Donnerstag, 11. August 2022

Weil Larry Summers im ländlichen Amerika keine Autobahnen baut und mit Gas heizt gibt es keinen Frieden in der Ukraine - Vermischtes 08.08.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) The Democrats’ Rural Problem

The nationalization of American politics and news media consumption is a big part of the Democrats’ rural problem. Perhaps the most critical step the party could take in rural areas is to return the focus to local, place-based considerations. [...] Equally important, party elites need to allow rural candidates to run their way. This means giving candidates the space to build their brands in a way that comports with their districts. Moreover, the nomadic hoard of volunteers and consultants needs to adapt to rural terrain. Frequently, there is a significant cultural divide between campaign staff and volunteers—to say nothing of activists—and rural voters. But for the voters Democrats have been hemorrhaging, the issues that galvanize many progressives—climate change, identity politics, gun safety—can be downright poisonous. The issues that fire up the younger, better-educated types who often staff campaigns have, at best, an indirect effect on improving the economic standing of lower-middle-class rural voters. [...] Localized campaigns offer the best hope for breaking out of the nationalization trap. Political psychology research suggests that emphasizing local issues of particular significance to voters’ districts is Democrats’ best shot at resonating with rural voters. [...] And let’s not forget that this is a democratic problem, not just a Democratic one. Lacking party competition undercuts accountability in government, decreases representative quality, and reduces empathy for those who live differently. It’s not just crucial for Democrats to find a way to disrupt the density divide. It’s also vital for the well-being of the American polity. (Robert Saldin/Karl Munis, Washington Monthly)

Ich stimme der Analyse weitgehend zu. Die Democrats haben ein rural problem, und die Aktivist*innen und der DNC sind ein guter Teil davon oder zumindest genauso oft ein Hindernis wie eine Hilfe. Die aktuellen Vorgänge in Kansas, einem Staat, der das letzte Mal 1964 blau war und wo die Democrats gerade bei der Abtreibungs-Abstimmung einen großen Sieg erzielen konnten, zeigt das recht gut. Nur ist natürlich der Ansatz, lokale Kandidat*innen lokale Botschaften machen zu lassen, nicht ohne Kosten und Gefahren: der Vorteil, wenn alle Kandidat*innen bundesweit dieselbe Botschaft haben, ist eine große Einigkeit und Wiedererkennungswert. Die Republicans sind darin spitze. Message discipline haben diese Leute richtig im Griff. Je individueller die Botschaften, desto weniger ist das Gesamtprodukt erkennbar. Keine Strategie ohne Nachteil.

2) The Supreme Court’s Originalist Obsession Continues

There, five justices joined an opinion by Thomas, striking down New York’s requirement that those seeking a concealed carry show good cause. New York had this legislation in place since 1911 when William Howard Taft was president (he later became chief justice of the Supreme Court), and there was no evidence that it hasn’t been working. No Supreme Court—whether it was led by Taft, Earl Warren, or William Rehnquist—has felt any compelling need to substitute its judgment for New Yorkers and to declare that it was tyranny to ask citizens if they had a good reason for carrying a concealed weapon. [...] What was the justification for Thomas’s judgment? Apparently it seemed too difficult to apply constitutional principles of what the 19th- or 18th-century societies thought about concealed guns. So Thomas abandoned originalism and bizarrely turned to 13th-century English history for a standard for carrying dangerous weapons, omitting that handguns were not developed until the 15th century. Thomas opined that history, not original understanding, will inform the Court’s decision. This is hazardous. Historians choose facts, ignore others, and assemble them selectively in ways that can be illuminating, biased, or even misleading. [...] Reliance on history is a recipe for judicial crusading, not judicial restraint. Gone is the reliance on decided cases (stare decisis), the fabric of common law. We know now that the Court’s right wing is cavalier about precedent. (James D. Zirkin, Washington Monthly)

Ich sag es immer wieder: die Leute am SCOTUS sind die schlechtesten Historiker*innen der Welt. Der Artikel weist gut auf die Gefahr an der Sache hin: das Ende des common law. Für uns hier in Deutschland ist das oft nicht wirklich nachvollziehbar, aber die angelsächsische Jurisprudenz baut in einem erheblich stärkeren Maße als unsere auf Präzedenzfällen auf. Wenn nun plötzlich von Hobbyhistoriker*innen beschlossen wird, dass deren (oftmals groteske) historische Einordnungen entscheidend sind, bekommen die USA ein Rechtssystem, das wesentlich näher an religiösem Recht ist als an irgendetwas, das mit einem modernen Rechtsstaat vergleichbar wäre.

3) Why Andrew Yang’s New Third Party Is Bound to Fail

First, let’s talk about the program of the Forward Party. Writing for The Washington Post, Yang, Whitman and Jolly say that their party is a response to “divisiveness” and “extremism.” “In a system torn apart by two increasingly divided extremes,” they write, “you must reintroduce choice and competition.” The Forward Party, they say, will “reflect the moderate, common-sense majority.” If, they argue, most third parties in U.S. history failed to take off because they were “ideologically too narrow,” then theirs is primed to reach deep into the disgruntled masses, especially since, they say, “voters are calling for a new party now more than ever.” [...] It is not clear that we can make a conclusion about the public’s appetite for a specific third party on the basis of its general appetite for a third party. But that’s a minor issue. The bigger problem for Yang, Whitman and Jolly is their assessment of the history of American third parties. It’s wrong. [...] The biggest problem with the Forward Party, however, is that its leaders — like so many failed reformers — seem to think that you can take the conflict out of politics. “On every issue facing this nation,” they write, “we can find a reasonable approach most Americans agree on.” No, we can’t. When an issue becomes live — when it becomes salient, as political scientists put it — people disagree. The question is how to handle and structure that disagreement within the political system. Will it fuel the process of government or will it paralyze it? Something tells me that neither Yang nor his allies have the answer. (Jamelle Bouie, New York Times)

Alles, was Bouie sagt. Aber ich will noch ein paar Ergänzungen machen. Die fixe Idee, die alle paar Jahre wieder aus der Versenkung hervorgeholt wird, dass ein Potenzial für eine mittige dritte Partei existiere, ist genau das: eine fixe Idee. Die Wählenden wollen das nämlich gar nicht. Oh, sicher, in Meinungsumfragen bekommt die Option, eine dritte Partei zu haben, ständig hohe Zustimmungswerte. Allein, das ist eine abstrakte Umfrage. Wann immer eine tatsächliche dritte Partei auf den Plan tritt, sinkt sie wie eine besonders gut abgehangene Gurke. Das liegt vor allem daran, was in den letzten Jahrzehnten ständig für dritte Parteien vorgeschlagen wurden. Es ist praktisch immer der gleiche unpolitische Mist wie bei Yang (erinnert sich noch wer an Bloomberg...?). Und den wollen die Wählenden halt eben nicht.

Dem zugrunde liegt der Irrtum, dass es eine relevante Menge an "Moderaten" gäbe. In Umfragen finden sich immer erstaunliche Zahlen für diese Gruppe; ein starkes Drittel der Amerikaner*innen rechnet sich jener Gruppe zu, genauso wie den "Independents". Allein, wenn man die Ergebnisse genauer anschaut sieht man sofort, dass diese Leute weder indepent noch moderate sind. Ich bin auch kein Parteigänger, aber ich neige manchen Parteien wesentlich mehr zu als anderen. Genauso ist das bei praktisch allen anderen auch.

Den Mythos der Moderaten hat Ezra Klein in seinem bahnbrechenden Essay von 2015 auseinandergenommen. "Moderate" vertreten zwar meist nicht die Parteilinien. Mittig aber sind sie nur im Aggregat. Diese Leute haben oft ziemlich extreme Positionen, sie haben sie nur nicht konsistent im Sinne einer Parteiideologie. Da gibt es Leute, die sowohl für ein Verbot von Verbrennermotoren als auch unbegrenzten Waffenzugang sind, oder Menschen, die harte Abtreibungsgegner*innen, aber dafür Fans des Wohlfahrtsstaats sind. Alles extreme Positionen, aber im Aggregat sind sie dann "mittig". Nur, die "Mitte" eines Bloomberg oder Yang ist für diese Leute völlig uninteressant. Und deswegen scheitern diese Parteien auch ständig. Ihre Gründer können keine Umfragen lesen. Und ihre Spender*innen auch nicht. Letzteres aber ist wenig verwunderlich.

4) "Viele werden im Winter nicht mehr jeden Raum heizen können" (Interview mit Monika Schnitzer)

ZEIT ONLINE: Wenn die hohen Gaspreise im Winter voll durchschlagen, könnten sehr viele Menschen dennoch nicht vorbereitet sein. Was machen wir dann?

Schnitzer: Eine Möglichkeit, die gerade diskutiert wird, ist eine Kontingentierung von Energie. Das heißt, es gibt eine bestimmte Menge Gas für die Grundversorgung zu einem niedrigen Preis – für alles darüber zahlt man den tatsächlichen Marktpreis oder wenigstens einen mit der Umlage versehenen höheren Preis. Das hätte den Effekt, dass die Menschen einerseits entlastet werden – aber auch einen Anreiz haben, zu sparen. Dann werden vielleicht auch viele Wohlhabende darauf verzichten, den Pool zu heizen oder die Sauna aufzudrehen. Und wenn es einige Superreiche nicht tun und lieber horrende Gaspreise bezahlen wollen, dann sollen sie das tun, aber zumindest zur Kasse gebeten werden. [...]

ZEIT ONLINE: Zentral ist ja, die Preissteigerungen wieder in den Griff zu bekommen. Auch deswegen hat die Europäische Zentralbank vergangene Woche die Zinsen erhöht. Wann wird sich die Inflation denn wieder dem Zwei-Prozent-Ziel nähern?

Schnitzer: Würde Deutschland im Herbst in eine massive Rezession rutschen, dann werden auch die Preise sinken oder zumindest nicht weiter ansteigen. Aber das ist natürlich kein Szenario, das ich mir wünsche. Vor allem die Unsicherheit über die Energieversorgung treibt derzeit die Preise. Mit jedem Schritt, mit dem wir uns unabhängiger machen vom russischem Gas, bekämpfen wir auch die Inflation. Ob das nun schon in einem oder erst in zwei oder drei Jahren passieren wird, wage ich nicht vorherzusagen – aber es handelt sich um einen überschaubaren Zeitraum. (/, ZEIT)

Mir ist völlig unklar, wie höhere Leitzinsen der EZB irgendeinen Einfluss auf die Gas- und Strompreise haben sollen. Klar, eine Rezession wird allgemein den Schnitt der Preise senken und dadurch auch die Inflation, aber das kann ja wohl nicht das Ziel der Übung sein? Oder übersehe ich da etwas Zentrales? Wie ich im Artikel zur westlichen Strategie beschrieben habe ist das unabhängig Machen von russischem Gas das sicherste Rezept, mittelfristig das Problem zu lösen. Ich bezweifle, dass kurzfristig überhaupt irgendwas möglich ist, dafür ist die Energiepolitik viel zu sehr in der Sackgasse. Das wird ein kalter Winter, in vielerlei Hinsicht.

5) The Lessons of Last Year’s Larry Summers Hatefest

There are a few lessons here that everybody could take from this episode, but that apply with special force to the left: (1) Intellectual humility can be a virtue. Some questions have fairly clear answers, but progressives have gotten overinvested in the notion that every political question has an undeniably correct answer. [...] (2) Assumptions about motives are often wrong. Once you assume every position you hold is obviously correct and good, it is easy to believe that everybody who disagrees is evil or corrupt. Summers was not trying to sabotage Biden — he was trying to steer the administration away from what he genuinely believed was a risky policy choice. [...] The months progressives spent persuading themselves that Manchin was simply out to protect his coal interests led them to advocate some truly stupid ideas: refuse to waste time negotiating with him, threaten him with a primary challenger, or throw him out of the party. Bad analysis led to bad strategy. (3) Credibility matters. Suppose Summers had been a good team player and swallowed his fears that the American Jobs Plan would stoke inflation. He would have become a less persuasive advocate for Biden’s social policies. His willingness to openly admit the American Jobs Plan risked an inflationary spiral gave him more credibility to argue that Build Back Better — now the Inflation Reduction Act — would reduce inflation. [...] But another problem is that it ignores the role of credibility. There is a persuadable audience, and people who are willing to concede errors or excesses on one side can address that audience with more credibility. Applying more partisan will to every contest is not a superpower. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Ich stimme Chait in seinen Schlussfolgerungen völlig zu (inwieweit Summers Recht hatte oder nicht kann nich nicht beurteilen). Allerdings: credibility ist kein Wert an sich. Wenn ich Glaubwürdigkeit dadurch gewinne, dass ich auf meiner Ansicht beharrte, obwohl die falsch war, ist das eine ziemlich teuer erworbene "Glaubwürdigkeit" - und auch eine völlig absurde. Das kommt in meinen Augen daher, dass Menschen es völlig überbewerten, wenn jemand seinen Prinzipien treu bleibt. Prinzipientreue ist kein Wert an sich! Wenn das Prinzip entweder ganz oder für die Situation nicht taugt, ist es sogar hinderlich. Das ist wie "Ehrlichkeit". Manchmal ist Ehrlichkeit gut. Manchmal nicht.

Das andere ist die Geschichte mit der Parteilichkeit. Chait hat absolut Recht wenn er sagt, dass "applying partisan will to every contest" (ich wüsste nicht, wie ich das übersetzen würde) keine gute Idee ist. Die Republicans erleben gerade, welche Probleme das macht, und man muss nur auf die sozialistischen Parteien des Ostblocks schauen um zu sehen, wo einen das ultimativ hinbringt. Daher ist es durchaus zu begrüßen, wenn die Democrats sich da einen internen Pluralismus bewahren.

Zuletzt das Thema dumme Reaktionen. Mich macht es wahnsinnig, wenn ständig die Progressiven in ihre Tiraden gegen Manchin, Sinema und Co starten. Klar, mir wäre es auch lieber wenn der Mann nicht von der fossilen Brennstoffindustrie gekauft wäre. Aber was will man machen? Die Democrats haben de facto 48 Senator*innen, und zwei, die meistens mit ihnen abstimmen. Das ist einfach ein politischer Fakt. Den kann man scheiße finden, aber Manchin und Sinema sind nur relevant, weil die Democrats keine größere Mehrheit haben. Hätten sie 52 oder 53 Senator*innen, wären die beiden einfach egal. Die Lösung ist daher einfach: Wahlen gewinnen. Und da muss man halt schauen, mit was Rezepten und Botschaften das überhaupt möglich ist. Aber die Idee, dass ein*e progressive*r Aktivist*in Manchin in einer Primary schlagen UND DANN IN WEST VIRGINIA GEWINNEN könnte ist völlig absurd. Progressive sollten dreimal täglich dem Herrn danken, dass es Manchin gibt, denn ohne ihn wäre der Sitz einfach ein roter und fertig.

6) Why America Can’t Build

As California Governor Gavin Newsom succinctly put it, “NIMBYism is destroying the state.” It is also destroying the U.S.’s ability to build nationally. The economist Eli Dourado reported in The New York Times that “per-mile spending on the Interstate System of Highways tripled between the 1960’s and 1980’s.” [...] The NEPA consultants are just one of the numerous types of consultants that benefit from the way we build. Most infrastructure in the U.S. is built through a huge number of state and local agencies: for example, there are 51,000 community water systems alone in the U.S. This decentralized structure makes it much more difficult to develop the depth of expertise needed to manage the complexities posed by megaprojects. Often, the multiple public agencies that are involved with projects also have overlapping authorities, creating bureaucratic delays and slowing decision making. [...] Should the U.S. ever commit to a developmentalist strategy, it will have plenty of examples to learn from. Between 1995 and 1999, the City of Madrid designed and built 39 new metro rail stations, laid 35 miles of rail—including 23.5 miles which required expensive tunneling—and completed all work at an average cost of $65 million per mile. It has subsequently completed multiple other phases of similar size with similar results. How did Madrid accomplish this? It used simple modular designs for each station and did not use any new construction techniques, novel engineering designs, or train technology. When tunneling segments, instead of using one TBM as is typical, it deployed up to six at a time—a number previously unheard of. Most importantly, Madrid ran its construction crews 24 hours a day, seven days a week, and achieved consistent worker productivity gains. Reducing complexity and repeatedly building the same simplified design made iterative improvements possible. (Brian Balkus, Palladium)

Wir haben praktisch das identische Problem hier. Ich halte zwei Dinge für ausschlaggebend, dass sich die Baukosten so drastisch erhöht und Bauzeiten so verlängert haben. Einerseits die ganzen zusätzlichen Regulierungen, die vielfach (aber bei weitem nicht nur) mit Umweltschutz zu tun haben, und andererseits die vielen Mitspracheregelungen, die im Namen der Demokratie eingeführt wurden. Ersteres bräuchte einen umfassenden Kahlschlag. Regulierungen sind ein Werkzeug; sie können geeignet sein oder auch nicht. Wenn sie adverse Effekte haben, müssen sie gegebenenfalls weg. Die Mitspracherechte sind in meinen Augen ein "zu viel des Guten". Ja, Transparenz und Partizipation sind toll. Aber im Resultat führen sie vor allem zu ständigen Blockaden. Der NIMBY-Effekt hat mittlerweile einfach eine zerstörerische Wirkung. Hier müssen Mitspracherechte aktiv zurückgeschnitten werden, und zwar, um Demokratie zu erhalten. Das klingt zwar instinktiv absurd, ist es aber nicht.

7) Warum es in Deutschland nicht vorangeht

Der Grund für alle diese Mängel ist immer der gleiche und schon seit Jahren bekannt: Die öffentliche Hand investiert nicht genug. Im Durchschnitt haben die EU-Länder in den vergangenen 20 Jahren 3,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in staatliche Investitionen gesteckt, Deutschland aber nur 2,1 Prozent. Mindestens seit dem Jahr 2000 liegt Deutschland im EU-Vergleich auf den hinteren Plätzen. Der Investitionsstau beläuft sich inzwischen auf hunderte Milliarden Euro. Umstritten ist, woran das liegt. Von links werden gerne die Schuldenbremse und die schwarze Null verantwortlich gemacht. Dabei wird vergessen, dass vor der Pandemie in Olaf Scholz’ Finanzministerium zweistellige Milliardenbeträge aufgelaufen sind, die für Investitionen eingeplant waren, aber nicht ausgegeben wurden. [...] Jüngere Länder investieren demnach etwas mehr, Staaten mit einer Schuldengrenze etwas weniger. Am wichtigsten aber war das Deutschland-Problem. Deutschland investiert rund 1,2 Prozent der Wirtschaftsleistung weniger, als es die Bedingungen erwarten ließen – einfach weil es Deutschland ist. Das sei „eine Art chronische Investitionsschwäche, die sich nicht wegerklären lässt“, schreiben die Wissenschaftler. Sie haben eine Idee, wie sie entstehen könnte: durch Bürokratie und umständlichen Planungsverfahren. [...] Deutschland hat sich das Leben in seinen guten Jahren selbst kompliziert gemacht. Jetzt müssen die Abläufe dringend vereinfacht werden. Für erneuerbare Energien hat die Bundesregierung schon ein Vorranggesetz beschlossen. Doch es gibt noch andere wichtige Vorhaben. Dass diese Vereinfachungen in den Gedanken der Ampelkoalitionäre gerade nicht mehr ganz vorne stehen, ist verständlich. Aber in der großen Bundesregierung gibt es genügend Abteilungen, die an solchen Fragen arbeiten können. Sie sollten es tun. Damit bekämpfen sie zwar nicht mehr die aktuelle Krise, aber sie bereiten Deutschland schon für die nächste vor. (Patrick Bernau, FAZ)

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt hinzufügen: Personalmangel. Nun ist der Öffentliche Dienst nicht gerade ein Bereich, bei dem man instinktiv sagt, dass es hier mehr Beschäftigte bräuchte. Das Problem ist auch nicht die reine Menge, sondern das, was diese Leute arbeiten. Wie in Fundstück 6 angesprochen behindert eine wahre Flut von Regulierungen unterschiedlicher Sinnhaftigkeit alle möglichen Initiativen (man denke nur auch mal an den Digitalpakt, um mal vom Bauen wegzukommen). All diese Regulierungen müssen ja verwaltet werden. Das sind die Graeber'schen "Bullshit Jobs". Die Privatwirtschaft braucht Fachleute, um gesetzkonform zu arbeiten, und der Öffentliche Dienst braucht Fachleute, um das zu überwachen. Das ist eine Ressourcenverschwendung vor dem Herrn.

8) Verhandeln, aber wie? – Die Aussicht auf einen endlosen Krieg in der Ukraine könnte der Anreiz zur Einwilligung in einen baldigen Frieden werden

Die Verfasser der Aufrufe zum sofortigen Frieden ahnen, dass diese Konstellation auf einen langen Weg zum Frieden hinausläuft. Deswegen folgen sie der Logik des Kremlsprechers Peskow, laut dem in der Ukraine sofort Frieden herrschen werde – wenn das ukrainische Militär die Waffen niedergelegt habe. So direkt wollen Befürworter eines schnellen Kriegsendes die Kapitulationsaufforderung an die Ukraine nicht aussprechen; stattdessen fordern sie die sofortige Beendigung der westlichen Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine. Wenn man keine Waffen hat, erübrigt sich deren Niederlegen. [...] Einmal mehr bestätigt sich hier die kühle Antwort des grossen Politikers Talleyrand, der auf die Frage, was eigentlich Nichtintervention sei, nach kurzem Nachdenken antwortete, es sei vermutlich dasselbe wie Intervention. Was im konkreten Fall heisst: Die Einstellung der Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine ist eine politische Parteinahme für Russland, die sich als neutral tarnt. [...] Das Argument der unermesslich hohen Kosten, das in der Regel gebraucht wird, um den Beginn eines Krieges zu verhindern, ist auch ein Argument gegen die Weiterführung eines Krieges. Es relativiert die Aussicht auf den Sieg, indem es diesen mit untragbar hohen Kosten verbindet. Die Aussicht auf einen langen Krieg wird so zum Motiv für die Wahl des Wegs zum baldigen Frieden. Das ist paradox, aber Krieg ist ein Tummelplatz von Paradoxien; der Weg zum Frieden ist es nicht weniger. [...] Insofern bleibt für den Verhandlungs- oder Kompromissfrieden nur die zweite Option, nämlich die Ukraine so stark zu machen, dass sie sich nicht nur gegen Russland behaupten kann, sondern auch in der Lage ist, ihm die Aussicht auf einen Sieg zu nehmen. Das ist jedoch nur durch westliche Waffenlieferungen möglich. Das ist eine der Paradoxien des Krieges: die Aussicht auf einen endlosen Krieg als Anreiz zur Einwilligung in einen baldigen Frieden. (Herfried Münkler, NZZ)

Ich empfehle Münklers Artikel zur gänzlichen Lektüre, weil er das zentrale Problem des Diskurses gut auf den Punkt bringt. So gut es auch immer klingt, verhandeln zu wollen und sich neutral zu positionieren: eine Neutralität gibt es effektiv nicht. Die Apologeten dieses Kurses übersehen immer gerne, dass Nicht-Handeln auch eine bewusste Entscheidung ist. Wer nicht eingreift, ergreift genauso Partei wie jemand, der eingreift. Dass am Ende dieses Konflikts in irgendeiner Form ein Kompromiss stehen wird, ist allen Beteiligten klar. Der Krieg wird sicher nicht damit enden, dass ukrainische Panzer über den Roten Platz rollen. Und auch dank westlicher Hilfen erscheint es zunehmend unwahrscheinlicher, dass die russische Trikolore über Kiew aufgezogen wird.

9) Leibniz-Institut für Deutsche Sprache plädiert für gegenseitige Toleranz beim Thema „Gendern“

Insgesamt, so sieht es das IDS, gibt es nicht die eine „richtige“ Form des Umgangs. Weder solle eine bestimmte Form des Genderns verpflichtend sein, noch solle der Wunsch nach mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache als ideologisch abgetan werden. Dazu Prof. Dr. Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des IDS: „Auch in unserer Belegschaft am IDS sehen wir ein buntes Bild an Sprachverwendungen. Einige Mitarbeitende nutzen den Genderstern oder -doppelpunkt, andere lieber Doppelformen oder auch das generische Maskulinum. So zeigt sich auch bei uns ein vielfältiges Bild. Wir stehen dem entspannt gegenüber.“ Dass die Sprachwissenschaft dem Thema geschlechtergerechte Sprache insgesamt offen gegenübersteht, zeigt sich auch darin, dass die „Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft“ dieses Jahr mit großer Mehrheit eine geschlechtergerechte Satzung verabschiedet hat. Auch die immer wieder öffentlich geäußerte Haltung, „die Sprachwissenschaft“ stehe geschlechtergerechter Sprache kritisch gegenüber, spiegelt nicht den gegenwärtigen Forschungsstand (vgl. den offenen Brief hier) wider. [...] Dass es in diesem Themenbereich unterschiedliche Positionen und kontroverse Diskussionen gibt, ist selbstverständlich und durchaus zu begrüßen. „Wir müssen aber im Moment mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten leben, bis sich in der Sprachgemeinschaft mehr einheitliche Schreib- und Sprechgewohnheiten etabliert haben“, so Lobin. „Dabei sollten wir akzeptieren, mit Sprachformen konfrontiert zu werden, die nicht die sind, die wir selber präferieren. Dies ist eine Form von Toleranz, die man in einer pluralistischen Gesellschaft erwarten können sollte“, ergänzt Müller-Spitzer. Für einzelne Sprachformen zu werben, sei natürlich legitim, aber eine gegenseitige Offenheit trotzdem notwendig. (Leibnitz-Institut für Deutsche Sprache)

Ich kann diese Presseerklärung nur von Herzen unterstützen. Ansatt ständig irgendwelche Sprachverbote zu erlassen und zu versuchen, das zu regulieren, sollte man einfach Toleranz beweisen. Jemand will nicht geschlechtergerechte Sprache benützen? Fein, dann soll die Person es lassen. Jemand will es machen? Fein, dann soll die Person es tun. Da wird sich dann schon irgendwann ein gesellschaftlicher Konsens herausstellen. Und wenn der am Ende genau das ist - manche tun es, andere nicht - dann ist das nicht der Untergang des Abendlandes.

10) Transfrauen: Weiblich genug für den Frauenbereich?

Die Frage, die dabei in den Sozialen Medien diskutiert wird: Was, wenn Transfrauen, die noch männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, Bereiche und Zeiten in Schwimmbädern nutzen wollen, die für Frauen reserviert sind? Beliebtestes Beispiel: die Frauensauna. [...] Aber natürlich befasse man sich mit dem Thema und der Frage nach dem Umgang mit Transpersonen. Als einer der größten Bäderbetriebe Deutschlands mit rund 2,5 Millionen Besuchern könne man sich gesellschaftlichen Diskussion kaum entziehen. "Und das Thema ist ja in allen Medien." In der Praxis allerdings seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so gut wie gar nicht damit konfrontiert. [...] In der Praxis stellt sich also nicht die Frage, ob Transfrauen [in Frauenhäusern] aufgenommen werden können, sondern ob überhaupt noch jemand aufgenommen werden kann. Degel, die auch in der Arbeitsgemeinschaft der hessischen Frauenhäuser in Trägerschaft aktiv ist, betont, dass ihr in Hessen bislang kein Fall bekannt sein, in dem eine Transfrau Schutz in einem Frauenhaus gesucht habe: "Wir reden hier über Theorie." [...] In der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz wird des Öfteren die Befürchtung geäußert, männliche Insassen könnten ihren Geschlechtseintrag ändern, um in den Genuss der vermeintlich angenehmeren Haftbedingungen in Frauengefängnissen zu kommen. Tatsächlich aber gibt es keinen Automatismus, der eine Verlegung von Transfrauen in Frauen-Justivollzugsanstalten vorschreiben würde. (Danijel Majić, Hessenschau)

Es ist wirklich völlig absurd, welche Szenarien für diese Gesetzgebung immer aufgefahren werden. Besonders auffällig war das im US-Wahlkampf, wo die Republicans damit identitätspolitisches Stroh zu dreschen hofften und sich unabsichtlich selbst entlarvten, wenn sie groß tönten, dass wenn sie die Option hätten, ihr Geschlecht selbst zu definieren, sie sich sofort als Frau erklären und in Damenduschen eindringen würden (und nein, so äußerte sich nicht nur einer...). Aber wie Udo Vetter korrekt anmerkt, ist dieses Szenario auch rechtlich überhaupt nicht zu halten. Würden diese Creeps das machen, würden sie eindeutig als Sexualstraftäter verurteilt und fertig. Und die obigen Zitate zeigen ja auch, dass diese ganze Trans-Panik genau das: eine weitere von unzähligen moral panics, die ständig durch den gesellschaftlichen Diskurs schwappen.

Resterampe

a) Eine Studie, nach der Unsicherheit über die eigene Männlichkeit und MAGA-Fantum korrelieren. Scheint mir methodisch eher...grob zu sein.

b) Damon Linker setzt sich mit seinem Verhältnis zu Rod Dreher und Victor Orban auseinander.

c) Spekulation über Joe Manchin und Chuck Schumer bezüglich ihres Coups gegenüber McConnell.

d) Ratet mal, wer gerade unter der Inflation leidet.

e) Die Chancen der Democrats für November verbessern sich, was ein kleines Wunder darstellt.

f) Nicht, dass das die nutzlosen Spekulationen stoppen würde, aber: Lauterbach schließt Schulschließungen im Herbst/Winter kategorisch aus. Die Aufforderung, Luftfilter anzuschaffen, wird weiterhin auf taube Ohren fallen, weil es geht ja nur um die Kinder und Jugendlichen (und Lehrkräfte, aber die interessieren ja erst recht niemand).

g) Die Haltung der Kultusministerien angesichts des Lehrkräftemangels ist wirklich absurd.

h) Leseempfehlung: How to Energiewende in 10 Jahren, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6.

i) Ich will euch schon ewig von einer Werbung erzählen, die mich völlig kirre macht. Es ist ein Podcast von MSNBC, und hier ist der Text: "These days, the news never stops. The morning's headlines change by afternoon, and in the evening, it's all totally different. So let's get into it. What's happening right now, what it all means to you, for an hour, every day. I get it. I know it can be hard to keep up. So, let's get started together and go from there. "Hi, I'm Hallie Jackson and we have ton going on tonight. So, here's the deal." Hallie Jackson now, weekdays, 5pm Eastern on MSNBC News Now." Nachrichten, die eine Halbwertszeit von nicht einmal acht Stunden haben, sind per Definition Nachrichten, die ich nicht wissen muss. Wie beknackt ist das Konzept einer solchen Sendung? Was für ein völlig krankes Verständnis von News und Nachrichten wird hier gepflegt? Ich habe nie eine Sendung gesehen, die das Problem des 24/7-Newscycle so verkörpert wir das.

j) Die NYT kann es echt nicht lassen mit diesen Free-Speech-Mythen.

k) Die Nostalgie mancher Briten ist echt nur absurd.

l) Die USA entkarbonisieren in rasantem Tempo den Truck-Sektor. Während die Deutschen steif und fest behaupten, dass das nicht gehe und sich in die eFuel-Fantasie verrennen.

m) Wir haben unter anderem so wenig Gas auf Halde, weil wir die Ausfälle der sicheren und zuverlässigen französischen Kernenergie ausgleichen mussten.

n) Guter Thread zur Maskenpflicht.

o) Das 9-Euro-Ticket als Anlass für Investitionen nutzen, Praxisbeispiel.

p) Es geschehen noch Zeichen und Wunder: ich stimme einem Artikel von Tom Friedman zu.

q) Was nicht so alles geht, wenn man nur will.

r) Keir Starmer is right – for Labour to win power, it can’t wade in on every strike going.

s) Die Ampel schont die Reichen und belehrt die Armen.

t) Ein ganz großartiger Artikel von Hedwig Richter und Bernd Ulrich zur Instrumentalisierung der deutschen Geschichte.

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