bereits vielfach widerlegt sind.

Miriam Linds und Damaris Lüblings "Sprache und Bewusstsein" stellt die grundlegende Frage, inwieweit Sprache eigentlich das Bewusstsein mitbestimmt. Gäbe es hier keinen Zusammenhang, so wäre die ganze Diskussion über geschlechtergerechte Frage, unabhängig von Grammatik- und Sprachwandeldiskussionen, ohnehin müßig. Die Autorinnen konzentrieren sich dabei unerwartet auf den "Nexus von Genus und Sexus". Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen beidem ausführlich.

Dabei weisen sie nach, dass es sich hier eben nicht nur um rein grammatikalische Vorgänge handelt, sondern dass zwischen dem grammatikalischen Geschlecht und seiner Wertung definitiv Zusammenhänge bestehen. Auch hier ist der Stand der Sprachwissenschaft einfach nicht, der von den Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache gerne behauptet wird.

Natürlich resultiert aus diesen Erkenntnissen - ob von Linds/Lübling oder den anderen Autor*innen des Bandes - explizit nicht, dass geschlechtergerechte Sprache genutzt werden muss, oder dass der Genderstern eine besonders gute Lösung ist. Alle wissenschaftlichen Autor*innen weisen explizit darauf hin, dass das nicht der Fall ist und dass sich aus ihren Erkenntnissen eben keine konkreten politischen Forderungen zwangsläufig ergeben (das beansprucht bezeichnenderweise nur Eisenberg für sich).

Interessant für die Debatte mag am Ende noch der Beitrag von Kristina Bedjis, Bettina Kluge und Dinah Leschzyk sein, der sich mit der Diskussion zur geschlechtergerechten Sprache in Spanien, Brasilien und Frankreich beschäftigt. In all diesen Ländern gibt es dieselbe Debatte, mit sehr ähnlichen Argumenten. Spezifisch sind eher die Lösungsformen. So gibt es im Spanischen wie Portugiesischen ebenfalls Versuche, geschlechtsneutrale Formen zu bilden und gibt es einen großen Konflikt um Berufsbezeichnungen. Auffällig ist, dass gerade im Spanischen wegen der Franco-Diktatur nicht einmal weibliche Berufsbezeichnungen existiert hatten, die erst in den 1970er Jahren nach seinem Tod zugelassen wurden, weswegen die Entwicklung hier um Jahrzehnte "zurückhängt". In Frankreich dagegen ist eine Besonderheit die starke Stellung des Staates in der Reglementierung der Sprache.

Kurz zusammengefasst: besonders die sprachwissenschaftlichen Beiträge lohnen die Lektüre, weil sie die Debatte versachlichen. Die Argumente für und wider sind ohnehin längst ausgetauscht und zu identitätspolitischen Konfliktlinien verkommen. Dieser Konflikt wird sich daran entscheiden, wie die Sprachanwender*innen sich am Ende entscheiden.

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