Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhardt den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.
Sie beginnen ihre Schilderung mit der Entstehungsgeschichte der Koalition in der Regierung Erhardt. Erhardt hatte den Job von einem nicht ganz freiwillig aus dem Amt scheidenden Adenauer zu hohen Hoffnungen übernommen. Seine Beliebtheitswerte als "Vater des Wirtschaftswunders" (sowohl seine Rolle als auch das "Wirtschaftswunder" generell sind wohl das beste politische Framing der bundesdeutschen Geschichte) machten ihn zu einer "Wahlkampflokomotive", die 1961 ins Stocken gekommen zu sein schien, und das Ergebnis bei der Wahl 1965 schien alle Hoffnungen zu bestätigen. Allein, Erhardt hatte kein glückliches Händchen, weder außen-, noch innen- noch machtpolitisch.
Außenpolitisch brach er hart mit Adenauers Außenpolitik des engen Bündnisses mit Frankreich, ohne auf der anderen Seite etwas vorweisen zu können - nicht, dass Adenauers Politik besser gewesen wäre; Erhardt manövrierte Deutschland aus einer Sackgasse, aber dem stand kein vorweisbarer Gewinn gegenüber, was seinem Ruf, es mit Außenpolitik nicht zu haben (an dem Adenauer immer mit Hingabe gebastelt hatte) nicht eben half. Innenpolitisch scheiterte Erhardt vollständig mit seiner Idee der "formierten Gesellschaft"; ansonsten fasste er nichts Großartiges an. Und machtpolitisch scheiterte er an der Umstrukturierung des politischen Prozesses. Er hoffte, auf Basis seiner persönlichen Beliebtheitswerte an Parlament und Parteien vorbei quasi plebiszitär regieren zu können, was spektakulär scheiterte. Die CDU ließ ihn fallen und die FDP verließ im Streit über Steuern (was auch sonst?) die Koalition.
Damit stand die Republik 1966 in ihrer ersten Regierungskrise (wie Schmoeckel und Kaiser allerdings zu Recht betonen nicht in einer Staatskrise). Effektiv blieben nur drei Optionen. Ein Rücktritt Erhardts und die Hoffnung, dass ein anderer Kanzler die FDP zurückbringen würde - ein eher aussichtsloses Verfahren. Neuwahlen in der Hoffnung, entweder die absolute Mehrheit zu erreichen oder die FDP in eine Koalition zurückzubringen - ebenso dubios. Oder aber mit der SPD eine Große Koalition eingehen und einige Grundsatzprobleme regeln, die sich ohnehin aufgestaut hatten. Dazu hätte auch die Einführung des Mehrheitswahlrechts gehört, die das Problem "FDP" endgültig geregelt hätte.
Mit der Entscheidung für die Große Koalition beginnt dann auch der eigentliche Teil des Buchs, aber bevor wir uns diesem zuwenden, muss ich einige Bemerkungen zum Buch selbst loswerden.
Zum einen ist es alt. 1991 erschienen liegt es näher an der Großen Koalition als an uns heute, und dieses Alter ist überall offenkundig. Das Buch ist ein klares Produkt der Bonner Republik, im Guten wie im Schlechten. Im Guten ist das seine Liebe zum parlamentarischen System der Bundesrepublik, zum Parlamentarismus, die so anders als das heutige ständige Meckern über Kompromisse und Wahlkampf und überhaupt. Es ist in dieser Hinsicht geradezu erfrischend. Im Schlechten ist das die Personenzentriertheit, das Bräsige "große Männer machen Politik", mit dem ganzen patriarchalischen Impetus eben jener Bonner Republik, in der ein kleiner, ausgewählter Zirkel definiert, was wichtig ist und die Entscheidungen trifft und der Rest der Republik die Klappe zu halten und gemessenen Schrittes alle vier Jahre seine Meinung per Stimmzettel kundzutun hat.
Zum anderen ist es von Fans geschrieben worden. Schmoeckel und Kaiser machen wenig hehl aus ihrer Liebe zur CDU im Allgemeinen und Kurt Georg Kiesinger im Besonderen. Sie arbeiteten beide für ihn und verfolgten Karrieren in der CDU. Ihr Buch hat die klare Mission, den Kanzler zu rehabilitieren. Das wird bereits durch die Quellenlage überdeutlich: Anlass der Abfassung war der Zugriff auf die frisch geöffneten Privatarchive Kiesingers, die denn auch die Quellengrundlage für den Band bieten. Die daraus erwachsenden Probleme sollten selbst Nicht-Historiker*innen sofort klar werden.
Aber selbst ohne diese Quellenlage kann man das Buch kaum anders denn als Hagiographie beschreiben. Ich werde das im Folgenden immer wieder thematisieren und an Beispielen verdeutlichen, während ich die grundsätzliche Argumentation nachverfolge und bewerte.
Das Ganze beginnt bereits bei der Kanzlerkandidatur selbst. In der CDU/CSU gab es vier Personen, die Ambitionen auf das Amt hatten: Franz Josef Strauß (der allerdings schnell einen Rückzieher machte), Gerhard Schröder, Rainer Barzel und Kurt Georg Kiesinger. Letzterer aber, so versichern uns Schmoeckel und Kaiser immer wieder, musste gerufen werden. Ihm waren die Belastung und Verantwortung des Amts bewusst, und nur sein Pflichtgefühl ließ ihn dann, als die Partei ihn bat, schweren Herzens den Weg nach Berlin antreten. Man kann glauben, dass gegen zwei sehr ambitionierte Machtpolitiker wie Barzel und Schröder quasi ein Ruf erfolgte. Oder annehmen, dass Kiesinger schon auch in der Lage war, die eigenen Ambitionen zu verfolgen. Ich weiß, welche Version ich glaube, aber Schmoeckel und Kaiser mögen diese altmodischen Narrative, wie gesagt. Kiesinger war damit aber, so viel ist sicher, der letzte seiner Art. Die Idee, man müsse "gerufen" werden, ist nachhaltig aus der Mode gekommen. Heute wird sich beworben.
Die Koalition war auch in der SPD nicht eben unumstritten. Willy Brandt war bekanntlich kein großer Freund der Idee; er bevorzugte die Koalition mit der FDP (rechnerisch möglich, mit einer Mehrheit von gerade einmal sechs Stimmen). Herbert Wehner und Helmut Schmidt dagegen favorisierten die Große Koalition; sie würden sich auch durchsetzen. Beide hatten das für Schmoeckel und Kaiser richtige Verhältnis zu Kiesinger, nämlich eines des Respekts und der Unterordnung. In dem Bild, das die beiden Autoren zeichnen, erkennen die beiden SPD-Politiker die Vorrangstellung des Christdemokraten an; ihr hervorstechendstes Charaktermerkmal ist, dass sie gut mit ihm zusammenarbeiten. Willy Brandt, der stets den Blick auf die Wahl 1969 gerichtet hat, mögen beide offensichtlich nicht; immer wieder sticheln sie gegen ihn, weil er Kiesinger nicht rückhaltlos unterstützte, sondern Wahlkampf für die eigene Partei betrieb. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Autoren das deutsche Staatsinteresse und die Person Kiesingers gleichsetzen, ist ein faszinierender Einblick in die Mentalität der CDU jener Zeit.
Überhaupt ist das Werk über weite Strecken eine Aufarbeitung und Abrechnung damaliger Streitigkeiten. Ständige Verweise auf arkane politische Manöver, die seinerzeit für ein, zwei Tage in den Schlagzeilen waren, aber letztlich keine historische Bedeutung haben, durchziehen das Buch. Durchstechereien, Meinungsverschiedenheiten, Interviews - Schmoecker und Kaiser lassen keine Gelegenheit aus zu zeigen, was für ein Prachtkerl ohne Fehl und Tadel Kiesinger ist. Fairerweise muss man ihnen zugestehen, dass sie die SPD- und FDP-Politiker jener Zeit ebenfalls insgesamt sehr positiv darstellen (erneut: man merkt die Parlamentarismus-Freundlichkeit), aber bei Kiesinger wird es nachgerade albern.
Das betrifft natürlich auch den größten Problempunkt seiner Person: die NSDAP-Mitgliedschaft. Kiesinger war der einzige Kanzler, der Mitglied in der Partei gewesen war. Ein komplettes Kapitel ist der Relativierung dieser Tatsache gewidmet. Mit Tränen in den Augen erzählen Schmoeckel und Kaiser die (durchaus wahre) Geschichte vom Jurastudenten Kiesinger, der sich aus der Provinz hochgearbeitet hat und durch Repetitorien das Brot auf den Tisch bekommt. Seinen NSDAP-Eintritt 1933 erklären sie denn auch mit der Notwendigkeit, weiter arbeiten zu können. Man wäre geneigt, der Argumentation zu folgen, kennte man nicht den zeitgleich Jura studierenden Sebastian Haffner, der auch nicht in die NSDAP eintrat und seine gute Distanz zum Regime wahrte - und trotzdem das Referat ablegte und nicht an der Ausübung seines Berufs gehindert wurde.
Nein, Schmoeckel und Kaiser haben Recht, wenn sie betonen, dass Kiesinger kein überzeugter Nazi war und keine hervorgehobene Rolle im Regime besaß, wie es die schrille Kritik von links in den 1960er und 1970er Jahren behauptete. Aber sie gehen wesentlich zu weit. Nicht nur eine internationale Verschwörung dichten sie dazu (sowohl das westliche als auch das östliche Ausland machten die Geschichte salonfähig); sie stilisieren Kiesinger auch noch quasi zum Widerständler. Zwar bringen sie einen entschuldigenden Satz à la "Das heißt natürlich nicht, dass er ein Widerstandskämpfer war", aber in den folgenden Absätzen sagen sie dann doch genau das. He doth protest too much. Auch die 68er werden noch mitverantwortlich gemacht (nicht zu Unrecht).
Fakt ist: Kiesinger hat es sich im Dritten Reich so bequem wie möglich gemacht. Er war kein überzeugter Nazi, aber es ist nicht eben so, als hätte er große Probleme mit dem System gehabt. Seine Konversion zum Demokraten kam erst nach dem Krieg. Das ist keine Schande, aber das darf man schon so benennen - gerade auch im Kontrast zu Leuten wie Willy Brandt, ein Kontrast übrigens, den die Autoren durch geradezu ostentative Auslassung dezidiert vermeiden. Stattdessen stellen sie Wehner entgegen, was ihrem Argument natürlich dient, aber letztlich eine falsche Äquivalenz ist. Denn erstens standen mit Leuten wie Haffner oder Brandt positive Rollenbilder zur Verfügung, und zweitens büßte Wehner schwer für seine kommunistische Zeit - ganz anders als Kiesinger, der für Schmoecker und Kaiser mit ein bisschen publizistischer Kritik, studentischen Demos und Klarsfelds Ohrfeige geradezu gecancelt wurde, wie man heute sagen würde.
Aber zurück zur eigentlichen Koalition. Schmoecker und Kaiser beackern zuerst das Feld der Außenpolitik. Und das hieß damals vorrangig: Deutschlandpolitik. Auch hier bemerkt man sofort den kuriosen Standpunkt der beiden Autoren: 1991 war mit dem Kollaps des Ostblocks die Ostpolitik-Nostalgie auf einem ersten Höhepunkt. Die beiden sind aber klare CDU-Parteigänger und Kiesinger-Fans, weswegen sie die (damals uneingeschränkt erfolgreich erscheindende) Ostpolitik kritisieren mussten. Die Auseinandersetzung damit erfolgt deswegen in einer merkwürdig kleinlichen Weise: die Ostpolitik wird nicht grundsätzlich kritisiert (wie das heute geschieht; ich habe mit Jan C. Behrends im Podcast darüber gesprochen), sondern es geht vor allem um die Performance.
Beständig versichern und Schmoecker und Kaiser der Klugheit Kiesingers, der "Geduld und Disziplin" aufweist, wo (vor allem) Brandt wesentlich forscher ist. Auch Kiesinger, so versichern sie uns, wollte die Öffnung zum Osten, allerdings durch Wirtschaftsbeziehungen, denen dann die politische Öffnung folgen sollte (anstatt umgekehrt, wie es die sozialliberale Koalition und der Osten wollten). Das gipfelt dann in der Behauptung, dass die Ostpolitik genauso unter Kiesinger auch gekommen wäre, nur "einige Jahre später", dafür aber in einer unspezifiziert besseren Form.
Dieses Ungefähre behalten die Autoren auch bei der restlichen Außenpolitik bei. So erfahren wir, wie klug und diszipliniert und geduldig (alle drei Adjektive kommen in einer absurden Häufung vor) Kiesinger an die Beziehungen zu Frankreich und den USA heranging. Wir erfahren etwa, dass er das Verhältnis zu den USA reparierte, indem er "geduldig" war, und dass er das angespannte Verhältnis zu Frankreich entspannte, indem er "geduldig" war. Worauf das hinausläuft ist in beiden Fällen, dass äußere Ereignisse - der Sturz de Gaulles und der Prager Frühling - die außenpolitischen Rahmenbedingungen änderten. Merkel wäre stolz. Warten auf Godot und Hoffen auf bessere Zeiten sind natürlich Möglichkeiten, aber die Stilisierung Kiesingers zum großen Staatsmann, weil er nichts getan hat, ist teilweise einfach nur peinlich, wenn sich die Autoren etwa in mehreren Paragraphen darüber ergehen, wie toll er die deutsch-amerikanischen Beziehungen verbessert habe, um dann am Ende verschämt einzugestehen, dass sich "substanziell" nichts verbessert habe, aber eine Regionalzeitung in der Fußnote zitieren, die die Staatsmännigkeit Kiesingers bewundert.
Viel davon ist das Problem der Parteilichkeit, der Mission der Autoren. Sie sind so versessen darauf, Kiesinger und die Große Koalition zu rehabilitieren, dass sie sich auf ein erneutes Ausfechten der innenpolitischen Konflikte von damals beschränken. Jede kleine Episode wird erneut hervorgekramt und neu interpretiert, anstatt den analytischen Rahmen entsprechend abzustecken. Denn Kiesingers Regierung nahm ja tatsächlich viele Öffnungsschritte Brandts und Scheels vorweg. Auch der Umgang mit Frankreich und Großbritannien sowie den USA in der Doppelkrise von NATO und WEU (die in einer ironischen Umkehrung der heutigen Verhältnisse vom Ausstieg Frankreichs und dem engagierten Willen Großbritanniens zur europäischen Zusammenarbeit bestimmt war) war durchaus nicht ungeschickt, gerade angesichts der beschränkten deutschen Handlungsfähigkeit. Aber permanent ziehen die Autoren alles in den Schmutz einer politischen Auseinandersetzung hinunter, die 1991 schon 25 Jahre zurücklag und heute geradezu antik anmutet.
Die Substanz ist demgegenüber auch überschaubar. Frankreich blockierte die europäische Integration, weil de Gaulle ein völlig veraltetes Bild von Souveränität besaß. Von den Unruhen 1968 wurde er - wie praktisch alle damals, was Schmoecker und Kaiser aber nicht von einer Attittüde des "wir haben das natürlich gewusst und Kiesinger auch" abhält - völlig überrascht und hinweggefegt. Schmoeckel und Kaiser schreiben hier, die Franzosen "haben ihren Präsidenten nicht verstanden", was ein geradezu absurdes Statement und Ausdruck eines mittlerweile völlig untergegangenen Politikverständnisses ist. Vielleicht hätte sich de Gaulle, in Anlehnung an Brecht, ein anderes Staatsvolk suchen sollen.
Großbritannien indes drängte in die EWG. Was mir bisher neu war ist, dass die Blockade der EWG durch Frankreich ("Politik des leeren Stuhls") dazu führte, dass Deutschland, Italien und die BeNeLux-Staaten mit Großbritannien über Schritte einer tieferen POLITISCHEN Integration verhandelten, weil Frankreich "nur" eine Freihandelszone mit angeschlossenen Agrarsubventionen wollte. Die Ironie dieser seither völlig umgekehrten Verhältnisse ist mit Händen zu greifen. Es erledigte sich dann ab 1969 mit der Amtszeit Pompidous. Die Autoren beklagen hier, dass die Früchte von Kiesingers disziplinierter und geduldiger Politik dann Brandt in den Schoß fielen.
All das verdeckt, dass unter Kiesinger eine genuine Öffnung stattfand. Zum ersten Mal nahm eine westdeutsche Regierung einen Brief aus Ostdeutschland an, aber die Kontakte kamen nicht weit. In der Darstellung der Autoren bleiben die Gründe dafür merkwürdig unklar - sie insinuieren aber gerne Absprachen zwischen Brandt/Scheel und Ostberlin -, aber zwischen den Zeilen kann man relativ leicht erkennen, dass es vor allem zwei Probleme waren: einerseits mauerte die DDR, weil Moskau es befahl: die osteuropäischen Staaten sollten keine eigene Außenpolitik betreiben, ein Fakt, woran de Gaulle gescheitert war (Stichwort altmodische Konzeptionen, wir sprachen darüber). Aber der Weg über Moskau in eine strukturierte Ostpolitik war Kiesinger versperrt, und das ist der zweite Faktor: die CDU machte das einfach nicht mit. Kiesinger konnte zwar endgültig den alten Zopf der Hallstein-Doktrin abschneiden - keine Kleinigkeit! - aber in dieser Leistung erschöpfte sich sein außenpolitischer Gestaltungsspielraum dann auch.
Ob ein größerer Wille bestand, sei einmal dahingestellt. Die Autoren selbst greifen in ihrer abschließenden Betrachtung einer hypothetischen zweiten Kiesinger-Amtszeit mit ihrer besseren, geduldigeren Ostpolitik einen weiteren politischen Streitpunkt jener Tage auf, nämlich dass die sozialliberale Koalition effektiv das Gesetz gebrochen habe. Dieser konservative talking point war seinerzeit beständig in Gebrauch (die Sozialdemokraten und Linksliberalen als Vaterlandsverräter hinzustellen, ist gewissermaßen konservative Tradition), ist aber bereits 1991 ein völliger Anachronismus. Das Bundesverfassungsgericht hat die Angelegenheit bereits in den 1970er Jahren völlig im Sinne Brandts und Scheels entschieden; Schmoecklers und Kaisers Nachtreten wirkt da wie das Granteln zweier alter Männer, die nicht loslassen können, was ihnen vor 25 Jahren an Unrecht angetan wurde. Aus heutiger Perspektive ist diese Konzentration auf die alten Streitpunkte ein Übersehen des Walds vor lauter Bäumen. Eine grundsätzlichere Kritik der "Handel durch Wandel"-Theorie, wie sie heute en vogue ist, konnte 1991 nicht entstehen - diese war ja gerade in vollem Aufschwung und würde durch die Gründung der WTO 1995 ihren krönenden Abschluss finden. Zeitgleich mit Schmoeckler und Kaiser formulierte Francis Fukuyama seine These vom "Ende der Geschichte"!
Es überrascht nicht, dass sich dieses Muster im dritten großen Teil des Buches, der sich mit Innen- und Gesellschaftspolitik beschäftigt, wiederfindet. Am prominentesten ist hier sicher die Auseinandersetzung mit 1968. Für eine ganze politische Generation ist "1968" ein Schlüsselerlebnis, eine Chiffre, die bestimmend war und an der sie sich immer wieder abarbeiteten. Die einen traten den "Marsch durch die Institutionen" an, während die anderen ihr restliches Leben damit zubrachten, wieder und wieder zu versichern, wie falsch "die 68er" lagen.
Ich halte das Phänomen generell für völlig überbewertet. Weil es aber in einer ganzen Elitengeneration so formativ war, hat es diese Überhöhung bekommen. Dieses merkwürdige Paradox findet sich auch hier. So beeilen sich Schmoeckel und Kaiser zwar zu versichern, dass die 68er ein totales Minderheitenphänomen waren, um zu zeigen, was für hoffnungslos radikale und randständige Ideen dort vertreten wurden. Kaum zwei Absätze später aber ist 68 dann eine "Massenhysterie", der sich nur "sehr gefestigte Geister" zu entziehen wussten. Man darf annehmen, dass Schmockel und Kaiser solche "gefestigten Geister" waren. Ganz sicher gehörte Kiesinger zu ihnen.
Auch hier steht den Autoren bei ihrer Analyse das ständige Arbarbeiten an längst vergangenen ideologischen Kleinkriegen im Weg. Während sie völlig korrekt feststellen, dass die Proteste vor allem sozialpsychologisch erklärt werden müssen, steigern sie sich völlig in eine Dämonisierung der Demonstrierenden hinein, die völlig inkonsistent mal als ungezogene Kinder ohne jede Ahnung, dann als Wegbereiter eines gewaltsamen Umbruchs hingestellt werden. Diese verkrampfte Haltung zu 68 ist typisch und sollte ihr letztes Hurra in der rot-grünen Koalition erleben, als noch einmal die Vergangenheit Joschka Fischers, Otto Schilys und Horst Mahlers aufbereitet wurde. Ich glaube, Jürgen Pispers hat völlig Recht damit wenn er diese Obsession damit erklärt, dass die Konservativen es den 68ern nie verziehen haben, dass diese sowohl 1968 als Revoluzzer Spaß hatten als auch nach dem Marsch durch die Institutionen in den 1990er und 2000er Jahren. Man darf hoffen, dass mit dem Abtreten dieser Generation - im Bundestag halten sich nur noch einige wenige Methusalems als lebende Relikte dieser Epoche - ein nüchterner, realistischerer Blick eintritt.
Die spezielle Prioritätensetzung der Autoren zieht sich auch mit dem nächsten Kapitel durch. In diesem geht es um den Aufstieg der NPD in jenen Jahren. 1966 bis 1968 sprang die Partei in praktisch alle Landtage (größter Erfolg: Baden-Württemberg, 9,8%). 1969 verpasste sie den Einzug in den Bundestag mit 4,6% knapp. Schmoeckel und Kaiser betonen wie auch bei der APO (in meinen Augen zu Recht), dass die Große Koalition nicht der Auslöser für diesen Erfolg war. Stattdessen argumentieren sie in einer auffälligen Parallele zum Diskurs um die AfD, dass die Spitze der Partei sich bewusst bürgerlich gab und die NPD völlig legitime Unzufriedenheit aufgriff (die, wie sie schnell versichern, zudem auf linker Seite ein völlig gleichwertiges Pendant in der APO hatte), mit Wählenden aus allen Parteien gleichermaßen. Entrüstet weisen sie die Idee, dass vor allem CDU und FDP das Reservoir der Wählenden gebildet hätten, zurück. Die Quelle? Eine Verlautbarung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Ernsthaft, der Aufstieg der NPD hatte in den 1960er Jahren mindestens so viel Aufmerksamkeit verursacht wie der der AfD, mit zig Untersuchungen von Demoskopie und Politikwissenschaft. Und der Anteil der Wählenden mit Wurzeln in der SPD war mit Sicherheit nicht äquivalent zu dem der CDU. Die offensichtliche Parteilichkeit der Autoren steht ihnen hier wieder im Weg.
Im folgenden Kapitel geht es an die inneren Reformen. Hier wären vor allem die Grundgesetzänderungen zu nennen. Am bekanntesten sind sicher die Notstandsgesetze, die von den Autoren überraschend stiefmütterlich behandelt werden; zu Recht weisen sie daraufhin, wie überzogen die damalige Furcht vor ihnen war, lassen sie aber effektiv in einem Vakuum passieren (mehr dazu im Buch "Die Stunde der Exekutive", hier besprochen): die lange Vorarbeit an den Gesetzen unterschlagen sie ebenso wie die Genese des Koalitionskompromisses; die SPD sieht einfach nur das Licht und folgt der weisen Führung Kiesingers. Das betrifft auch die anderen Grundgesetzänderungen. Die Große Koalition hat in drei Jahren mehr davon auf den Weg gebracht als die Regierungen 1949-1969 oder die 1969-1991, was die Autoren als große Leistung sehen. Sicher, aber die reine Menge an Grundgesetzänderungen als Maßstab ist schon etwas merkwürdig. Hier zeigt sich auch einmal mehr das Alter des Buches: angesichts der schieren Menge an Grundgesetzänderungen seither dürfte die Arbeit der Großen Koalition mittlerweile nicht mehr so hervorstechen, und das ist durchaus positiv gemeint.
Auch die restlichen Gesetzesreformen werden nur im Streifzug behandelt: eine Förderalismusreform, die überhaupt erst die Grundlagen für den heutigen Staatsaufbau schuf (Stichwort kooperativer Föderalismus); die Wirtschaftsgesetzgebung, die tiefgreifend veränderte, wie der Staat Wirtschaftspolitik machen kann (Stichwort Stabilitäts- und Wachstumsgesetz); und nicht zuletzt die gewaltige Strafrechtsreform, deren Arbeit dann von der sozialliberalen Koalition fortgesetzt werden würde. Dieses Kapitel fällt unglaublich dürr aus, kaum 20 Seiten werden für diese Mammutreformen investiert, was angesichts der Konzentration auf politische Spiegelfechterereien vorher geradezu absurd ist. Hier würde man gerne mehr erfahren, aber über Seitenhiebe auf die SPD und FDP, die die weisen Vorschläge der CDU später nicht weiter umgesetzt haben, sondern eigene Wege gingen, und eine gleichzeitige Neutralisierung von CDU-Blockaden (wir erfahren, dass erst die Große Koalition den Grundgesetzauftrag, uneheliche Kinder gleich zu behandeln, vollenden konnte, "was vorherige Regierungen nicht schafften"; man fragt sich, warum nicht).
Im nächsten Kapitel befassen sich Schmoeckel und Kaiser mit der Wirtschaftspolitik. Es gehört zum großen Vergessen jener Epoche, dass der Amtsantritt der Großen Koalition mit der ersten Rezession der Nachkriegsgeschichte zusammenfiel - sagenhafte 3% Arbeitslosigkeit ließen die Republik erzittern. Hervorgerufen wurde die Rezession durch eine Leitzinserhöhung der Bundesbank, die inflationären Druck fürchtete (etwa 3,5% Mitte der 1960er Jahre; "sehr hoch für deutsche Verhältnisse", wie die Autoren schreiben). Die Antwort der neuen Regierung, maßgeblich durch SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller konzipiert, war das bereits erwähnte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sowie das erste Investitonsprogramm. Wie die Autoren korrekt betonen, war das ein Gezeitenwechsel der deutschen Wirtschaftspolitik.
Leider gehen sie nicht näher darauf ein, warum und was passierte, daher einige ergänzende Worte. Das "Wirtschaftswunder" war Mitte der 1960er Jahre ausgelaufen (mehr dazu im bereits verlinkten Artikel). Die beginnende Arbeitslosigkeit repräsentierte eine Unterauslastung der Wirtschaft - die gestiegenen Zinsen im Gleichklang mit erhöhten Steuern - die Regierung wollte einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen! - hatten die Investitionstätigkeit zum Erliegen gebracht. Deswegen wurde ein "Eventualhaushalt" verabschiedet, ein spezieller Haushalt für staatliche Investitionen. Der "normale" Haushalt war ausgeglichen, während der "Eventualhaushalt" massive Investitionen in die Infrastruktur ermöglichte, wo viel Potenzial brachlag. Innerhalb eines knappen Jahres herrschte wieder Vollbeschäftigung. Wer Parallelen zur Lage heute (2022) und dem Finanz-Jiujitsu der Ampel-Regierung findet, darf sie behalten.
Die Finanzpolitik spielt auch weiter eine Rolle. Die Erhardt-Regierung war vorrangig daran zerbrochen, dass der Haushalt nicht ausgeglichen werden konnte. Die Große Koalition vollbrachte dieses Wunderwerk vor allem durch zwei Faktoren: eine Kombination aus Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen - und das durch die Investitionen des "Eventualhaushalts" stimulierte neue Wachstum. Frankreich, das auf eine ähnliche Strategie von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen setzte, hatte damit (wenig überraschend) keinen Erfolgt; stattdessen erlebte es eine Anlagenflucht nach Deutschland.
Diese Anlagenflucht war ein Symptom des zerbrechenden Bretton-Woods-Systems fixierter Wechselkurse. Die DM war massiv unterbewertet, was den deutschen Aufschwung ebenfalls mitbefeuerte. Das Ausland - hauptsächlich die USA und Frankreich - drängten deswegen auf eine Aufwertung der DM. Die CDU war kategorisch dagegen, die SPD war dafür. Es gehört wohl zu den Kuriositäten der bundesdeutschen Geschichte, dass das abstrakte Thema "DM-Aufwertung" zum Wahlkampfschlager wurde. Es war ein kalkulierter Streit der SPD, die das eigentlich eher nebensächliche Thema zur Grundsatzfrage hochjazzte, um sich von der CDU absetzen zu können, die die SPD - in einer Vorwegnahme Merkels späterer Taktik - in einer engen Umarmung zu marginalisieren suchte.
Die Besonderheit des Themas war auch, dass die SPD die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaft hinter sich wusste. Zwar gab es einige wenige Dissidenten (die Schmoeckel und Kaiser im Gegensatz zum Konsens ausführlich zitieren), aber die Forderung nach einer Aufwertung war schlichtweg common sense. Das wissen auch die Autoren; mit mahnendem Zeigefinger weisen sie auf den politischen Druck durch ihre Kernwählendenschichten (etwa die Landwirt*innen) hin, unter dem die CDU stand und den man neben den wissenschaftlichen Fakten eben auch verstehen müsse (ähnliches Verständnis für die SPD und FDP bringen sie keines auf). Genau diesen Zusammenhang aber vergessen sie gleich wieder, wenn sie versuchen, den (zutreffenden) Vorwurf zu entkräften, dass die verschleppte Aufwertung die Inflation ab 1969 schlimmer als nötig gemacht hatte. Sie erklären in moralisierendem Tonfall, man dürfe sich nicht in "Was wäre wenn" ergehen, um gleich anzudeuten, dass wenn die SPD nur vollständig die Positionen der CDU übernommen hätte, alles besser gekommen wäre - von der Tatsache, dass sie in anderen Bereichen wie der Ostpolitik ausführliche "Was wäre wenn" zulassen, einmal ganz abgesehen.
Auf den letzten kaum 20 Seiten wenden sich die Autoren dann dem innenpolitischen Reformprogramm zu. Eilig betonen sie, dass nichts Originelles an den Vorschlägen von SPD und FDP war; eigentlich hatte die CDU alles bereits vorweggenommen. Ihr Kernargument allerdings, dass viele später der sozialliberalen Koalition zugeschriebenen Reformen eigentlich in der Großen Koalition gefasst wurden, ist absolut zutreffend. Die Koalition legte vor allem den Grundstein der Modernisierung. Nicht nur wurde mit der "mittelfristigen Finanzplanung" die Grundlage der modernen Wirtschaftspolitik geschaffen (wor 1967 wurden Haushalte stets nur auf ein Jahr geplant und keine Prognose in die Zukunft gemacht, eine völlige Absurdität aus heutiger Sicht).
Die Große Koalition schleifte auch zahlreiche überkommene und mittlerweile völlig aus der Zeit geratene Standesunterschiede. Von der Ungleichbehandlung von Arbeiter*innen und Angestellten zum Umstieg von Fürsorge zu Lebensstandardsicherung bei den Sozialleistungen bis hin zum Bafög leistete die Koalition viele ungeheuer wichtige Reformen, die wohl nur in der CDU-SPD-Konstellation so möglich waren. Kurios erscheint ein Teil zur Rentenpolitik: bereits 1967 war demnach das baldige Zusammenbrechen des Rentensystems durch den demografischen Faktor erkennbar gewesen, dass heute (1991) aber ganz sicher voll durchschlagen würde. Mittlerweile sind wir 50 Jahre weiter, und der Zusammenbruch lässt immer noch auf sich warten, dräut aber stets gleich hinterm Horizont.
Die Autoren beenden ihr Werk mit einem kleinen Ausblick auf die 1991 relevanten Deutungen der Koalition und bestätigen noch einmal, was für ein Prachtkerl ihr ehemaliger Chef Kiesinger war. Während sie mit Sicherheit Recht haben, dass die Große Koalition besser ist als ihr Ruf und Kiesinger durchaus mehr Anerkennung für seine Amtszeit und seine Verdienste gebührt, dürfte ihr Buch auch deswegen keinen so großen Eindruck hinterlassen und wenig Erfolg gehabt haben, weil sie es auf die andere Seite völlig überziehen und eine Hagiografie schreiben. Und das braucht halt auch keiner.
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