Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Große Koalition, Anthropozän, Maus, Sandman, Verfassungsgeschichte, Deng Xiaoping
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Rente
Bücher
Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhard den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.
Sie beginnen ihre Schilderung mit der Entstehungsgeschichte der Koalition in der Regierung Erhard. Erhard hatte den Job von einem nicht ganz freiwillig aus dem Amt scheidenden Adenauer zu hohen Hoffnungen übernommen. Seine Beliebtheitswerte als „Vater des Wirtschaftswunders“ (sowohl seine Rolle als auch das „Wirtschaftswunder“ generell sind wohl das beste politische Framing der bundesdeutschen Geschichte) machten ihn zu einer „Wahlkampflokomotive“, die 1961 ins Stocken gekommen zu sein schien, und das Ergebnis bei der Wahl 1965 schien alle Hoffnungen zu bestätigen. Allein, Erhard hatte kein glückliches Händchen, weder außen-, noch innen- noch machtpolitisch.
Außenpolitisch brach er hart mit Adenauers Außenpolitik des engen Bündnisses mit Frankreich, ohne auf der anderen Seite etwas vorweisen zu können – nicht, dass Adenauers Politik besser gewesen wäre; Erhard manövrierte Deutschland aus einer Sackgasse, aber dem stand kein vorweisbarer Gewinn gegenüber, was seinem Ruf, es mit Außenpolitik nicht zu haben (an dem Adenauer immer mit Hingabe gebastelt hatte) nicht eben half. Innenpolitisch scheiterte Erhard vollständig mit seiner Idee der „formierten Gesellschaft“; ansonsten fasste er nichts Großartiges an. Und machtpolitisch scheiterte er an der Umstrukturierung des politischen Prozesses. Er hoffte, auf Basis seiner persönlichen Beliebtheitswerte an Parlament und Parteien vorbei quasi plebiszitär regieren zu können, was spektakulär scheiterte. Die CDU ließ ihn fallen und die FDP verließ im Streit über Steuern (was auch sonst?) die Koalition.
Damit stand die Republik 1966 in ihrer ersten Regierungskrise (wie Schmoeckel und Kaiser allerdings zu Recht betonen nicht in einer Staatskrise). Effektiv blieben nur drei Optionen. Ein Rücktritt Erhard und die Hoffnung, dass ein anderer Kanzler die FDP zurückbringen würde – ein eher aussichtsloses Verfahren. Neuwahlen in der Hoffnung, entweder die absolute Mehrheit zu erreichen oder die FDP in eine Koalition zurückzubringen – ebenso dubios. Oder aber mit der SPD eine Große Koalition eingehen und einige Grundsatzprobleme regeln, die sich ohnehin aufgestaut hatten. Dazu hätte auch die Einführung des Mehrheitswahlrechts gehört, die das Problem „FDP“ endgültig geregelt hätte.
Mit der Entscheidung für die Große Koalition beginnt dann auch der eigentliche Teil des Buchs, aber bevor wir uns diesem zuwenden, muss ich einige Bemerkungen zum Buch selbst loswerden.
Zum einen ist es alt. 1991 erschienen liegt es näher an der Großen Koalition als an uns heute, und dieses Alter ist überall offenkundig. Das Buch ist ein klares Produkt der Bonner Republik, im Guten wie im Schlechten. Im Guten ist das seine Liebe zum parlamentarischen System der Bundesrepublik, zum Parlamentarismus, die so anders als das heutige ständige Meckern über Kompromisse und Wahlkampf und überhaupt. Es ist in dieser Hinsicht geradezu erfrischend. Im Schlechten ist das die Personenzentriertheit, das Bräsige „große Männer machen Politik“, mit dem ganzen patriarchalischen Impetus eben jener Bonner Republik, in der ein kleiner, ausgewählter Zirkel definiert, was wichtig ist und die Entscheidungen trifft und der Rest der Republik die Klappe zu halten und gemessenen Schrittes alle vier Jahre seine Meinung per Stimmzettel kundzutun hat.
Zum anderen ist es von Fans geschrieben worden. Schmoeckel und Kaiser machen wenig hehl aus ihrer Liebe zur CDU im Allgemeinen und Kurt Georg Kiesinger im Besonderen. Sie arbeiteten beide für ihn und verfolgten Karrieren in der CDU. Ihr Buch hat die klare Mission, den Kanzler zu rehabilitieren. Das wird bereits durch die Quellenlage überdeutlich: Anlass der Abfassung war der Zugriff auf die frisch geöffneten Privatarchive Kiesingers, die denn auch die Quellengrundlage für den Band bieten. Die daraus erwachsenden Probleme sollten selbst Nicht-Historiker*innen sofort klar werden.
Aber selbst ohne diese Quellenlage kann man das Buch kaum anders denn als Hagiographie beschreiben. Ich werde das im Folgenden immer wieder thematisieren und an Beispielen verdeutlichen, während ich die grundsätzliche Argumentation nachverfolge und bewerte.
Das Ganze beginnt bereits bei der Kanzlerkandidatur selbst. In der CDU/CSU gab es vier Personen, die Ambitionen auf das Amt hatten: Franz Josef Strauß (der allerdings schnell einen Rückzieher machte), Gerhard Schröder, Rainer Barzel und Kurt Georg Kiesinger. Letzterer aber, so versichern uns Schmoeckel und Kaiser immer wieder, musste gerufen werden. Ihm waren die Belastung und Verantwortung des Amts bewusst, und nur sein Pflichtgefühl ließ ihn dann, als die Partei ihn bat, schweren Herzens den Weg nach Berlin antreten. Man kann glauben, dass gegen zwei sehr ambitionierte Machtpolitiker wie Barzel und Schröder quasi ein Ruf erfolgte. Oder annehmen, dass Kiesinger schon auch in der Lage war, die eigenen Ambitionen zu verfolgen. Ich weiß, welche Version ich glaube, aber Schmoeckel und Kaiser mögen diese altmodischen Narrative, wie gesagt. Kiesinger war damit aber, so viel ist sicher, der letzte seiner Art. Die Idee, man müsse „gerufen“ werden, ist nachhaltig aus der Mode gekommen. Heute wird sich beworben.
Die Koalition war auch in der SPD nicht eben unumstritten. Willy Brandt war bekanntlich kein großer Freund der Idee; er bevorzugte die Koalition mit der FDP (rechnerisch möglich, mit einer Mehrheit von gerade einmal sechs Stimmen). Herbert Wehner und Helmut Schmidt dagegen favorisierten die Große Koalition; sie würden sich auch durchsetzen. Beide hatten das für Schmoeckel und Kaiser richtige Verhältnis zu Kiesinger, nämlich eines des Respekts und der Unterordnung. In dem Bild, das die beiden Autoren zeichnen, erkennen die beiden SPD-Politiker die Vorrangstellung des Christdemokraten an; ihr hervorstechendstes Charaktermerkmal ist, dass sie gut mit ihm zusammenarbeiten. Willy Brandt, der stets den Blick auf die Wahl 1969 gerichtet hat, mögen beide offensichtlich nicht; immer wieder sticheln sie gegen ihn, weil er Kiesinger nicht rückhaltlos unterstützte, sondern Wahlkampf für die eigene Partei betrieb. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Autoren das deutsche Staatsinteresse und die Person Kiesingers gleichsetzen, ist ein faszinierender Einblick in die Mentalität der CDU jener Zeit.
Überhaupt ist das Werk über weite Strecken eine Aufarbeitung und Abrechnung damaliger Streitigkeiten. Ständige Verweise auf arkane politische Manöver, die seinerzeit für ein, zwei Tage in den Schlagzeilen waren, aber letztlich keine historische Bedeutung haben, durchziehen das Buch. Durchstechereien, Meinungsverschiedenheiten, Interviews – Schmoecker und Kaiser lassen keine Gelegenheit aus zu zeigen, was für ein Prachtkerl ohne Fehl und Tadel Kiesinger ist. Fairerweise muss man ihnen zugestehen, dass sie die SPD- und FDP-Politiker jener Zeit ebenfalls insgesamt sehr positiv darstellen (erneut: man merkt die Parlamentarismus-Freundlichkeit), aber bei Kiesinger wird es nachgerade albern.
Das betrifft natürlich auch den größten Problempunkt seiner Person: die NSDAP-Mitgliedschaft. Kiesinger war der einzige Kanzler, der Mitglied in der Partei gewesen war. Ein komplettes Kapitel ist der Relativierung dieser Tatsache gewidmet. Mit Tränen in den Augen erzählen Schmoeckel und Kaiser die (durchaus wahre) Geschichte vom Jurastudenten Kiesinger, der sich aus der Provinz hochgearbeitet hat und durch Repetitorien das Brot auf den Tisch bekommt. Seinen NSDAP-Eintritt 1933 erklären sie denn auch mit der Notwendigkeit, weiter arbeiten zu können. Man wäre geneigt, der Argumentation zu folgen, kennte man nicht den zeitgleich Jura studierenden Sebastian Haffner, der auch nicht in die NSDAP eintrat und seine gute Distanz zum Regime wahrte – und trotzdem das Refendariat ablegte und nicht an der Ausübung seines Berufs gehindert wurde.
Nein, Schmoeckel und Kaiser haben Recht, wenn sie betonen, dass Kiesinger kein überzeugter Nazi war und keine hervorgehobene Rolle im Regime besaß, wie es die schrille Kritik von links in den 1960er und 1970er Jahren behauptete. Aber sie gehen wesentlich zu weit. Nicht nur eine internationale Verschwörung dichten sie dazu (sowohl das westliche als auch das östliche Ausland machten die Geschichte salonfähig); sie stilisieren Kiesinger auch noch quasi zum Widerständler. Zwar bringen sie einen entschuldigenden Satz à la „Das heißt natürlich nicht, dass er ein Widerstandskämpfer war“, aber in den folgenden Absätzen sagen sie dann doch genau das. He doth protest too much. Auch die 68er werden noch mitverantwortlich gemacht (nicht zu Unrecht).
Fakt ist: Kiesinger hat es sich im Dritten Reich so bequem wie möglich gemacht. Er war kein überzeugter Nazi, aber es ist nicht eben so, als hätte er große Probleme mit dem System gehabt. Seine Konversion zum Demokraten kam erst nach dem Krieg. Das ist keine Schande, aber das darf man schon so benennen – gerade auch im Kontrast zu Leuten wie Willy Brandt, ein Kontrast übrigens, den die Autoren durch geradezu ostentative Auslassung dezidiert vermeiden. Stattdessen stellen sie Wehner entgegen, was ihrem Argument natürlich dient, aber letztlich eine falsche Äquivalenz ist. Denn erstens standen mit Leuten wie Haffner oder Brandt positive Rollenbilder zur Verfügung, und zweitens büßte Wehner schwer für seine kommunistische Zeit – ganz anders als Kiesinger, der für Schmoecker und Kaiser mit ein bisschen publizistischer Kritik, studentischen Demos und Klarsfelds Ohrfeige geradezu gecancelt wurde, wie man heute sagen würde.
Aber zurück zur eigentlichen Koalition. Schmoecker und Kaiser beackern zuerst das Feld der Außenpolitik. Und das hieß damals vorrangig: Deutschlandpolitik. Auch hier bemerkt man sofort den kuriosen Standpunkt der beiden Autoren: 1991 war mit dem Kollaps des Ostblocks die Ostpolitik-Nostalgie auf einem ersten Höhepunkt. Die beiden sind aber klare CDU-Parteigänger und Kiesinger-Fans, weswegen sie die (damals uneingeschränkt erfolgreich erscheindende) Ostpolitik kritisieren mussten. Die Auseinandersetzung damit erfolgt deswegen in einer merkwürdig kleinlichen Weise: die Ostpolitik wird nicht grundsätzlich kritisiert (wie das heute geschieht; ich habe mit Jan C. Behrends im Podcast darüber gesprochen), sondern es geht vor allem um die Performance.
Beständig versichern und Schmoecker und Kaiser der Klugheit Kiesingers, der „Geduld und Disziplin“ aufweist, wo (vor allem) Brandt wesentlich forscher ist. Auch Kiesinger, so versichern sie uns, wollte die Öffnung zum Osten, allerdings durch Wirtschaftsbeziehungen, denen dann die politische Öffnung folgen sollte (anstatt umgekehrt, wie es die sozialliberale Koalition und der Osten wollten). Das gipfelt dann in der Behauptung, dass die Ostpolitik genauso unter Kiesinger auch gekommen wäre, nur „einige Jahre später“, dafür aber in einer unspezifiziert besseren Form.
Dieses Ungefähre behalten die Autoren auch bei der restlichen Außenpolitik bei. So erfahren wir, wie klug und diszipliniert und geduldig (alle drei Adjektive kommen in einer absurden Häufung vor) Kiesinger an die Beziehungen zu Frankreich und den USA heranging. Wir erfahren etwa, dass er das Verhältnis zu den USA reparierte, indem er „geduldig“ war, und dass er das angespannte Verhältnis zu Frankreich entspannte, indem er „geduldig“ war. Worauf das hinausläuft ist in beiden Fällen, dass äußere Ereignisse – der Sturz de Gaulles und der Prager Frühling – die außenpolitischen Rahmenbedingungen änderten. Merkel wäre stolz. Warten auf Godot und Hoffen auf bessere Zeiten sind natürlich Möglichkeiten, aber die Stilisierung Kiesingers zum großen Staatsmann, weil er nichts getan hat, ist teilweise einfach nur peinlich, wenn sich die Autoren etwa in mehreren Paragraphen darüber ergehen, wie toll er die deutsch-amerikanischen Beziehungen verbessert habe, um dann am Ende verschämt einzugestehen, dass sich „substanziell“ nichts verbessert habe, aber eine Regionalzeitung in der Fußnote zitieren, die die Staatsmännigkeit Kiesingers bewundert.
Viel davon ist das Problem der Parteilichkeit, der Mission der Autoren. Sie sind so versessen darauf, Kiesinger und die Große Koalition zu rehabilitieren, dass sie sich auf ein erneutes Ausfechten der innenpolitischen Konflikte von damals beschränken. Jede kleine Episode wird erneut hervorgekramt und neu interpretiert, anstatt den analytischen Rahmen entsprechend abzustecken. Denn Kiesingers Regierung nahm ja tatsächlich viele Öffnungsschritte Brandts und Scheels vorweg. Auch der Umgang mit Frankreich und Großbritannien sowie den USA in der Doppelkrise von NATO und WEU (die in einer ironischen Umkehrung der heutigen Verhältnisse vom Ausstieg Frankreichs und dem engagierten Willen Großbritanniens zur europäischen Zusammenarbeit bestimmt war) war durchaus nicht ungeschickt, gerade angesichts der beschränkten deutschen Handlungsfähigkeit. Aber permanent ziehen die Autoren alles in den Schmutz einer politischen Auseinandersetzung hinunter, die 1991 schon 25 Jahre zurücklag und heute geradezu antik anmutet.
Die Substanz ist demgegenüber auch überschaubar. Frankreich blockierte die europäische Integration, weil de Gaulle ein völlig veraltetes Bild von Souveränität besaß. Von den Unruhen 1968 wurde er – wie praktisch alle damals, was Schmoecker und Kaiser aber nicht von einer Attittüde des „wir haben das natürlich gewusst und Kiesinger auch“ abhält – völlig überrascht und hinweggefegt. Schmoeckel und Kaiser schreiben hier, die Franzosen „haben ihren Präsidenten nicht verstanden“, was ein geradezu absurdes Statement und Ausdruck eines mittlerweile völlig untergegangenen Politikverständnisses ist. Vielleicht hätte sich de Gaulle, in Anlehnung an Brecht, ein anderes Staatsvolk suchen sollen.
Großbritannien indes drängte in die EWG. Was mir bisher neu war ist, dass die Blockade der EWG durch Frankreich („Politik des leeren Stuhls“) dazu führte, dass Deutschland, Italien und die BeNeLux-Staaten mit Großbritannien über Schritte einer tieferen POLITISCHEN Integration verhandelten, weil Frankreich „nur“ eine Freihandelszone mit angeschlossenen Agrarsubventionen wollte. Die Ironie dieser seither völlig umgekehrten Verhältnisse ist mit Händen zu greifen. Es erledigte sich dann ab 1969 mit der Amtszeit Pompidous. Die Autoren beklagen hier, dass die Früchte von Kiesingers disziplinierter und geduldiger Politik dann Brandt in den Schoß fielen.
All das verdeckt, dass unter Kiesinger eine genuine Öffnung stattfand. Zum ersten Mal nahm eine westdeutsche Regierung einen Brief aus Ostdeutschland an, aber die Kontakte kamen nicht weit. In der Darstellung der Autoren bleiben die Gründe dafür merkwürdig unklar – sie insinuieren aber gerne Absprachen zwischen Brandt/Scheel und Ostberlin -, aber zwischen den Zeilen kann man relativ leicht erkennen, dass es vor allem zwei Probleme waren: einerseits mauerte die DDR, weil Moskau es befahl: die osteuropäischen Staaten sollten keine eigene Außenpolitik betreiben, ein Fakt, woran de Gaulle gescheitert war (Stichwort altmodische Konzeptionen, wir sprachen darüber). Aber der Weg über Moskau in eine strukturierte Ostpolitik war Kiesinger versperrt, und das ist der zweite Faktor: die CDU machte das einfach nicht mit. Kiesinger konnte zwar endgültig den alten Zopf der Hallstein-Doktrin abschneiden – keine Kleinigkeit! – aber in dieser Leistung erschöpfte sich sein außenpolitischer Gestaltungsspielraum dann auch.
Ob ein größerer Wille bestand, sei einmal dahingestellt. Die Autoren selbst greifen in ihrer abschließenden Betrachtung einer hypothetischen zweiten Kiesinger-Amtszeit mit ihrer besseren, geduldigeren Ostpolitik einen weiteren politischen Streitpunkt jener Tage auf, nämlich dass die sozialliberale Koalition effektiv das Gesetz gebrochen habe. Dieser konservative talking point war seinerzeit beständig in Gebrauch (die Sozialdemokraten und Linksliberalen als Vaterlandsverräter hinzustellen, ist gewissermaßen konservative Tradition), ist aber bereits 1991 ein völliger Anachronismus. Das Bundesverfassungsgericht hat die Angelegenheit bereits in den 1970er Jahren völlig im Sinne Brandts und Scheels entschieden; Schmoecklers und Kaisers Nachtreten wirkt da wie das Granteln zweier alter Männer, die nicht loslassen können, was ihnen vor 25 Jahren an Unrecht angetan wurde. Aus heutiger Perspektive ist diese Konzentration auf die alten Streitpunkte ein Übersehen des Walds vor lauter Bäumen. Eine grundsätzlichere Kritik der „Handel durch Wandel“-Theorie, wie sie heute en vogue ist, konnte 1991 nicht entstehen – diese war ja gerade in vollem Aufschwung und würde durch die Gründung der WTO 1995 ihren krönenden Abschluss finden. Zeitgleich mit Schmoeckler und Kaiser formulierte Francis Fukuyama seine These vom „Ende der Geschichte“!
Es überrascht nicht, dass sich dieses Muster im dritten großen Teil des Buches, der sich mit Innen- und Gesellschaftspolitik beschäftigt, wiederfindet. Am prominentesten ist hier sicher die Auseinandersetzung mit 1968. Für eine ganze politische Generation ist „1968“ ein Schlüsselerlebnis, eine Chiffre, die bestimmend war und an der sie sich immer wieder abarbeiteten. Die einen traten den „Marsch durch die Institutionen“ an, während die anderen ihr restliches Leben damit zubrachten, wieder und wieder zu versichern, wie falsch „die 68er“ lagen.
Ich halte das Phänomen generell für völlig überbewertet. Weil es aber in einer ganzen Elitengeneration so formativ war, hat es diese Überhöhung bekommen. Dieses merkwürdige Paradox findet sich auch hier. So beeilen sich Schmoeckel und Kaiser zwar zu versichern, dass die 68er ein totales Minderheitenphänomen waren, um zu zeigen, was für hoffnungslos radikale und randständige Ideen dort vertreten wurden. Kaum zwei Absätze später aber ist 68 dann eine „Massenhysterie“, der sich nur „sehr gefestigte Geister“ zu entziehen wussten. Man darf annehmen, dass Schmockel und Kaiser solche „gefestigten Geister“ waren. Ganz sicher gehörte Kiesinger zu ihnen.
Auch hier steht den Autoren bei ihrer Analyse das ständige Arbarbeiten an längst vergangenen ideologischen Kleinkriegen im Weg. Während sie völlig korrekt feststellen, dass die Proteste vor allem sozialpsychologisch erklärt werden müssen, steigern sie sich völlig in eine Dämonisierung der Demonstrierenden hinein, die völlig inkonsistent mal als ungezogene Kinder ohne jede Ahnung, dann als Wegbereiter eines gewaltsamen Umbruchs hingestellt werden. Diese verkrampfte Haltung zu 68 ist typisch und sollte ihr letztes Hurra in der rot-grünen Koalition erleben, als noch einmal die Vergangenheit Joschka Fischers, Otto Schilys und Horst Mahlers aufbereitet wurde. Ich glaube, Jürgen Pispers hat völlig Recht damit wenn er diese Obsession damit erklärt, dass die Konservativen es den 68ern nie verziehen haben, dass diese sowohl 1968 als Revoluzzer Spaß hatten als auch nach dem Marsch durch die Institutionen in den 1990er und 2000er Jahren. Man darf hoffen, dass mit dem Abtreten dieser Generation – im Bundestag halten sich nur noch einige wenige Methusalems als lebende Relikte dieser Epoche – ein nüchterner, realistischerer Blick eintritt.
Die spezielle Prioritätensetzung der Autoren zieht sich auch mit dem nächsten Kapitel durch. In diesem geht es um den Aufstieg der NPD in jenen Jahren. 1966 bis 1968 sprang die Partei in praktisch alle Landtage (größter Erfolg: Baden-Württemberg, 9,8%). 1969 verpasste sie den Einzug in den Bundestag mit 4,6% knapp. Schmoeckel und Kaiser betonen wie auch bei der APO (in meinen Augen zu Recht), dass die Große Koalition nicht der Auslöser für diesen Erfolg war. Stattdessen argumentieren sie in einer auffälligen Parallele zum Diskurs um die AfD, dass die Spitze der Partei sich bewusst bürgerlich gab und die NPD völlig legitime Unzufriedenheit aufgriff (die, wie sie schnell versichern, zudem auf linker Seite ein völlig gleichwertiges Pendant in der APO hatte), mit Wählenden aus allen Parteien gleichermaßen. Entrüstet weisen sie die Idee, dass vor allem CDU und FDP das Reservoir der Wählenden gebildet hätten, zurück. Die Quelle? Eine Verlautbarung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Ernsthaft, der Aufstieg der NPD hatte in den 1960er Jahren mindestens so viel Aufmerksamkeit verursacht wie der der AfD, mit zig Untersuchungen von Demoskopie und Politikwissenschaft. Und der Anteil der Wählenden mit Wurzeln in der SPD war mit Sicherheit nicht äquivalent zu dem der CDU. Die offensichtliche Parteilichkeit der Autoren steht ihnen hier wieder im Weg.
Im folgenden Kapitel geht es an die inneren Reformen. Hier wären vor allem die Grundgesetzänderungen zu nennen. Am bekanntesten sind sicher die Notstandsgesetze, die von den Autoren überraschend stiefmütterlich behandelt werden; zu Recht weisen sie daraufhin, wie überzogen die damalige Furcht vor ihnen war, lassen sie aber effektiv in einem Vakuum passieren (mehr dazu im Buch „Die Stunde der Exekutive“, hier besprochen): die lange Vorarbeit an den Gesetzen unterschlagen sie ebenso wie die Genese des Koalitionskompromisses; die SPD sieht einfach nur das Licht und folgt der weisen Führung Kiesingers. Das betrifft auch die anderen Grundgesetzänderungen. Die Große Koalition hat in drei Jahren mehr davon auf den Weg gebracht als die Regierungen 1949-1969 oder die 1969-1991, was die Autoren als große Leistung sehen. Sicher, aber die reine Menge an Grundgesetzänderungen als Maßstab ist schon etwas merkwürdig. Hier zeigt sich auch einmal mehr das Alter des Buches: angesichts der schieren Menge an Grundgesetzänderungen seither dürfte die Arbeit der Großen Koalition mittlerweile nicht mehr so hervorstechen, und das ist durchaus positiv gemeint.
Auch die restlichen Gesetzesreformen werden nur im Streifzug behandelt: eine Förderalismusreform, die überhaupt erst die Grundlagen für den heutigen Staatsaufbau schuf (Stichwort kooperativer Föderalismus); die Wirtschaftsgesetzgebung, die tiefgreifend veränderte, wie der Staat Wirtschaftspolitik machen kann (Stichwort Stabilitäts- und Wachstumsgesetz); und nicht zuletzt die gewaltige Strafrechtsreform, deren Arbeit dann von der sozialliberalen Koalition fortgesetzt werden würde. Dieses Kapitel fällt unglaublich dürr aus, kaum 20 Seiten werden für diese Mammutreformen investiert, was angesichts der Konzentration auf politische Spiegelfechterereien vorher geradezu absurd ist. Hier würde man gerne mehr erfahren, aber über Seitenhiebe auf die SPD und FDP, die die weisen Vorschläge der CDU später nicht weiter umgesetzt haben, sondern eigene Wege gingen, und eine gleichzeitige Neutralisierung von CDU-Blockaden (wir erfahren, dass erst die Große Koalition den Grundgesetzauftrag, uneheliche Kinder gleich zu behandeln, vollenden konnte, „was vorherige Regierungen nicht schafften“; man fragt sich, warum nicht).
Im nächsten Kapitel befassen sich Schmoeckel und Kaiser mit der Wirtschaftspolitik. Es gehört zum großen Vergessen jener Epoche, dass der Amtsantritt der Großen Koalition mit der ersten Rezession der Nachkriegsgeschichte zusammenfiel – sagenhafte 3% Arbeitslosigkeit ließen die Republik erzittern. Hervorgerufen wurde die Rezession durch eine Leitzinserhöhung der Bundesbank, die inflationären Druck fürchtete (etwa 3,5% Mitte der 1960er Jahre; „sehr hoch für deutsche Verhältnisse“, wie die Autoren schreiben). Die Antwort der neuen Regierung, maßgeblich durch SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller konzipiert, war das bereits erwähnte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sowie das erste Investitonsprogramm. Wie die Autoren korrekt betonen, war das ein Gezeitenwechsel der deutschen Wirtschaftspolitik.
Leider gehen sie nicht näher darauf ein, warum und was passierte, daher einige ergänzende Worte. Das „Wirtschaftswunder“ war Mitte der 1960er Jahre ausgelaufen (mehr dazu im bereits verlinkten Artikel). Die beginnende Arbeitslosigkeit repräsentierte eine Unterauslastung der Wirtschaft – die gestiegenen Zinsen im Gleichklang mit erhöhten Steuern – die Regierung wollte einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen! – hatten die Investitionstätigkeit zum Erliegen gebracht. Deswegen wurde ein „Eventualhaushalt“ verabschiedet, ein spezieller Haushalt für staatliche Investitionen. Der „normale“ Haushalt war ausgeglichen, während der „Eventualhaushalt“ massive Investitionen in die Infrastruktur ermöglichte, wo viel Potenzial brachlag. Innerhalb eines knappen Jahres herrschte wieder Vollbeschäftigung. Wer Parallelen zur Lage heute (2022) und dem Finanz-Jiujitsu der Ampel-Regierung findet, darf sie behalten.
Die Finanzpolitik spielt auch weiter eine Rolle. Die Erhard-Regierung war vorrangig daran zerbrochen, dass der Haushalt nicht ausgeglichen werden konnte. Die Große Koalition vollbrachte dieses Wunderwerk vor allem durch zwei Faktoren: eine Kombination aus Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen – und das durch die Investitionen des „Eventualhaushalts“ stimulierte neue Wachstum. Frankreich, das auf eine ähnliche Strategie von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen setzte, hatte damit (wenig überraschend) keinen Erfolgt; stattdessen erlebte es eine Anlagenflucht nach Deutschland.
Diese Anlagenflucht war ein Symptom des zerbrechenden Bretton-Woods-Systems fixierter Wechselkurse. Die DM war massiv unterbewertet, was den deutschen Aufschwung ebenfalls mitbefeuerte. Das Ausland – hauptsächlich die USA und Frankreich – drängten deswegen auf eine Aufwertung der DM. Die CDU war kategorisch dagegen, die SPD war dafür. Es gehört wohl zu den Kuriositäten der bundesdeutschen Geschichte, dass das abstrakte Thema „DM-Aufwertung“ zum Wahlkampfschlager wurde. Es war ein kalkulierter Streit der SPD, die das eigentlich eher nebensächliche Thema zur Grundsatzfrage hochjazzte, um sich von der CDU absetzen zu können, die die SPD – in einer Vorwegnahme Merkels späterer Taktik – in einer engen Umarmung zu marginalisieren suchte.
Die Besonderheit des Themas war auch, dass die SPD die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaft hinter sich wusste. Zwar gab es einige wenige Dissidenten (die Schmoeckel und Kaiser im Gegensatz zum Konsens ausführlich zitieren), aber die Forderung nach einer Aufwertung war schlichtweg common sense. Das wissen auch die Autoren; mit mahnendem Zeigefinger weisen sie auf den politischen Druck durch ihre Kernwählendenschichten (etwa die Landwirt*innen) hin, unter dem die CDU stand und den man neben den wissenschaftlichen Fakten eben auch verstehen müsse (ähnliches Verständnis für die SPD und FDP bringen sie keines auf). Genau diesen Zusammenhang aber vergessen sie gleich wieder, wenn sie versuchen, den (zutreffenden) Vorwurf zu entkräften, dass die verschleppte Aufwertung die Inflation ab 1969 schlimmer als nötig gemacht hatte. Sie erklären in moralisierendem Tonfall, man dürfe sich nicht in „Was wäre wenn“ ergehen, um gleich anzudeuten, dass wenn die SPD nur vollständig die Positionen der CDU übernommen hätte, alles besser gekommen wäre – von der Tatsache, dass sie in anderen Bereichen wie der Ostpolitik ausführliche „Was wäre wenn“ zulassen, einmal ganz abgesehen.
Auf den letzten kaum 20 Seiten wenden sich die Autoren dann dem innenpolitischen Reformprogramm zu. Eilig betonen sie, dass nichts Originelles an den Vorschlägen von SPD und FDP war; eigentlich hatte die CDU alles bereits vorweggenommen. Ihr Kernargument allerdings, dass viele später der sozialliberalen Koalition zugeschriebenen Reformen eigentlich in der Großen Koalition gefasst wurden, ist absolut zutreffend. Die Koalition legte vor allem den Grundstein der Modernisierung. Nicht nur wurde mit der „mittelfristigen Finanzplanung“ die Grundlage der modernen Wirtschaftspolitik geschaffen (wor 1967 wurden Haushalte stets nur auf ein Jahr geplant und keine Prognose in die Zukunft gemacht, eine völlige Absurdität aus heutiger Sicht).
Die Große Koalition schleifte auch zahlreiche überkommene und mittlerweile völlig aus der Zeit geratene Standesunterschiede. Von der Ungleichbehandlung von Arbeiter*innen und Angestellten zum Umstieg von Fürsorge zu Lebensstandardsicherung bei den Sozialleistungen bis hin zum Bafög leistete die Koalition viele ungeheuer wichtige Reformen, die wohl nur in der CDU-SPD-Konstellation so möglich waren. Kurios erscheint ein Teil zur Rentenpolitik: bereits 1967 war demnach das baldige Zusammenbrechen des Rentensystems durch den demografischen Faktor erkennbar gewesen, dass heute (1991) aber ganz sicher voll durchschlagen würde. Mittlerweile sind wir 50 Jahre weiter, und der Zusammenbruch lässt immer noch auf sich warten, dräut aber stets gleich hinterm Horizont.
Die Autoren beenden ihr Werk mit einem kleinen Ausblick auf die 1991 relevanten Deutungen der Koalition und bestätigen noch einmal, was für ein Prachtkerl ihr ehemaliger Chef Kiesinger war. Während sie mit Sicherheit Recht haben, dass die Große Koalition besser ist als ihr Ruf und Kiesinger durchaus mehr Anerkennung für seine Amtszeit und seine Verdienste gebührt, dürfte ihr Buch auch deswegen keinen so großen Eindruck hinterlassen und wenig Erfolg gehabt haben, weil sie es auf die andere Seite völlig überziehen und eine Hagiografie schreiben. Und das braucht halt auch keiner.
John Green – The Anthropocene, reviewed (Hörbuch) (John Green – Wie hat Ihnen das Anthropozän bislang gefallen?)
Die Idee, dass wir im Anthropozän leben – also dem geologischen Zeitalter, dass sich durch die Gestaltungskraft des Menschen auszeichnet – ist mittlerweile ziemlich Standard geworden. Ob Plastik in den Weltmeeren, Versiegelung der Böden, Versalzung von Gewässern oder natürlich die allgegenwärtige Klimakrise – überall hinterlassen wir Menschen unseren Fußabdruck und verändern den Planeten. Auch das mittlerweile wohl sechste Massensterben geht auf unser Konto. Von den Dodos zu hawai’ianischen Singvögeln ist niemand vor unserer mörderischen Ignoranz sicher. In dieser Sammlung von Essays beschäftigt sich John Green mit den Facetten dieses Zeitalters und nähert sich der menschlichen Natur an. Es ist eine großartige, weit gefasste Reise durch das Anthropozän, persönlich und gleichzeitig allgemeingültig, wunderbar geschrieben und eindrücklich verfasst.
Anhand der kanadischen Wildgans etwa erkundet er das Verhältnis zwischen Tier und Mensch im Anthropozän: erst von Jägern bis zur Ausrottung gejagt, indem sie gefangene Wildgänse flugunfähig machten und als Köder nutzten – um die Köder aber wie geliebte Haustiere zu hätschen und zu pflegen – legte die Art nach Verbot des Lebendköders eine massive Erholung hin. Das Einerlei der Vorstädte bietet ihnen einen idealen Lebensraum, und in vielen Regionen des amerikanischen Suburbia sind die Wildgänse mittlerweile eine Pest. Trotzdem erinnern sie Green stets an die wilde Natur.
Das Verhältnis von Mensch und Tier spielt auch bei seinen Gedanken zu domestizierten Tieren eine Rolle. Fast alle Säugetiere, die auf der Erde existieren, sind Haus- und Nutztiere. Was uns nicht nützt, töten wir, wenngleich oftmals unbewusst durch Vernachlässigung, weil wir es nicht bewahren. Der einzige Schutz neben dem Faktor Nützlichkeit ist es, wenn die Jungtiere einer Spezies uns an unsere eigenen Babys erinnern. Ob das für oder gegen uns spricht, bleibt offen.
Diese Betrachtungen stehen neben mehreren Essays, die sich mit dem menschlichen Zeitverständnis und unserem Ort in der Zeit befassen. So zeigt Greene etwa, wie jung wir Menschen als Rasse sind. Elefanten sind um ein Vielfaches länger auf der Erde unterwegs als wir, und dasselbe gilt für eine ganze Reihe von Spezies, auch solche, die wir mittlerweile ausgerottet haben oder im Begriff sind auszurotten.
Gleichzeitig gibt es uns Menschen aber doch schon länger, als unser Geschichtsbewusstsein uns oft Glauben macht. Die Lascaux-Höhlenmalereien etwa sind rund 12.000 Jahre alt, und es gibt noch ältere Zeugnisse menschlichen Schaffens. So fremd uns die Malereien auch sind – bis heute ist unklar, welchen Zwecken sie dienten und was sie genau symbolisieren, und wir werden es wohl nie erfahren -, so vertraut ist uns der Aufwand, der zu ihrer Erstellung betrieben worde, inklusive dem Bau von Gerüsten. Auch, dass weltweit diverse Kulturen die gleiche Kunst unabhängig voneinander entwickelten ist ebenso faszinierend wie mysteriös.
Überhaupt, die Kunst. Green betont auch in mehreren Essays, dass wir Menschen eine kollaborative Spezies sind. Für ihn ist das ein bestimmendes Merkmal. Michelangelo bemalte die Sixtinische Kapelle nicht alleine, sondern mit einer Menge von Helfern, und für Green verblasst Edisons Leistung der Erfindung der Glühbirne vor der kollektiven Leistung der Schaffung eines Energienetzes, das in der Lage ist, Millionen und Abermillionen von Glühbirnen verlässlich mit Strom zu versorgen. Immer wieder lenkt er den Blick auf diese Wunder inkrementeller menschlicher Zusammenarbeit, ob in Kunst oder Technik.
Auch unser Verständnis vergangener Epochen stellt Green auf den Prüfstand, wenn er etwa über Velociraptoren spricht, jene Fleisch fressenden Dinosaurier, deren Popularisierung durch das „Jurassic Park“-Franchise so gar nichts mit den real existierenden Lebewesen zu tun hat – so wie auch die Dinosaurier im „Jura-Park“ mehrheitlich der Kreidezeit entstammen. Aber Fakten kommen nun mal nicht in den Weg einer guten Geschichte, und im Geschichtenerzählen sind wir Menschen spitze.
Was uns dabei nicht gelingt, ist alle Sinne anzusprechen. Zwar schaffen wir Bild und Ton sehr verlässlich, aber der Geruchssinn bleibt weiterhin unmöglich. Das 80er-Jahre Phänomen der Sratch-n-Sniff-Stickers dient Green dabei ebenso zur Veranschaulichung wie der fehlgeschlagene Versuch einer VR-Achterbahn, Meeresaromen zu simulieren.
Die Vielzahl der Essays lässt sich hier unmöglich wiedergeben, aber die Themen reichen weiter von Monopoly zur amerikanischen Platane, von der QWERTY-Tastatur zu Disney World, von der Pest zu Auld Lang Syne. Allen Essays ist gemein, dass sie sowohl subjektive Eindrücke Greens als auch allgemeingültige, weitreichende Überlegungen enthalten. Es ist gerade diese Verbindung des beinahe autobiografischen, das immer wieder in die Essays einfließt, und ihre Tiefgründigkeit, die den eigentlichen Reiz des Buches ausmachen.
Auch der Entstehungszeitraum spielt eine Rolle. Green schrieb es während der Corona-Pandemie, und dieses Thema dringt immer wieder in die Essays ein. Vieles, was früher selbstverständlich war, ging verloren. Soziale Kontakte brachen weg. Einsamkeit bestimmte das Leben vieler Menschen. Green zeigt, wie dies zu Brüchen in der menschlichen Erfahrung führt, aber auch, in welcher Kontinuität es steht, ist doch Corona nicht die erste Pandemie, die wir als Spezies erleben.
Das Werk ist auch das erste Buch, das mich zum Weinen brachte. In einem besonders berührenden Essay beschreibt Green seine Erfahrungen als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus (und das Googlen von Namen). Ich will gar nicht weiter ins Detail gehen, aber ich musste während dieses Essays nicht ein-, sondern gleich zweimal Tränen verdrücken, und weil ich das Hörbuch hörte, war das am Bahnhof. Aber was muss, muss.
Überhaupt, das Hörbuch. Green spricht die englische Fassung des Hörbuchs selbst, und wer ihn und seine Videos kennt weiß, dass der Mann erzählen kann (er begann seine Schreibkarriere auch beim Radio). Allein deswegen sei es an der Stelle sehr empfohlen. Die Genese des Buchs, das sei zuletzt als Kuriosum erwähnt, kommt aus dem gleichnamigen Podcast Greens, in dem er viele der Themen bereits verarbeitet hatte; das Buch ist sozusagen eine Überarbeitung dieses Podcasts, eine Veredelung des Formats.
Ich gebe dem Buch 5 Sterne.
Rezension: Ezra M. Vogel – Deng Xiaoping and the transformation of China (Hörbuch)
Der Tod Mao Zedongs 1976 war eine Wasserscheide in der Entwicklung Chinas. Einer der größten Massenmörder der Geschichte, der mit dem „Großen Sprung nach vorn“ und der „Kulturrevolution“ sein Land zweimal mutwillig an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, war nicht mehr. 1978 folgte ihm Deng Xiaoping nach, der China auf einen „neuen Pfad“ setzt – ein Pfad, der rapide zu wirtschaftlichem Aufstieg führen sollte. Deng Xiaoping kann man wohl mit Fug und Recht als Vater des modernen China bezeichnen, was Grund genug ist, sich mit ihm und seiner Politik näher zu beschäftigen. Ezra Vogels umfassende Biografie unternimmt es, sein Leben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nachzuzeichnen. Er legt dabei eine Biografie kommunistischer Hinterzimmerpolitik mit all den Stärken und Schwächen vor, die an dem Ansatz hängen – aber dazu gleich mehr.
Deng wurde 1904 in ein China geboren, das noch klar in der Vergangenheit verhaftet war. Sein Vater hatte eine typisch konfuzianische Beamtenlaufbahn eingeschlagen, ein Weg, der auch dem Sohn vorgezeichnet war. Die harte Arbeit des Vaters ließ wenig Raum für Familie oder eine Beziehung mit ihr; Dengs Verhältnis zu ihm war bestenfalls distanziert (Deng unterhielt Zeit seines Lebens wesentlich engere Bande mit seiner eigenen Familie). Dass Dengs Vater zudem Rückschläge in politischer Position und Karriere hinnehmen musste, verbesserte diese Lage nicht unbedingt.
Deng tritt zum ersten Mal in die Geschichte, als er 1920 in Frankreich zu studieren versucht. Vogel zieht die entsprechenden Vergleiche nicht, aber es ist auffällig, wie sich Dengs Erfahrungen von rassistischer Diskriminierung in Frankreich auf einer individuellen Ebene und die strukturell-politischer Diskriminierung in Versailles mit denen anderer späterer asiatischer Revolutionäre wie Ho-Tschi-Minh decken. Hätten die Entente-Mächte seinerzeit der Forderung nach „rassischer“ Gleichberechtigung nachgegeben und den Versailler Vertrag und Völkerbund nicht auf Basis rassistischer Annahmen gegründet, wie anders hätte die Geschichte verlaufen können! So aber verließ Deng Frankreich als glühender Kommunist und warf sich in den Befreiungskampf.
Innerhalb der chinesischen Kommunistischen Partei (KPCh) gehörte er der „Mao-Fraktion“ an, die sich bereits damals durch die starke Personalisierung auffiel. Deng formte in der Bürgerkriegszeit der 1920er Jahre ein festes Band mit Mao, das vor allem auf seiner unbedingten Loyalität beruhte, die Mao immer wieder betonen würde und die maßgeblich dazu beitrug, dass Mao Deng niemals komplett fallen ließ. In diesen Jahren prägte sich auch Dengs Charakter: er sprach wenig mit anderen, war sehr geheimniskrämerisch, dabei aber gerade wegen seiner Erfahrungen in Frankreich weltgewandter als Mao. Kurz: er war ein wertvoller Funktionär. Das setzte sich auch im Bürgerkrieg selbst fort, wo er sich als Kommandant sowohl gegen die Japaner als auch die Kuomintang bewährte – vor allem in absoluter Rücksichtslosigkeit bei der Umsetzung von Befehlen, die oft den Tod tausender Soldaten zur Folge hatten.
Damit kommen wir auch zu einer der großen Schwächen dieser Passagen. Vogels Darstellung ist geprägt von merkwürdigen Leerstellen der Taten Dengs. Seine Konzentration auf die Politik und tatsächlichen Taten der jeweiligen Personen, die konkrete Ergebnisse für konkrete Menschen gerne ausblendet oder abstrahiert, findet sich nicht nur beim Bürgerkrieg selbst – wo auch die Quellenlage nicht eben überragend ist – sondern wird sich später fortsetzen, vor allem beim „Großen Sprung nach vorn“, bei dem Dengs eigenes Profil merkwürdig blass bleibt.
Was sich allerdings bereits zeigt ist, dass Deng ein etwas anderes Verständnis von Chinas Problemen und den passenden Poblemlösungen hat. Ihm geht es um Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Das macht ihn in der ideologisch aufgeladenen Atmosphäre verdächtig. Insgesamt dreimal wird Mao ihn „säubern“, aber jedes Mal vor der Vernichtung zurückschrecken. Seine Sachkompetenz und seine Loyalität zu Mao schützen ihn, machen ihn aber auch gefährlich. Eine ähnliche Dynamik stellt Vogel auch bei Zhou Enlai heraus, der allerdings exponierter war als Deng. Beide spielten aber eine entscheidende Rolle in Chinas außenpolitischem Strategiewechsel, als das Land in den 1960er Jahren bewusst den Konflikt mit der Sowjetunion suchte und sich den USA anzunähern begann.
Dei völlige Perversität des maoistischen Systems wird in der Kulturrevolution deutlich. Deng muss ins Exil, wird harscher Kriti unterworfen und von seiner Familie getrennt. Im Gegensatz zu vielen anderen Funktionären aber schützt Mao ihn; er bleibt Parteimitglied und wird nicht ermodet.
Der chronologische Aufbau von Vogels Buch unterbricht nicht für größere Einordnungen und Analysen. Die Funktionweise des kommunistischen Systems wird quasi vorausgesetzt oder einfach aus den Vorgängen erschlossen. Das ist für uns daher ein so gut wie jeder andere geeigneter Moment, diese Funktionsweise zu untersuchen. Die Verbannung aufs Land war im Maoismus ein Disziplinierungs- und Unterdrückungsmittel, bei dem die Menschen unter furchtbaren Umständen (die aber immer noch besser als die der Bauern waren…) hausen und arbeiten mussten. Begann die Partei mit „Kritik“, so war darunter ein organisiertes, chinaweites Mobbing zu verstehen – der entsprechende Funktionär war zumindest rhetorisch vogelfrei; in der Kulturrevolution auch noch dem Terror der Roten Garden ausgesetzt. Neben der Kritik von außen wurden die Funktionäre auch zur „Selbstkritik“ gezwungen, einer öffentlichen, oft stundenlangen Selbstdemütigung, die möglicherweise als mildernder Umstand gewertet wurde – oder als Beleg für die Schuld im Schauprozess. Der phsychische Druck, unter dem diese Menschen standen, kann kaum überbewertet werden, und der rituelle Charakter dieser Kritik machte sie zu einem berechenbaren und öffentlichen Machtinstrument.
In der politischen Kommunikation besonders aufällig ist die Bedeutung der Exzegese von Texten unter Mao. Stets interpretierte man die Äußerungen des Vorsitzenden im eigenen Sinne, und wer welche Stellen wie, wo und wie oft zitierte war entscheidend. Gleiches gilt für Veröffentlichungen: die Politik verlief neben der Kritik über offene Briefe, und wenn diese veröffentlicht wurden – und auf welchen Ebenen – gab wichtige Hinweise für die Administration. Wer glaubt, dass deutsche Beamte, die „dem Führer entgegenarbeiteten“ chaotischen Umständen unterworfen waren, hat sich nie mit dem Maoismus beschäftigt. Mao nutzte, wie alle Diktatoren, auch den Zugang zu sich selbst geschickt als Machtmittel. Eine Audienz mit dem Vorsitzenden war ein Privileg, und eine kleine Gruppe Vertrauter regelte den Zugang hart ab.
Die Wirren der Kulturrevolution sind besonders beeindruckend. Die Lesenden erleben diese praktisch ausschließlich durch die Brille Deng Xiaopings, der sich vor allem auf das Potenzial von Handel, Wirtschaftswachstum und Technologie konzentriert. Aber selten hat sich ein Land dermaßen bewusst selbst in den Fuß geschossen wie Maos China 1968 bis 1972. Die Schließung von Schulen und Universitäten, die Verbannung aller Intellektuellen aufs Land und die Säuberungen der Partei sicherten zwar effektiv Maos Macht. Sie zerstörten aber für eine Generation das gesamte Potenzial des Landes. Deng Xiaoping würde lange damit zu tun haben, die Schäden dieser irrsinnigen Politik zu beseitigen (die, das sei nebenbei erwähnt, in einer der größten intellektuellen Verirrungen der westdeutschen Linken in den K-Gruppen für vorbildhaft erklärt wurde).
In den letzten Mao-Jahren arbeitet Vogel deutlich den Widerstreit zwischen der Notwendigkeit einer (kompetenten) Nachfolgeregelung und der Wahrung von Maos Erbe heraus: die Radikalen in der Partei wollten die „Errungenschaften“ der Kulturrevolution ebenso beibehalten wie Mao; dieser aber sah auch, dass es Änderungen brauchte. Dieser Widerstreit war nicht aufzulösen. Mao versuchte, Deng einzubinden, indem er diesen zu einer öffentlichen Anerkennung der Kulturrevolution brachte (die Formel war „zu 70% gut“). Deng allerdings weigerte sich bis zuletzt beharrlich, dieses Bekenntnis zu erbringen, was ihm auch sein drittes Exil einbrachte. Er sah deutlich, dass Mao bald sterben würde und dass es nach seinem Tod nur dann möglich sein würde, vom Maoismus abzukehren, wenn er selbst glaubhaft gegen die Kulturrevolution auftrat. Es ist Zeugnis von der hohen Meinung Maos, dass Deng diesen Drahtseilakt überlebte.
Dengs dritte Verbannung ist die Wiederholung der Geschichte als Farce. Jeder wusste, dass er zurückkehren würde, aber man spielte den Ritus von Kritik und offenen Briefen wie bei einem schlechten Laientheater auf. Mao übergab seine Macht kurz vor seinem Tod an einen farblosen Funktionär, der hauptsächlich die Funktion hatte, den Frieden zu wahren und den Stuhl warm zu halten. Die Raidkalen („Gang of Four“) verloren den Machtkampf schnell und entscheidend, und die Mehrheit Partei übte starken Druck für eine Rückkehr Dengs aus. Bereits ein Jahr nach Maos Tod kehrte er, öffentlich bescheiden, zurück und konzentrierte sich auf den undankbaren Job, Wissenschaft und Bildung als Grundlage für den „neuen Weg“ aufzuwerten. Die erste große Reform, die zugleich Dengs Denkweise und Herangehensweise demonstrierte, war die Einführung von Zugangsexamen für die Universitäten, die im gleichen Zug wieder geöffnet wurden.
Das Ausmaß der Transformation ist kaum zu übertreiben. Bereits auf der großen Konferenz 1978, die zu Dengs Machtübernahme führen sollte, explodierte die Diskussion von der Besprechung von Agrarreformen zu einer Grundsatzkritik. Hohen Symbolgehalt erhielt ausgerechnet ein Protest auf dem Tian’anmem 1968, der von Mao und den Radikalen als reaktionärer, rechtsgerichteter Putsch verunglimpft worden war und nun als „genuin revolutionäre Handlung“ nachträglich veredelt wurde. Signale wie diese, aber auch die posthume Rehabilitierung verbannter Genossen und die ebenso posthume Verdammung bisher geehrter Funktionäre signalisierten der Öffentlichkeit deutlich, wohin der Wind wehte.
In einer Diktatur wie der chinesischen von „Öffentlichkeit“ zu reden mag überraschen, aber die Partei war kein Monolit, sondern pflegte zumindest dem Anspruch nach (bis heute!) „innerparteiliche Demokratie“. Diese war natürlich immer mehr Idee als Realität, aber sie eignete sich hervorragend, um politischen Wandel auszufechten und zu kommunizieren. Zwar waren die meisten Chines*innen sicherlich nicht sonderlich politisch gebildet und zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um die arkanen Rituale der KPCh zu verfolgen; es gab aber dennoch, vor allem in Beijing, aber auch in den Parteizentralen der anderen Städte und Provinzen, eine sensible Öffentlichkeit, die diese Zeichen zu lesen und deuten verstand und ihr Handeln nach ihnen ausrichtete.
Zwar gab es mit dem Mao-Ära eine leichte Liberalisierung; vor allem die „Mauer der Demokratie“ in Beijing spielte hier eine große Rolle, wo Pamphlete und Ähnliches angeheftet und diskutiert wurden. Schnell jedoch machte Deng klar, dass die neue Meinungsfreiheit enge Grenzen kannte. Die Partei durfte nicht angegriffen werden, und in neuen Edikten wurden bestimmte Meinungen als „falsch“ definiert. Zur Durchsetzung ließ Deng etwa 30 Personen verhaften; hingerichtet wurde niemand. Der Unterschied zur mörderischen Atmosphäre der Mao-Zeit ist trotz aller Repression deutlich sichtbar.
Auch außenpolitisch leitete Deng einen massiven Richtungswechsel ein. Bereits unter seinem Vorgänger wurde die Gu-Mu-Mission gestartet, bei der rund 50 Funktionäre (geleitet von Gu-Mu) vor allem westeuropäische Länder besuchten. Auffällig ist das Ausmaß der geradezu krassen Unwissenheitt, die diese Funktionäre hatten. Sie waren völlig überrascht vom Lebensstandard in Westeuropa und hatten erwartet, ausgebeutete Arbeitermassen im Stil der Mitte des 19. Jahrhunderts vorzufinden. Diese ideologische Verzerrung ist bemerkenswert und führte bei Deng wie den Funktionären zu einem heilsamen Schock, der ihnen ein klares Ziel vor Augen gab. Anstatt den Westen ideologisch zu verdammen, orientierten sie sich an ihm. Ebenfalls auffällig ist die bereits damals große westliche Offenheit. Kredite sprudelten, die Chinesen durften alles besichtigen, technologische Hilfen und Investments wurden versprochen. Diese naive Offenheit fällt uns gerade auf die Füße.
In Dengs Ägide fällt auch der Krieg gegen Vietnam 1978, den Vogel aber vor allem der „Gang of Four“ zuwirft; er postuliert, dass Deng, wäre er 1975 im Amt geblieben, ihn verhindert hätte. Erfolgreich war China so oder so nicht; auch beim Militär galt es, eine Zeitenwende an Reformen einzuleiten. Deng und seine Funktionäre bereisten in der Folgezeit viele umliegende Staaten, repartierten etwa das Verhältnis zu Malaysia und Thailand (wo sie die kontraproduktive Unterstützung örtlicher chinesischer KPen einstellten und das ebenso kontraproduktive Aufstacheln chinesischer Minderheiten beendeten) oder Japan (eine bis heute bestenfalls halb erfolgreiche Operation). Gerade von Japan und Singapur erhoffte man sich große Unterstützung und sah sie als Vorbilder; Deng war besonders von Singapur beeindruckt, das er zuletzt 1920 gesehen hatte und das nun, knapp 60 Jahre später, ein völlig anderes Bild abgab.
Spannend ist auch der Bezug zur Sowjetunion. Seit den 1960er Jahren betrachtete China den großen Bruder vor allem als Rivalen, weniger aus ideologischen als aus schnöden geopolitischen Machtmotiven heraus. Gleichzeitig aber ist die UdSSR ständiger Referenzpunkt, vor allem was die Regierungspraxis angeht. Dies wird offensichtlich mit Gorbatschow und dem Untergang des Sowjetimperiums noch prägnanter werden, aber Deng Xiaoping definierte sich stets in Abgrenzung zu Chruschtschow. Die Entstalinisierung sah er als riesigen Fehler, weil sie die Autorität der Partei untergrub. Niemals würde er zulassen, dass Mao öffentlicht kritisiert werden würde, selbst wenn die gesamte Politik des Landes eine komplette Abkehr vom Großen Vorsitzenden war.
Die Außenpolitik Chinas konzentrierte sich Anfang der 1980er Jahre jedoch vor allem auf zwei große Länder: die USA und Japan. Mit den USA ging es um „Normalisierung“. Diese hatte bereits unter Nixon und Mao begonnen – „only Nixon can go to China“ – hatte hier aber vor allem der Einhegung der Sowjetunion gedient. Deng Xiaoping hob die Beziehung zu den USA auf ein ganz neues Level. Nach einer ausführlichen Amerika-Reise war er inspiriert vom technologischen Stand, Wirtschaftswachstum und Lebensstandard und wollte so schnell wie möglich US-Technologie, Know-How und Investments nach China holen. Die chinesische und amerikanische Außenpolitik vollzogen im Eiltempo eine „Normalisierung“ der Beziehungen, die das möglich sein sollte.
Der größte politische Aspekt dabei war die Taiwanfrage. Die USA übertrugen die Anerkennung Taiwans, mitsamt Sitz im Sicherheitsrat, an China. Deng und andere chinesische Politiker sahen bereits die Wiedervereinigung heranrücken, doch die USA ließen Taiwan nicht komplett hängen und waren nicht bereit, es den Chinesen in den Rachen zu werfen. Für Deng und seine Generation war es eine Frage der Ehre, die Wiedervereinigung mit Taiwan zu erreichen und so den Bürgerkrieg endlich zu beenden; doch mit der Wahl Reagans – der in Unkenntnis der diplomatischen Lage auf Wahlkampfveranstaltungen die Anerkennung Taiwans versprach, ehe er, gewählt, von Bush und den Außenpolitik-Experten eingefangen wurde – zerschlugen sich Dengs Hoffnungen endgültig.
Japan spielte einerseits wegen der geografischen Nähe, andererseits wegen der starken wirtschaftlichen Stellung eine besondere Rolle. In den 1980er Jahren übernahm Japan eine weltweite Vorreiterrolle in wirtschaftlicher Hinsicht, vor allem aber bei Automatisierung, Elektronik und der Computertechnologie sowie Konsumgütern. Für Deng war es wichtig, japanische Technologie und japanische Investments ins Land zu holen, und er war auch hierzu bereit, eine Normalisierung durchzuführen.
Das passte zur Wirtschaftspolitik, die er vertrat. Deng musste die Abkehr von der maoistischen Planwirtschaft organisieren, doch da die Planwirtschaft niemals nur ein Wirtschaftssystem, sondern stets auch ein politisches und gesellschaftliches System gewesen war, musste er dabei Rücksicht auf die Konservativen nehmen, die eine Abkehr von Maos Festlegungen zur Kollektivierung als Verrat ansahen. Die Einrichtung der „Sonderwirtschaftszonen“ war hierzu das zentrale und bekannteste Mittel. Einige Zonen wurden designiert – zuerst als Sonderzonen, später dann als Sonderwirtschaftszonen, damit niemand auf die Idee kommen könnte, dass auch politisch Experimente möglich seien – wo die alten Regeln weitgehend aufgehoben wurden. Dengs Ansatz war es, Dinge auszuprobieren – was funktionierte, wurde in der Fläche übernommen, was nicht funktionierte, nicht.
Doch die neue Öffnung flog den alten kommunistischen Glaubenssätzen natürlich direkt ins Gesicht, und Dengs Macht hing davon ab, die Konservativen nicht zu verprellen. Die dafür gefundenen Lösungen lesen sich teilweise geradezu absurd. So wurde etwa bei der Frage, wie viele Angestellte jemand im Sozialismus haben könnte, Marx herangezogen: er hatte im „Kapital“ anhand eines Beispiels eines Unternehmers mit acht Angestellten erklärt, wie der Lohnmechanismus funktionierte; messerscharf schlossen die chinesischen Ideologen, dass jemand mit sieben Angestellten ein Proletarier sein musste. Doch wie sollte man damit große Unternehmen mit Rationalisierung und Fortschritt erreichen? Simpel. Die Regierung erklärte niemals eine offizielle Zahl als zulässig, sondern zitierte nur Marx. Mutige Funktionäre konnten diese Limits straflos überschreiten.
Mut war dafür allerdings erforderlich. Denn die neuen Unternehmer sahen stets der Gefahr ins Auge, dass es zu einem Politikwechsel in der KPCh kommen würde, entweder durch einen Sinneswandels Dengs oder durch seinen Fall, und dass dann alle „Kapitalisten“ hart bestraft werden würden. Genau das war unter Mao zweimal geschehen, mit katastrophalen Folgen für alle Betroffenen. Deng versuchte deutlich zu machen, dass er die Regeln nicht ändern würde – die KPCh spricht in diesen Jahren ständig von Jahrhunderten oder gar gleich von Jahrtausenden, die die neue Politik gelten soll – aber Dengs Versagen im Kampf gegen die Inflation, das 1988 zu einer Wirtschaftskrise führte und sein Prestige und seine Macht massiv angriff, konnte direkt als abschreckendes Beispiel gesehen werden.
Deng begrenzte die Sonderwirtschaftszonen auch aus Stabilitätsgründen. Sie waren Brutherde der Korruption und schufen alle Arten von Problemen im Umgang mit dem restlichen China. Gebetsmühlenartig betonte Deng, dass einige Gebiete zuerst reich werden würden und dafür danach den anderen helfen, ebenfalls reich zu werden. Nur ist dieser langfristige Blick natürlich wesentlich leichter zu vertreten, wenn man bereits reich ist. Auch die Situation in Macao und Hong Kong, die beide noch europäische Exklaven waren (Portugals und Großbritanniens) sorgten für Probleme, ebenso wie die Integration Tibets (das Vogel irritierenderweise immer als eine natürliche Provinz Chinas betrachtet). Deng prägte dafür den Begriff von „Ein Land, zwei Systeme“ und garantierte Hong Kong im Besonderen eine Aufrechterhaltung seines Systems „für die nächsten 1000 Jahre“, ein Versprechen, das Xi Xinping gerade reichlich brutal kassiert. Wenig verwunderlich, dass Taiwan solchen Versprechungen nur eingeschränkt Glauben schenken möchte.
Der Umgang mit Hong Kong war ein diplomatischer Problemfall der Extraklasse. Der britische Pachtvertrag endete 1997, so dass ab 1984 über die Übergabebedingungen verhandelt wurde. Die britische Regierung versuchte, eine Weiterverwaltung durch die britische Bürokratie bei gleichzeitiger Angliederung an China ins Gespräch zu bringen, eine kolonialistische Haltung, die vielleicht in Dengs Geburtsjahr 1904 hätte Erfolg haben können, aber 1984 ein absoluter non-starter war und die Verhandlungen beinahe direkt zum Erliegen brachte. Die Chinesen rückten niemals von voller Souveränität für Hong Kong ab, was die Briten schließlich akzeptierten. Dafür garantierte Beijing den Bestand des Hong Konger Systems für mindestens 50 Jahre.
In Tibet spielten Nationalitätenprobleme sowie der Umgang mit dem Dalai Lama eine große Rolle. Auch hier hat Vogel die etwas irritierende Angewohnheit, die Lage sehr aus Dengs Sicht zu schildern, wo es vor allem um die Herausforderung durch die Souveräntitätsansprüche der ethnischen Minderheit der Tibeter*innen geht, die durch Han-Chines*innen teilweise verdrängt wurden (besonders in der Hauptstadt Lhasa). Letztlich gelang es Deng aber auch hier, eine Entspannung der Lage zu bewirken und Kompromisse zu schließen, die zwar nicht mit der Rückkehr des Dalai Lama nach China endeten (Dengs Ziel), aber die Lage beruhigten. Das mag aus Dengs Sicht ein Erfolg und ein Abhaken des Problems gewesen sein; aus der des Dalai Lama und der vielen Exil-Tibeter*innen (die Vogel als radikale Exilanten abqualifiziert) sicher nicht.
Weitere Aufmerksamkeit widmet Vogel auf dem außenpolitischen Parkett noch dem Krieg gegen Vietnam. Es war ein „war of choice“ Dengs, den er gegen starke Widerstände im chinesischen Militär und der Partei durchdrückte. Die chinesische Armee war schlecht vorbereitet und erreichte die (bewusst bescheiden) gesteckten Ziele erst nach starken Verzögerungen. Dengs Geschick zeigt sich aber auch hier darin, dass er die Ziele (Eroberung von fünf Provinzhauptstädten und dem Pass nach Hanoi) erreichbar hielt und einen klaren Zeitrahmen von 33 Tagen vorgab, innerhalb derer die Operation abgeschlossen sein musste. Das Ziel war, die Sowjetunion von einer Stationierung von Truppen abzuschrecken (die leicht in einen heißen Krieg gegen China verwickelt werden konnten) und Vietnams Ambitionen in Kambodscha und Laos zu blockieren.
Auch hier erklärt Vogel Dengs Strategien zum vollen Erfolg. Es bleibt offen, inwieweit Vietnam nicht ohnehin aus Laos und Kambodscha hätte abziehen müssen, weil es nicht in der Lage war, die Besetzung der Länder aufrechtzuerhalten und wie viel Engagement die Sowjetunion angesichts des Afghanistankriegs hätte aufbringen können. Dass Deng den Krieg mit Vietnam bewusst auf kleiner Flamme weiterköcheln ließ und dadurch die Stationierung von mehr als 100.000 vietnamesischen Soldaten in der Grenzregion erzwang, durch die die chinesischen Truppen rotiert wurden um Kampferfahrung zu sammeln, mag strategisch gesehen durchaus sinnvoll sein, aber eine weniger sachliche Sicht auf die Dinge würde Vogel auch hier besser zu Gesicht stehen, bedenkt man, welches hunderttausendfache menschliche Leid hinter diesem zehnjährigen Grenzkrieg steht.
Die Wachstumsraten der chinesischen Volkswirtschaft hatten bereits zu Beginn der 1980er Jahre Unruhe bei den Konservativen verursacht, die Dengs Wirtschaftsprogramm ausgebremst hatten. Auffällig ist hier für mich die erneute Verwicklung von Wirtschaft und Politik: die hohen Wachstumsraten schufen einen Veränderungsdruck in der Gesellschaft und verteilten die Macht neu, besonders weil zahlreiche Schichten wohlhabend wurden, die bisher keinen Zugang zu Wohlstand hatten. Das war auch die erklärte Absicht von Dengs Programm, gefährdete aber die bestehenden Eliten. Diese versuchten, die Inflation mit harschen Mitteln unter Kontrolle zu bekommen – was 1988 zu einer Rezession der chinesischen Volkswirtschaft führte. Es zeigen sich hier auch die Grenzen von Dengs Macht, der es nicht schaffte, diese Politik trotz seiner Opposition dagegen zu stoppen.
Das lag zu großen Teilen daran, dass Deng seit 1987 begann, sich aus den aktiven Führungsrollen zurückzuziehen. Der Machtwechsel war ihm ein besonderes Anliegen; er wollte unbedingt vermeiden, wie Mao im Amt zu sterben und dann Unsicherheit und einen kompletten Politikwechsel zu hinterlassen. Stattdessen wollte er ein stabiles System, in dem es keine Lebenszeit-Ämter mehr gab, sondern alle Funktionäre Amtszeiten hatten. Allen Beteiligten war auch klar, dass wenn Deng zurücktrat alle anderen Funktionäre seiner Generation ebenfalls zurücktreten würden müssen. Ihre Absicherung, materiell wie politisch, war ein schwieriges Anliegen, zu dem wir noch einmal zurückkehren werden.
Die wirtschaftlichen Verwerfungen durch die radikale Inflationsbekämpfungsplitik sorgten, wenig überraschend, für große Unzufriedenheit. Dass die Inflationsraten niedriger waren, war den Millionen, die nun ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten beraubt waren, egal. Gleichzeitig hatten die Konservativen auch in anderen Bereichen Aufwind, womit Deng allerdings in diesem Falle kein allzu großes Problem hatte: die gesellschaftliche und politische Öffnung war ihm, anders als die wirtschaftliche, nie ein Anliegen gewesen. Es waren vor allem die Studierenden der Universitäten der großen Städte, die diese Öffnung wollten. Dies nicht nur aus prinzipiellen Gründen, sondern auch, weil sie sich von mehr Demokratie und Meinungsfreiheit bessere Entfaltung für ihre eigenen Karrieren erhofften. All diese Hoffnungen wurden durch die konservative Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zerstört und führten zu anhaltenden Protesten.
Für Deng und den Rest der chinesischen Führung war klar, dass diesen Protesten Einhalt geboten werden musste. Die Entwicklungen in Osteuropa, vor allem in Polen, standen ihnen als mahnendes Beispiel vor Augen. Versuche, die Demonstrierenden durch Warnungen und Aufrufe zu zerstreuen scheiterten auch daran, dass die KPCh seit mittlerweile fast zwei Jahren Warnungen und Aufrufe veröffentlichte. Dem letzten solchen Aufruf, bei dem die Menschen verklausuliert gewarnt wurden, „zum Schutz ihres Lebens“ in ihre Häuser zurückzukehren, wurde wenig Beachtung geschenkt. Als dann das Militär in Beijing einrückte, um den Tian’anmen zu räumen, wurde der Einmarsch von Straßenblockaden gestoppt, die Fahrzeuge ausgeschaltet und die ländlichen Soldaten über die Lage aufgeklärt, die sich oft genug mit den Demonstrierenden verbrüderten.
Die KPCh radikalisierte sich durch diese Geschehnisse. Die Konservativen gelangten endgültig an die Oberhand, einige herausragende Reformer mussten zurücktreten. Das Militär wurde heimlich in die Stadt infiltriert und bewaffnet, und als der Befehl zum Losschlagen kam, ging es mit ruchloser Effizienz gegen die Demonstrierenden vor und räumte mit nackter Gewalt den Tian’anmen. Diese Geschehnisse sind so etwas wie der Elefant im Raum jeder Betrachung von Dengs Amtszeit, denn das „Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens“ ist im Westen ziemlich bekannt.
Es ist hier, wo ich die größten Bauchschmerzen mit Vogel habe. Das fängt schon mit der Sprache an: Vogel spricht im Zusammenhang mit Tian’anmen stets von einer „Tragödie“, vergleicht sie mit der Kulturrevolution und dem Großen Sprung, die nicht annähernd so viel Kritik bekämen (nicht zu Unrecht, und von der Identifizierung westlicher Linker mit Maos Politiken gar nicht erst zu reden) und versucht sich am Ende mit einer Aufrechnung der Toten von Tian’anmen und dem wirtschaftlichen Erfolg Chinas. Das ist in meinen Augen mehr als problematisch. Denn „Tragödien“ sind Erdbeben. Massaker sind menschengemacht. Diese Verwässerung von Verantwortung ist zutiefst problematisch. Und ja, sicher, im Vergleich zur Sowjetunion steht China heute besser da, aber so zu tun, als wäre der Weg von Tian’anmen zur Auflösung Chinas und einer gleichartigen Entwicklung gegangen ist gewagt. Vogel geht nicht ganz so weit, aber er deutet genug an und lässt zu vieles im Ungefähren oder erklärt es für Unbeantwortbar, was angesichts der klaren moralischen Lage – ein totalitäres Regime schießt Demonstrierende zusammen – ein ziemlich feiger Ausweg ist, um Dengs Ansehen unbeschadet zu retten.
Von Tian’anmen an gewannen die Konservativen auch in anderen Bereichen die Oberhand. Das wirtschaftliche Wachstum wurde gebremst, die Bevölkerung stärker kontrolliert, die Außenpolitik verschärfte sich. Der Westen sanktionierte China, aber ernstzunehmen war das nie. Präsident George H. W. Bush ließ Deng informell wissen, dass er die Sanktionen ablehnte, und unterlief sie mit krasser Offenheit – die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China war wesentlich wichtiger als das Blut der Demonstrierenden, eine Sichtweise, die uns heute mit Russland auf die Füße fällt und die angesichts von Xi Xinpings Politik auch mit der Volksrepublik nicht unbedingt als reiner Erfolg in die Geschichte eingehen dürfte.
Deng indessen, der 1992 endgültig von allen Ämtern zurücktreten wollte, rüstete sich zu einem letzten großen Kraftakt. Für diesen kopierte er ausgerechnet Mao, der 1965 in einer ähnlichen Situation war. Mao war es damals nicht möglich gewesen, einen Artikel mit Aufrufen zu verstärktem klassenkämpferischen Furor in der Beijinger Zeitung zu veröffentlichen. Er hatte ihn daher in Shanghai publiziert und war dann zu einer Reise in den Süden aufgebrochen, wo er für die Kulturevolution agitierte („der Funken, der den Steppenbrand auslöst“). Deng konnte ebenfalls keinen Artikel für mehr Marktreformen in der Beijinger Zeitung unterbringen, tat das in der von Shanghai und brach zu einer Reise in den Süden auf.
Hier zeigen sich die internen Konfliktlinien der KPCh. Während Regionen, die von den Reformern kontrolliert wurden, begeistert von Dengs Reise und seinen Reden berichteten, versuchten konservativ kontrollierte Gegenden wie Beijing sie komplett zu verschweigen. Es gelang Deng allerdings, wie Mao vor ihm, die Debatte zu drehen. Am Ende seiner Reise war es ihm gelungen, seine zentralen Prämissen in ganz China verbindlich zu machen: „Planen ist nicht sozialistisch, Markt ist nicht kapitalistisch, beides sind nur Werkzeug“ und „Armut ist nicht sozialistisch“. Diese völlige Abkehr von Mao, die sich seit den frühen 1970er angedeutet hatte, war nun vollständig. Sämtliche Nachfolger Dengs verpflichteten sich auf diese Linie und akzeptierten auch die institutionellen Reformen der Amtszeitbegrenzungen.
An dieser Stelle würde ich Vogel geradezu vorwerfen, dass er diesen riesigen Erfolg Dengs nicht gebührend würdigt. Es zu schaffen, sämtliche Nachfolger*innen für zwei Jahrzehnte auf das selbst geschaffene System zu verpflichten, ist ein Desiderat, dessen sich nur wenige rühmen können – man denke an Roosevelt, Thatcher oder Reagan, die ähnliche langfristige Erfolge feiern konnten. Ich halte dies für die zweitgrößte Leistung Dengs.
An dieser Stelle macht es Sinn, über eine weitere strukturelle Schwäche des Buches zu sprechen. So sehr ich es schätze, dass Vogel den Menschen Deng weitgehend ignoriert – es ist eine Geschichte seiner politischen Winkelzüge und, vor allem anderen, seiner Policy-Initiativen – was die sonst in der angelsächsischen Historigrafie weit verbreitete Unsitte der „Vermenschlichung“ historischer Akteure und dem Begraben von Analyse und Akkuratheit unter eingängigen Anekdoten vermeidet, so sehr fehlt mir eine vernünftige Erklärung der Funktionsweise der KPCh. Ich erfahre zwar, dass Mao 1965 und Deng 1991 keine Artikel in der Bejinger Zeitung veröffentlichen konnten und intern an Macht verloren, aber wie diese Dinge genau funktionieren, bleibt weitgehend unklar. Wer ist denn dafür zuständig? Der Chefredakteuer? Das Politbüro? Ich würde gerne mehr über die Funktionsweise der Institution KPCh erfahren, ohne die das Vorgehen Dengs häufig eher eine Black Box bleibt.
Vogel beendet die Monografie mit dem Versuch eines Fazits. Er sieht Deng Xiaoping als den wohl bedeutendsten, größten Politiker des 20. Jahrhunderts, und es ist verständlich, wie er darauf kommt. Anders als Staatenlenker wie Mao, Stalin oder Hitler hat er keine Millionen auf dem Gewissen; seine Reformprogramme waren überwiegend erfolgreich (Maos „70% Gutes“ kommen wohl hin), es gelang ihm, sie dauerhaft zu verankern. Gleichwohl bleibt ein Nachgeschmack der Hagiografie; auch wenn Vogel das Buch 2011 schrieb und Xi Xinping damit nicht mehr vorkommt ist allein der Schlusssatz, in dem er Dengs Vermächtnis von Chinas außenpolitischer Haltung als „ein harmonisches und friedliches Verhältnis zu den Nachbarn“ und eine Weigerung, Hegemon sein zu wollen, beschreibt, angesichts des von Deng angezettelten Krieges gegen Vietnam ein bisschen tief in die Kitschkiste gegriffen. Auch Südkorea und Japan sind jetzt nicht unbedingt in harmonischen Verhältnissen, die Tibeter dürften ein Wörtchen mitzureden haben und mit Indien ist das Verhältnis auch nicht so rosig.
Nichtsdestotrotz darf man Deng sicherlich als großen Staatsmann würdigen, sofern man seine Schattenseiten auch anerkennt. Davon gab es mir bei Vogel etwas zu wenig, und die strukturellen Schwächen fehlender Institutionenkunde habe ich ja bereits angesprochen. Trotzdem gebe ich eine Leseempfehlung für dieses Werk. Die Phase ist eine wichtige, und darüber zu lernen notwendig.
Rezension: Neil Gaiman – Sandman Overture
Ich schäme mich ein wenig, muss ich zugeben. Mir ist nämlich die Existenz von „Sandman Overture“ völlig entgangen, als ich 2021 das ganze Epos von Gailman in der neuen, fünfbändigen Edition gelesen und rezensiert habe (hier, hier, hier und hier). Aber ich hab ja auch vergessen, Band 4 zu rezensieren, irgendwas ist immer. Zumindest den Fehler mit „Overture“ habe ich nun korrigiert und den ebenfalls recht neuen Sammelband herangeschafft und gelesen. Und, was soll ich sagen: es war ein Fest. Nicht nur hat Gailman eine absolut faszinierende Geschichte vorgelegt, die zwar technisch gesehen ein Prequel ist, sich aber eigentlich nur mit dem Wissen des ganzen Epos vernünfig genießen lässt. Nein, „Overture“ ist auch ganz große Comic-Kunst, weil J. H. Williams III. nicht nur grundsätzlich beeindruckende Zeichnungen erschafft, sondern auch die Grenzen des Mediums in einem Ausmaß ausreizt, das ich selten zuvor gesehen habe. Wo Dave Gibbons bei „Watchmen“ eine strenge Symmetrie von neun Panels pro Seite einhält, um das Augenmerk auf der eigentlichen Geschichte zu halten (so Alan Moores erklärte Absicht), sprengt J. H. Williams III. nicht nur die Idee von Panels, sondern auch gleich davon, dass maximal eine Doppelseite zur Verfügung stehen könnte.
Mehrmals finden sich in „Overture“ riesige Splashs auf Aufklappseiten, Texte und zerbrechende Panels sind manchmal im oder gegen den Uhrzeigersinn auf einer Doppelseite angeordnet, Bilder werden in anderen Bildern verortet, der Kosmos selbst fasst Rückblenden in die Vergangenheit ein, die wiederum das Geschehen der Gegenwart aufbrechen – die kreative Vielfalt in Worten zu beschreiben, ist fast unmöglich. Die Zeichnungen selbst sind ebenfalls atemberaubend gut geworden, und da sie alle vom selben Zeichner sind, entsteht eine größere Kontinuität, als dies bei dem Opus der anderen fünf Bände der Fall ist. Damit endet allerdings meine künstlerische Expertise auch; ich kann zwar die Kunst auf den Seiten weiter bestaunen, aber nicht clever dazu schreiben. Wenden wir uns also der Geschichte zu.
Diese beginnt auf einem erdähnlichen Planeten, auf dem (unter anderem) eine Rasse intelligenter fleischfressender Pflanzen lebt. Wie bei allen intelligenten Lebewesen kennt auch sie einen Aspekt von Traum, der mit der beunruhigenden Erkenntnis beginnt, dass irgendetwas sehr, sehr falsch ist – um dann spektakulär und schmerzhaft zu verbrennen. Die Bedeutung dieses Zwischenfalls wird erst spät am Ende des Bands klar. In der Gegenwart des Jahres 1913 irdischer Zeitrechnung, also kurz vor der Gefangennahme Traums durch einen gewissen überehrgeizigen britischen Logenvorsitzenden, begegnet Traum einer Menge von Aspekten seiner selbst. Neben der amüstanten Feststellung, dass Traum kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse ist – er erträgt die emohafte Selbstzentriertheit der anderen Aspekte kaum – stellen sie geeint fest, dass irgendetwas sehr falsch läuft und dass sie – er? – herausfinden müssen, was es ist.
Zusammen mit dem Katzenaspekt seiner selbst und einem außerirdischen Mädchen namens Hoffnung (subtil!) macht sich Traum auf, herauszufinden, was passiert ist. In aller Kürze, falls so etwas überhaupt möglich ist: als der erste Vortex erschien, weigerte sich Traum lange, diesen zu töten, wodurch beinahe eine Katastrophe geschah. Dieses Ereignis hat Welleneffekte durch den Kosmos geworfen, dessen Existenz nun bedroht ist. Zumindest in diesem Universum, denn wenn es tatsächlich untergehen sollte, würde ein neues entstehen (oder weiterexistieren, wer kann das schon so genau sagen), das ebenfalls wieder Aspekte der Endlosen, zu deren illustren Familie Traum gehört, aufweisen würde. Die Frage, ob der Untergang des Universums verhindert werden sollte, ist daher so eindeutig gar nicht zu beantworten.
Der Weg führt Traum denn auch zuerst zu seinem Vater, Zeit. Es ist das erste Mal dass wir den Eltern der Endlosen begegnen, und Zeit ist nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse. Wer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft personifiziert hat kein sonderlich ausgeprägtes Interesse an irgendeinem spezifischen Zustand, so dass Traum hier keine Hilfe zu erwarten hat. Ähnlich unkooperativ erweisen sich die Sterne, deren Personifizierungen in einer eigenen Stadt, mit eigenen Gesetzen, leben und Traum gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen sind. Einer der Ihren ist über Traums Handlungen verrückt geworden, und sein Wahnsinn ist es, der das Universum zerreißt. Die unkooperativen Sterne stoßen Traum in ein Schwarzes Loch, wo er seiner Mutter, Nacht, begegnet. Nicht unbedingt schockierend ist, dass sie nicht gut auf Zeit zu sprechen ist und mit der Vorstellung, dass das Universum sich in ein Schwarzes Nichts verwandeln könnte, eigentlich nicht unzufrieden ist.
Das Universum zu retten ist Traums Aufgabe, und eine, die beinahe unmöglich ist. Zusammen mit Träumer*innen aus den verschiedensten Galaxien reist er nun mit einer Art Traum-Arche durch den Kosmos. Um den Punkt noch zu verdeutlichen, wird Hoffnung getötet – nicht ohne Traum damit zu beauftragen, ihren Namen niemals zu vergessen, auch wenn die Geschehnisse von „Overture“ selbst bald der Vergessenheit anheim fallen werden. Tatsächlich vergisst Traum ihren Namen nicht; man erinnere sich an das Duell gegen Choronzon im ersten Sammelband (vierter Band insgesamt). Den Träumenden auf der „Arche“ gelingt es schließlich, gemeinsam eine Welt zu erträumen, in der Traum den Vortex so tötete, wie es sein Auftrag war – und damit das Universum zu retten (auch diese Idee dürfte den geneigten Lesenden aus der eigentlichen Saga bekannt vorkommen). Die Universumsrettung aber erschöpfte Traum, weswegen er denn auch gefangen wird – der Kreis schließt sich.
Ich habe hier nur die absolute Oberfläche eines absolut epischen und universumumspannenden Plots angerissen, der so viele verschiedene Ebenen und Metaphern hat, dass ich die zweite Lektüre des Bandes kaum abwarten kann. Wer wie ich den Sandman schon gelesen, Overture aber auch verpasst hat, sollte die Lektüre dringend nachholen.
Rezension: Art Spiegelman – Maus
Es ist nicht das erste Mal, das ich „Maus“ lese, und auch nicht das zweite. Aber ich habe mich zu dem Graphic Novel hingezogen gefühlt, nachdem ich in Krakau im „Galicia Jewish Museum“ die dortige Ausstellung „Sweet Home Sweet“ gesehen habe. Diese befasste sich mit der Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, aber mit dem ungewöhnlichen Zugang, seine Nachkommen in Oral History zu Wort kommen zu lassen. Was mir dabei besonders auffiel war das intergenerationelle Trauma, das in all den Zeugnissen zum Ausdruck kam. Der Holocaust hatte seine Spuren auch noch in der zweiten und dritten Generation hinterlassen, etwa wenn die Kinder nicht verstehen konnten, wie egal ihrem Vater ihre Probleme oftmals waren, weil sie neben der Vernichtung des Rests der Familie in den Gaskammern nie Signifikanz erzielen konnten. Neben der Haupthandlung des Überlebens in Auschwitz, die bisher bei „Maus“ mein Hauptaugenmerk eingenommen hatte, thematisiert die Geschichte ja aber auch genau dieses intergenerationelle Trauma, das der nach dem Krieg geborene Art Spiegelman von seinem Vater Vladek indirekt mitbekam. Unter dem Eindruck des Jüdischen Museums, des Schindler-Museums und natürlich der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau selbst, die ich vergangene Woche mit Schüler*innen besucht habe, fühlte ich mich stark zu einer neuen Lektüre des Graphic Novel hingezogen.
Die Geschichte von Vladeks Überleben hat nichts von ihrer Wirkungskraft eingebüßt. Die historische Genauigkeit, mit der Spiegelman zu Werke geht, ist immer wieder beeindruckend. Das betrifft nicht nur die Darstellung der Details, sondern auch den eigentlichen Ablauf des Holocaust. Der Ablauf in Stufen, die sich langsam steigerten, wird angesichts der Allgegenwärtigkeit von Auschwitz bis heute kaum wahrgenommen. Dabei erstreckt sich das Martyrium über Jahre, in denen die Juden erst entrechtet, dann vertrieben, dann in Ghettos gesperrt, dann in Lager gebracht werden. Auf jeder dieser Stufen fanden Selektionen statt und es bestand stets das Risiko von willkürlichen Erschießungen.
Das Überleben dieser Stufen war jedes Mal vom Zufall geprägt. Zwar hatte man, das wird mehr als deutlich, ohne Geld, Verbindungen und nützliche Talente überhaupt keine Chance. Aber unter den Leuten, die diese drei Faktoren auf ihrer Seite wussten, regierte ebenfalls der Zufall. Besonders beeindruckend finde ich etwa die Szene, in der Vladeks Schwiegereltern nicht aus dem Ghetto fliehen können und sein Schwiegervater sich am Fenster die Haare rauft, weil er genau weiß, dass er bald in Auschwitz sterben wird. Vladek kommentiert das beinahe lakonisch: „Sie starben im Gas. Er war ein Millionär, aber es half ihm nichts.“ Man macht sich keine Vorstellungen, wie tiefgreifend der Holocaust soziale Beziehungsgeflechte zerstörte.
Das gilt besonders für das Verhältnis der Juden untereinander, das besonders in der deutschen Aufarbeitung – durchaus aus guten Gründen – kaum vorkommt. Die Judenräte, die jüdische Polizei und allerlei Kriegsgewinnler sind für Vladek und viele andere mindestens genauso große Hindernisse und Feinde wie die Deutschen selbst, manchmal sogar noch schlimmer. Gleiches gilt für die Polen, denen zu begegnen für die fliehenden Juden oft lebensgefährlich war. Als Vladek in eine Gruppe polnischer Kinder gerät, die ihn als Juden beschimpfen, entkommt er nur, weil das Spiel mitspielt und ihnen freundlich erklärt, kein Jude zu sein; diese erkenne man am grässlichen Äußeren. Es ist eine Zerstörung von Identitäten, die ungeheur tiefgreifend ist.
Vladek selbst dürfte für viele seiner Leidensgenoss*innen auch nicht eben der sympathischste Bezugspunkt sein. Er überlebt, weil es ihm immer wieder gelingt, Vorzugsbehandlung zu erlangen: bessere Kleidung, ausreichend Essen, Schutz vor Selektionen. Dazu gehört viel Glück, und er schadet nie aktiv anderen. Aber zu den dunklen Wahrheiten des Holocaust gehört, dass ohne solche Vorteilsnahme ein Überleben ausgeschlossen war, ein Faktor, der zum „survivor’s guilt“ vieler Überlebender beiträgt, die so doppelt traumatisiert durchs Leben gehen.
Bei meiner nunmehr dritten Lektüre blieb mir auch wesentlich eingängiger als beim ersten Mal die Zeit der Todesmärsche in Erinnerung. Das Überleben von Auschwitz stellt nämlich gar nicht die größte Herausforderung für Vladek dar, so ungeheur sich das anhört. Viel schlimmer wird es für ihn in den anderen Lagern wie Großrosen und Dachau, wo zwar keine Vergasungen drohen, er aber an Typhus erkrankt und nachts über die Leichen zur Toilette muss, die sich vor dieser stapeln; seine Beschreibung vom Geräusch, das die Köpfe der Toten machen, wenn er auf die tritt, ist nichts für schwache Nerven. Vladek überlebt letztlich nur, weil er mit seiner Brotration Mitgefangene besticht, ihm zur Toilette zu helfen. Die letzten Todesmärsche nach Bayern im April 1945 bringen dann noch einmal ihre eigene Lebensgefahr. Während die Amerikaner nur wenige Kilometer entfernt sind, verraten örtliche Einwohner*innen immer noch Juden an die SS, die ihrerseits Erschießungen durchführt, ehe sie ihre Uniformen zurücklässt und flieht. Erneut überlebt Vladek nur durch Glück und Zufall.
Aber wie bereits eingangs erwähnt ist es Arts eigene Geschichte, die mich unter dem Eindruck der „Sweet Home Sweet“-Ausstellung dieses Mal besonders berührt hat. Der Vladek der frühen 1980er Jahre ist ein alter, traumatisierter Mann. Er streitet permanent mit seiner zweiten Ehefrau (seine erste Frau, die Mutter Arts, hat in den 1960er Jahren Selbstmord begangen, weil sie das Trauma nicht verwinden konnte), sammelt allerlei Müll an, weil er vielleicht einmal nützlich werden könnte, und ist krankhaft sparsam. Ebenso krankhaft ist sein Pragmatismus; er lehnt alles ab, was nicht dem Überleben dienlich sein kann, weswegen Arts Karriere als Comiczeichner ein beständiger Streitpunkt ist.
In den Gesprächen mit seinem Vater, vor allem aber mit seiner eigenen Frau, wird sich Art immer mehr bewusst, wie sehr er den Holocaust selbst mit sich herumschleppt, was in einer Doppelseite des Comics deutlich wird, die mit Art, eine Mäusemaske tragend, am Schreibtisch beginnt, sich zu einer Verlagerung des Schreibtischs in einen Leichenhaufen in der Gaskammer steigert und schließlich damit endet, dass er, nun in voller Mäusegestalt, als Kleinkind verzweifelt um Hilfe ruft.
Dieser Graphic Novel ist keine vergnügliche Lektüre, so viel ist sicher. Aber er ist das eindrücklichste Werk über den Holocaust und seine Nachwirkungen, das ich kenne. Bevor man irgendeine der viel zu vielen Schmonzetten und Betroffenheitsreproduktionen über diese Zeit konsumiert, sollte man unbedingt zu diesem Werk greifen.
Alexander Thiele – Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit
Eines der positiven Produkte der Corona-Pandemie war eine Flut von Podcasts, die von Leuten gemacht wurden, die viel zu sagen hatten, aber bis dato das Medium nicht für sich entdeckt hatten. Eine dieser Personen war Alexander Thiele, Verfassungshistoriker an der Universität Göttingen, der angesichts des Lockdowns für seine Studierenden und das interessierte Publikum einen Podcast zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit produzierte. Dieser war – völlig zu Recht – sehr erfolgreich, und Thiele tat das, was Wissenschaftler*innen in solchen Fällen immer zu tun pflegen: er machte ein Buch daraus, indem er seine (ohnehin schon druckreifen) Skripte überarbeitete und um einen Fußnotenapparat ergänzte. Das Ergebnis ist ein sehr lesbares Buch zu einem (zumindest aus meiner nerdigen Perspektive) sehr spannenden Thema, das unbedingt empfehlenswert ist.
Thiele beginnt seine Darstellung mit einigen grundlegenden Definitionen von Verfassungen. So sieht er eine ihrer zentralen Funktionen in der Abgrenzung von Herrschaftsrechten, also einer Kontrolle der Regierenden. Als weiteres Merkmal moderner Verfassungen sieht er ihre grundsätzliche Revidierbarkeit, üblicherweise durch einen geregelten Veränderungsprozess. Verfassungen schreiben einen vergangenen Zustand nicht für alle Ewigkeit fest (ein Gedanke, der uns später bei der amerikanischen Revolution wieder begegnen wird). Ein weiteres Merkmal moderner Verfassungen ist die Garantie von Grundrechten. Zuletzt befasst sich Thiele noch mit der Frage der Souveränität im Verfassungsprozess: es ist ein Paradox, dass demokratische Verfassungen eigentlich nie demkratisch zustandekommen, sondern von einer schmalen Elite geschaffen und oktroyiert werden. Ihre demokratische Legitimation erreichen sie üblicherweise nicht durch ihre Verabschiedung, sondern erst hinterher durch Akzeptanz aller gesellschaftlichen Gruppen. Die Legitimation muss also historisch wachsen.
Den Beginn der modernen Verfassungsgeschichte setzt Thiele mit der US-Verfassung, die als erste die obigen Bedinungen erfüllt (deren Willkürlichkeit Thiele übrigens klar ist, nur: irgendeine Definition muss man verwenden). Der Fokus der amerikanischen Verfassungsväter lag klar auf den bürgerlichen Freiheitsrechten. Diese wurden in zwei Richtungen verteidigt: einerseits gegen den Zugriff eines zunehmend als fremd und illegitim empfundenen Staates, andererseits aber gegen Korrekturversuche von unten. Von einer demokratischen Verfassung kann man mithin also nicht sprechen, wie auch die Verfassungsväter immer Wert darauf legten, eben KEINE Demokratie schaffen zu wollen. Das amerikanische Verfassungsprojekt war von Anfang an konservativ und auf die Beschränkung des Staates gerichtet.
Das ist gut daran erkennbar, dass zu Anfang auch keine Grundrechte enthalten waren, weil die Verfassungsväter verhindern wollten, dass ihre beherrschende gesellschaftliche Stellung durch diese eingeschränkt werden könnte. Erst die Verabschiedung der ersten zehn Amendments sorgte also dafür, dass die US-Verfassung als moderne Verfassung angesehen werden kann. Neben den Grundrechten ebenfalls hochumstritten war die Veränderbarkeit: das Problem, dass die Generation der Verfassungsväter zukünftige Generationen nicht an ihre Vision binden konnte, war ihnen allen bewusst. Man diskutierte lange über ein Verfallsdatum nach 15 oder 30 Jahren, nach dem eine neue Verfassung hätte ausgearbeitet werden müssen; aus praktischen Gründen entschied man sich stattdessen dann dafür, den Amendment-Prozess einzuführen, der seither eigentlich alle modernen Verfassungen auszeichnet.
Es ist gegen diese Folie der einschränkenden und konservativ-abwehrenden US-Verfassung, vor der Thiele die französischen Verfassungen der Revolutionszeit setzt. Ihre bleibende Wirkung war, universale Menschenrechte direkt an den Beginn des Dokuments zu setzen und einen umfassenden Auftrag und Anspruch des Staats zu ihrer Durchsetzung zu formulieren. Das Scheitern der Revolution und ihre Rückabwicklung von der Terrorherrschaft erst zum Direktorat, dann zu Napoleons Diktatur lässt Thiele eine These formulieren, die sich wie ein Roter Faden durch das Buch zieht: zu demokratische Prozesse führen meist nicht zu mehr Demokratie, sondern schnell zu Diktatur. Belastbar sind tatsächlich eher von Eliten aufoktroyierte Verfassungen, die dann ihre Legitimation über Zeit erhalten und sich demokratisieren. Dieser skeptische Blick auf Revolutionen ist derzeit stark im Aufwind und begegnet uns etwa in der Demokratieforschung Hedwig Richters ebenfalls.
Thiele ist auch deutlich darin, dass der Sonderfall der europäischen Verfassungsgeschichte nicht Deutschland ist, sondern Großbritannien. Als einziger moderner westlicher Staat verfügt das Vereinigte Königreich über kein schriftliches Verfassungsdokument. Thiele erklärt dies damit, dass es in Großbritannien dank eines kontinuierlichen (wenngleich langsamen) Entwicklungsprozesses hin zu einer Ermächtigung des Bürgertums niemals genug Unzufriedenheit für eine Revolution gab. Auch eine eine Fremdherrschaft existierte nie, weswegen in Großbritannien nie ein radikaler Bruch stattfand, der ein zentrales Dokument erfordert hätte. Gerade angesichts des Brexits steht dies aber in Großbritannien mehr und mehr in Frage, und es bleibt offen, ob die Briten in Zukunft nicht diesen Sonderweg aufgeben und ebenfalls eine geschriebene Verfassung annehmen werden.
Nach diesen Grundlagen im angelsächsischen und französischen Bereich wendet sich Thiele umfassend der deutschen Verfassungstradition zu. Diese lässt er mit dem Kampf gegen Napoleon und der Formierung des Deutschen Bunds 1815 beginnen. Die Verabschiedung von Verfassungen war eines der zentralen Ziele der entstehenden Nationalbewegung (neben der Schaffung eines Zentralstaats), und sie wurde besonders in den süddeutschen Staaten auch früh erreicht, die sich in diesen Jahren konstitutionalisierten. Demgegenüber weigerte sich Österreich beharrlich, eine Haltung, der sich bald auch Preußen anschloss. Metternich nutzte den Deutschen Bund, dessen Machtdynamik Thiele als mit der UNO vergleichbar beschreibt, um den Konstitutionalismus zurückzudrängen.
Es gelang ihm zwar nicht, die süddeutschen Staaten gänzlich zur Aufgabe ihrer Verfassungen zu bewegen (im Gegenteil, Bayern gab sich eine, um sich, in typischem Partikularismus, dem Einfluss Metternichs zu entziehen). Aber die Karlsbader Beschlüsse von 1819 schufen ein extrem repressives Klima, gegen das zwar immer wieder aufbegehrt wurde – das Hin und Her von liberalen Forderungen und konservativer Reaktion prägte den gesamten Vormärz -, das aber bis 1848 weitgehend Bestand hatte. Der Reformdruck in Preußen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Hand in Hand mit dem Konstitutionalismus ging, löste sich von diesem: unter dem Druck der politischen Verhältnisse erfüllten Hardenberg und die anderen Reformer zwar viele liberale Wünsche für die Ausgestaltung des Wirtschaftslebens, enthielten aber sowohl die nationale als auch die konstitutionelle Perspektive vor, die ein Desiderat der Liberalen blieb und diesen eine große Einheit und anhaltende Popularität bescherte.
An dieser Situation änderte die Julirevolution in Frankreich 1830 erstaunlich wenig. Es gab, anders als 1789, kein Überschwappen nach Deutschland, was Thiele vorrangig darauf zurückführt, dass trotz aller Repression die Situation erträglich war – noch hatte die Industrielle Revolution in Deutschland nicht Fuß gefasst, die Soziale Frage war noch nicht drängend. Ähnlich sieht es auch in Frankreich aus, wo die Revolution ebenfalls eher Episode blieb und die Monarchie nicht grundsätzlich angriff.
1848 dagegen sah die Lage anders aus. Thiele betont stark die Änderung der der sozialen Situation – die Lebensverhältnisse hatten sich durch Urbanisierung, technologischen Wandel und unmenschliche Bedingungen in den Fabriken massiv verschlechtert -, die einen großen Veränderungsdruck geschaffen hatte, der mit liberalen Wünschen ein Bündnis einging. Noch allerdings waren die Menschen tief im Honoratiorensystem verwurzelt; bei den Wahlen zum Vorparlament etwa siegten vorrangig hervorgehobene liberale Persönlichkeiten moderater oder konservativer Einstellung (bereits das Paulskirchenparlament war dann deutlich demokratischer aufgestellt, Resultat eines Radikalisierungsprozesses).
Das Scheitern der Revolution führt Thiele hauptsächlich auf die Einzelstaaten zurück. Die Revolutionäre hatten die doppelte Herausforderung, nicht nur bestehende Systeme umwerfen beziehungsweise reformieren zu müssen – was angesichts monarchischer Doppelspiele und der fehlenden Kontrolle der Paulskirche über das Militär ohnehin praktisch unmöglich war; Thiele stellt klar fest, dass die Monarchen dank ihrer Entschlossenheit, die Revolution mit dem Militär niederzuschlagen, kaum zu besiegen waren – sondern auch, ein Territorium zu konstituieren. Dieses aber hätte naturgemäß die Einzelstaaten entmachtet, und diese, nicht so sehr der preußische König, blockierten die Schaffung eines deutschen Nationalstaats.
Abschließend kommt Thiele zu dem Ergebnis, dass die Paulskirchenverfassung typisch für ihre Zeit war, indem sie einen Dualismus zwischen einer monarchischen Exekutive einerseits und einer liberalen Legislative andererseits konstruierte. Beide Gewalten arbeiteten nicht zusammen, sondern standen sich als Antagonisten gegenüber. Auch begründete 1848 nicht das Volk die Verfassung, sondern eine Elute. Diese Konstruktion wird besonders an der preußischen Verfassung von 1850 sichtbar, deren entsprechende Anlagen dann von Bismarck auf Spitze getrieben werden. Thiele ist es aber wichtig hervorzuheben, dass das für das Europa jener Zeit typisch war; die Sonderwegsthese lehnt er also auch hier entschieden ab.
An dieser Stelle bietet er zudem einige Ausblicke auf den Verfassungs- und Nationasbildungsprozess in Italien, Lateinamerika und Kanada. Er konstatiert Deutschland sehr ähnliche Prozesse in Italien, wo eine kriegerische Einigung durch einen Hegemonialteilstaat erfolgte, der dann die Verfassung oktroyierte. Diese blieb formal bis 1949 in Kraft, war aber eigentlich spätestens seit Mussolinis Machtübernahme (über die Antonio Scurati hervorragend schrieb) Makulatur. Auffällig ist die Orientierung an bestehenden Vorbildern auch bei den im 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erreichenden Staaten Lateinamerikas, die weitgehend Verfassungen nach dem amerikanischen Modell übernahmen (mit, sagen wir, eher gemischten Ergebnissen). Zuletzt betrachtet er Kanada, das schrittweise mehr Autonomie bekam, wodurch die Fehler im Umgang mit den späteren USA vermieden wurden und Kanada bis heute enge Bindungen zu Großbritannien behält.
Thieles Darstellungen zum deutschen Einigungsprozess sind wenig spektakulär und fassen vor allem die bekannten Vorgänge zusammen. Auch seine Analyse der Verfassung des Kaiserreichs enthält keine Überraschungen, die man nicht bereits bei Oliver Haardt und Hedwig Richter gelesen hätte. Das macht das Kapitel nicht schlecht. Die Herausbildung eines Ministerialsystems, gegen das Bismarck sich lang gestemmt hatte, gehört seither zur deutschen Verfassungswirklichkeit, ebenso wie die starke Stellung des Kanzlers oder der föderale Staatsaufbau (den natürlich die Paulskirchenverfassung bereits vorweggenommen hatte). Das größte Problem bleibt der Antagonismus zwischen Exekutive und Legislative, der sich aber im Verlauf des Kaiserreichs immer mehr abschmirgelte und spätestens 1917 zu einer Art parlamentarischer Verantwortlichkeit führte, die im Oktober 1918 dann auch formalisiert wurde – für jene kaum vier Wochen, in denen das Reich eine konstitutionelle Monarchie wurde, das große „was wäre wenn“ der deutschen Verfassungsgeschichte.
Ähnlich sieht es auch bei der Betrachtung der Weimarer Reichsverfassung aus, die wohl bekannteste deutsche Verfassung überhaupt (was die Analyse angeht). Thiele macht deutlich, dass es sich um keine schlechte Verfassung handelte. Die Legende, wonach Konstruktionsfehler in der Weimarer Verfassung ausschlaggebend für den Untergang der Republik waren, führt er vor allem auf eigennützige Narrative der frühen Bundesrepublik zurück, die sich einerseits in Abgrenzung zu Weimar legitimierte und andererseits versuchte, die Schuld an Hitler von den eigenen Eliten abzuschieben. Thieles Zerstörung einiger Mythen, die sich wahnsinnig hartnäckig halten, ist sehr willkommen. Dazu gehört auch die angeblich fehlende Verbindlichkeit des Grundrechtekatalogs.
Im Zusammenhang mit Hitlers „Machtergreifung“ befasst er sich vor allem mit der Legalitätsfrage. Um es kurz zu machen: die Präsidialkabinette, vor allem aber Hitlers Kanzlerschaft, waren verfassungswidrig und illegal. Der oft wiederholte Mythos, dass sie im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung abgelaufen wären – was gerne als Beleg für ihre Konstruktionsfehler hergenommen wird – ist einfach nicht zu halten.
Wenig überraschend daher konstatiert Thiele für die NS-Zeit eine Auflösung des konstituierten Staats; die NS-Diktatur existiere IN einer Verfassung, HATTE aber keine. Mit Ernst Fraenkel spricht er von dem „Doppelstaat“ aus Maßnahmen- und Normenstaat: zwar existierte letzterer grundsätzlich weiter, lag aber immer unter dem Zugriff des extralegalen Maßnahmenstaats, der jede Verfasstheit ad absurdum führte. Dem Zusammenbruch 1945 ging somit ein längerer Zerfallsprozess jeder verfassungsmäßigen Ordnung voraus, in dem sich die deutsche Staatsrechtslehre nicht unbedingt glänzend positionierte.
Nach dem Krieg entstanden zwei deutsche Staaten. Beide bekamen Verfassungen, aber beide Verfassungen wurden, einmal mehr, aufoktroyiert. Dem Grundgesetz hat das genausowenig geschadet wie die mangelnde Souveränität Deutschlands bis 1990; für die DDR dagegen wird man kaum von einer Verfassung in den etablierten Normen sprechen können. Das Selbstverständnis als „sozialistische Demokratie“ machte freie Wahlen ebenso unmöglich wie Gewaltenteilung. Das Konzept einer Opposition war auch ein Widerspruch in sich, akzeptiert man die Prämisse der DDR als Vertretung des gesamten Volkes. Grundrechte, so macht Thiele klar, gab es in der DDR nur für das Kollektiv, und da dieses durch den Staat vertreten wurde, konnte dieser schrankenlos walten. Auch die Zentralisierung der DDR einerseits und er föderale Aufbau der BRD andererseits zeigen deutlich, dass Autokraten und Bundesstaaten nicht zusammengehen, was Thiele Anlass für einen Aufruf zu mehr Begeisterung für den Förderalismus nimmt.
Bezüglich des Grundgesetzes betont Thiele einerseits eben jenen Föderalismus, weist aber andererseits auf die recht niedrigen Hürden von Verfassungsänderungen hin. Von Schuldenbremse bis Förderalismusreform wurde das Grundgesetz häufig, und allzu oft unnötig, geändert. Der politische Spielraum in Deutschland ist deswegen relativ klein, woran auch das Bundesverfassungsgericht nicht unerheblich Anteil hat; ich habe das hier im Blog auch bereits diskutiert.
Zuletzt noch ein kurzer Verweis auf die EU: ihr spricht Thiele, wenig überraschend, jede Verfassungsmäßigkeit ab. Er übernimmt stattdessen den Begriff des StaatenVERbunds. Es ist möglich, dass sich daraus in Zukunft noch ein Staatenbund entwickeln wird, der dann auch eine eigene Verfassung besitzt; aktuell sieht es nicht so aus, als würde das passieren. Dies delegitimiert die EU nicht, ist aber für das Verständnis der Geschehnisse wichtig.
Abschließend sei noch einmal die absolute Empfehlung für den Band wiederholt, mit der ich die Rezension begonnen habe.
Zeitschriften
Aus Politik und Zeitgeschichte – Rente
Spätestens seit Norbert Blüm uns versicherte, dass zwar Marmor, Stein und Eisen brechen, niemals aber die Rentenversicherungsanstalt (ich paraphrasiere) ist das Thema Rente, Zukunftsfähigkeit der Rente und Rentenreform aus dem politischen Diskurs kaum mehr wegzudenken. Verständlicherweise: Millionen von Menschen hängen in ihrem Lebensunterhalt auf Gedeih und Verderb von den monatlichen Zahlungen der Rentenversicherung ab, die bereits jetzt massiv aus dem Bundeshaushalt bezuschusst wird. Wie das in Zukunft weitergehen soll, ist völlig unklar. Ein guter Moment also (wie jeder andere Moment auch), sich mit der Rente zu beschäftigen. In der vorliegenden „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wird ein guter Rundumblick gewagt, der ein breites Themenspektrum abdeckt.
Im ersten Beitrag gibt Gerhard Bäcker einen guten Überblick über das System der deutschen Alterssicherung. Er beschreibt es als auf vier Schichten beruhend: die erste, mit Abstand größte, ist die Rentenversicherung (dazu die Beamtenpensionen und anderen Kassen für spezielle Gruppen wie Landwirte oder Selbstständigenverbindungen). Die zweite Schicht ist die betriebliche Altersvorsorge. Die dritte ist die private Vorsorge. Und die vierte die Existenzsicherung, also Sozialhilfe. Diese Schichten sind durch zwei Prinzipien verbunden: dem Äquivalenzprinzip, also der Idee, dass die Einzahlungen im Verhältnis zu den Auszahlungen stehen, und dem Solidarprinzip, also der Idee, dass die Gemeinschaft diejenigen stützt, die nicht genug eigene Anwartschaften haben. Diese beiden Prinzipien stehen in einem permanenten, unauflösbaren Konflikt.
Es ist nicht gerade eine atemberaubende Neuigkeit, dass die gesetzliche Rente sehr gering ist und kaum ein vernünfiges Auskommen im Alter sichern kann. Zwar hat die GroKo mit der „doppelten Haltelinie“ einen völligen Einbruch für den Moment verhindert, aber das ist kaum mehr als ein Tropfen auf heißem Stein, Sandsäcke auf einem Deich, der ständig von Überflutung bedroht ist. Die betriebliche Altersvorsorge soll diese Lücke stopen helfen, ein Versprechen, das, höflich gesagt, bisher auf sich warten lässt. Gleiches gilt für die private Vorsorge. Teilweise sind die Probleme mit der zweiten und dritten Schicht sicherlich auf politische Fehler zurückzuführen, aber selbst in Ländern, in denen wesentlich mehr „Eigeninitiative“ gepflegt wird (wie im UK) erreichen sie kaum 50% der Bevölkerung. Die Rente bleibt in allen Ländern ein ungelöstes Problem.
Claudia Vogel und Harald Künemund beschäftigen sich mit „Einkommen und Armut im Alter“, zwei Wörtern, die leider nur allzugut zusammengehen. Über 90% der Deutschen beziehen Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung; rund 29% aus einer betrieblichen Altersvorsorge und immerhin rund 2% aus privater Vorsorge – nicht mehr als ein Rundungsfehler. Die Zitierung der durchschnittlichen Beträge erspare ich mir hier, um nicht weinen zu müssen. Die Zahl der offiziell armutsgefährdeten alten Menschen ist seit 2005 um 50% gewachsen und liegt bei knapp 16%. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber weitgehend bekannt und lassen sich auf die Formel von „zu wenig Einzahlungen bei zu viel Auszahlungen“ eindampfen.
Kontroverser als diese Beschreibung des Status Quo dürften die Lösungsvorschläge Vogels und Künemunds sein. In der privaten Vorsorge erkennen sie keinerlei Lösungspotenzial, auch in der Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten nicht, die ja dann ihre eigenen Ansprüche erwerben würden und zudem zu wenige sind, um ernsthaft etwas an der Aufstellung des Systems zu ändern. Letztlich sehen die Autor*innen die einzige Möglichkeit in einer Steuerfinanzierung der Rente.
Einen anderen Strang der Reformdebatte nehmen Götz Richter, Anita Tisch, Hans Martin Hasselhorn und Lutz Bellemann in „Arbeit und Alter(n)“ ein. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie die ein höheres Renteneintrittsalter erreicht werden kann. Interessant finde ich die Ethik ihres Ansatzes. Sie erklären, dass die Finanzierungsprobleme auf eine gestiegene Lebenserwartung zurückgingen. Das mache es akzeptabel, das Renteneintrittsalter entsprechend zu erhöhen (siehe dazu auch weiter unten der Beitrag von Supan).
Die Autor*innen befassen sich im Rahmen des Beitrags auch mit den drei Kategorien des Renteneinritts: nicht mehr arbeiten dürfen, nicht mehr arbeiten können, nicht mehr arbeiten wollen. Alle drei Kategorien erfordern ihre eigene Betrachtung, was im Diskurs allzu häufig vermischt wird. Nicht mehr arbeiten dürfen ist das bekannte Problem, wenn ältere Menschen wegen der weit verbreiteten Altersdiskriminierung in Unternehmen keinen Job mehr finden (wesentlich seltener ist, dass Menschen quasi in Rente gezwungen werden, obwohl sie weiter erwerbstätig bleiben wollen). Das gehört dann häufig zum nicht arbeiten wollen: wer durch einen erzwungenen Jobwechsel keine äquivalent bezahlte Stelle mehr findet, sieht wenig Grund darin, nicht bereits früher in Rente zu gehen, wenn kein finanzieller Gewinn mehr im Arbeiten besteht. Das kann keine noch so gute Politik beheben. Und dann bleibt das nicht arbeiten können, vor allem bei schwer körperlich Tätigen. Die Autor*innen weisen aber darauf hin, dass das immer weniger Menschen betrifft (gleichwohl, ohne eine gute Lösung parat zu haben).
Interessant sind hier auch die im Beitrag zitierten Selbsteinschätzungen der Arbeitenden: je schlechter der Job, desto weniger lang glaubt man, ihn machen zu können. Das ist wenig überraschend, aber in der Selbsteinschätzung gibt es insgesamt nur zwei (!) Berufsgruppen, die glauben, bis 67 arbeiten zu können: Ärzt*innen und Geschäftsführende. ALLE anderen Gruppen geben (teils signifikant) niedrigere Werte an, und vermutlich nicht unrealistischerweise. Das bleibt für mich das größte ungelöste Problem der ganzen Debatte, denn die wenigsten Leute gehen voll leistungsfähig mit 67 in Rente.
Axel-Börsch Supan beschäftigt sich in „Der lange Schatten der Demokratie“ mit den politischen Handlungsfeldern der Rentenreform in Deutschland. Er befasst sich zuerst mit dem demografischen Faktor, den er in drei zu differenzierende Ursachen zerlegt: die Steigerung der Lebenserwartung, den Pillenknick und die langfristig gesunkenen Geburtenzahlen. Die letzten beiden sind letztlich „historisch“ und damit Einmaleffekte; es ist die Steigerung der Lebenserwartung, die Supan als Hauptproblem ausmacht. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die „doppelte Haltelinie“ der GroKo als eine „Scheinlösung“ und verlangt „echte Alternativen“.
Ein Vorschlag Supans ist ein Altersquotient: dieser soll garantieren, dass sowohl Renten als auch Löhne Kaufkraftsteigerungen haben, aber dass die Renten nicht mehr so stark steigen wie früher. Dadurch sinke das Rentenniveau nicht, es steige „nur“ nicht mehr so schnell wie bisher. Andere Alternativen wie das österreichische System, bei dem ein hohen Einstiegsniveau einem sehr niedrigen Steigerungsniveau gegenübersteht, verwirft Supan: Bereits jetzt muss die österreichische Politik mit „Ausnahmen“ gegensteuern. Für mich ist das wenig überraschend. Die scheinbar eleganten Lösungen, die auf irgendwelchen Automatismen beruhen (siehe auch CO2-Steuer) sind super anfällig für politische Einmischung. Was das Renteneintrittsalter betirfft ist der Clou, dass er eine Automatisierung im Verhältnis von grob 2:1 vorschlägt: für zwei Jahre gewonnene Lebenszeit werde die Eintrittsgrenze ein Jahr verschoben. Das garantiere weiterhin, dass der Großteil des Alters „frei“ ist, beteilige die Menschen proportional am gewonnen Alter und passe auch automatisch nach unten an, wenn die Lebenserwartung wieder sinkt. Das finde ich zumindest wesentlich fairer als das bisherige „Malochen für die Alten“, einfach nur weil man das Pech hat, in der falschen Generation geboren worden zu sein.
In „Rentensysteme im Umbau“ beschreibt Bernhard Ebbinghaus das Problem, Rentensysteme umzubauen. Denn praktisch jeder dieser Umbauten stößt auf das „Doppelzahler-Problem“, bei dem eine Generation sowohl das alte als auch das neue System mitbezahlen muss. Deshalb, so Ebbinghaus, seien die Reformhorizonte auch immer so lang. Er erkennt auch an, dass nicht die Demografie per se relevant ist, sondern die wirtschaftliche Produktivität der arbeitenden Generation; eine Erhöhung der Erwerbsquote und bessere Bildung (für bessere und besser bezahlte Jobs) seien daher gangbare Strategien. Um nicht prekäre Beschäftigung im Alter die Regel zu machen, brauche es aktive Arbeitsmarktpolitik (Ebbinghaus konstrastiert hier die irischen und skandinavischen Erfahrungen). Dazu gehöre auch, Arbeitsplätze altersgerecht zu machen.
Skeptischer ist Ebbinghaus bezüglich der Privatisierung; nicht so sehr, weil sie nicht grundsätzlich gangbar wäre, sondern weil es hier ohne obligatorische Systeme wie in der Schweiz zu keinem ausreichenden Deckungsgrad kommt; die bereits erwähnte Zahl von gerade einmal 50% im liberalen britischen System stammt aus diesem Beitrag. Auch gibt es bisher keine Lösungen für unterbrochene Erwerbsbiografien durch Arbeitslosigkeit oder Schwangerschaft sowie Erziehungszeiten, die bereits bestehende Ungleichheiten eher verschärfen würden.
Jörg Tremmel dagegen schaut auf die ethische Dimension des Begriffs der „Generationengerechtigkeit“ und versucht sich an einer Definition, was hiermit überhaupt gemeint sein kann. Dabei räumt er zuerst die These ab, dass die bestehende Generation der Nachwelt gar nichts schulde. Weder gelte die Nicht-Identität-These noch die These der „reichen Zukunft“, auf die man die Probleme verlagern könne. Er zeigt sich skeptisch, weil gerade angesichts der Klimakrise nicht klar sein könne, ob das überhaupt zutrifft. Tremmel erklärt, dass es grundsätzlich gerecht sei, wenn eine Generation wenig einzahlt und wenig bekommt und wenn sie viel einzahlt und viel bekommt, auch wenn das nicht zeitlich synchron abläuft (also etwa eine Generation hohe Renten bekommt, während die aktuell arbeitende niedrige erwartet). Nur, diese Voraussetzungen sind natürlich rein theoretisch, weil sie in der Realität so nicht existieren.
Die Generationengerechtigkeit werde auch durch die unterschiedliche Größe der Generationen auf die Probe gestellt, ebenso durch die steigende Lebenserwartung. Beides werde aber zumindest teilweise durch die steigende Produktivität („Reiche Zukunft“) ausgeglichen, zumindest aktuell. Das Gewicht verschiebe sich aber zunehmend auf die jüngere Generation. Temmel plädiert daher für einen Nachhaltigkeitsfaktor: stiegen die Belastungen für die Rente, müssten diese Belastungen von Jüngeren und Älteren zu gleichen Teilen getragen werden. Dies sei aber, gerade auch wegen dem politischen Gewicht der Rentner*innen, nicht der Fall.
Insgesamt war der Band für mich eine lohnende Lektüre. Es gab zwar keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse, aber die stringente Logik der Beiträge und ihre Kohärenz machen sie durchaus lesenswert.
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