Freitag, 19. August 2022

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte - Kinder und Politik

 

Aus Politik und Zeitgeschichte - Kinder und Politik

Kinder stellen in der Politik üblicherweise eine Leerstelle oder ein Objekt dar. Es wird zwar vielleicht über sie gesprochen oder "für" sie Politik gemacht, aber sie sind kein handelndes Subjekt im politischen Geschehen. Das setzt voraus, dass Kinder in der Politik überhaupt gedacht werden; nicht zuletzt in der Pandemie war allzu offenkundig, dass sie praktisch gar keine Rolle spielen und hauptsächlich als Störfaktoren gesehen werden, so man an sie dachte. Diese Besonderheit erkennt man bereits im antiquierten Bild eines Ministeriums für "Familie, Frauen, Senioren und Jugend", das diese Gruppen als spezifische Klientel denkt, die mit dem Rest nichts zu tun hat. Im vorliegenden Band ist das anders; hier wird explizit das Kind in den Mittelpunkt politischen Handelns und Denkens gestellt.

Den Eingang macht ein Zusammenschnitt aus Interviews mit Kindern zwischen 10 und 12 Jahren, die zu ihren Haltungen zur Demokratie, Mitbestimmung und Partizipation befragt wurden. Man darf vermutlich eine gewisse Vorselektion einschlägig interessierter Kinder unterstellen, aber die Stimmen der Befragten sind durchaus abwägend und tiefgründig genug, um den Beweis anzutreten, dass Kinder und ihre Meinungen ernstgenommen werden müssen. Aus den Äußerungen spricht natürlich - wenn etwa die Konsensfindung im Mittelpunkt steht - eine gewisse Naivität, ebenso in der mangelnden Sachkenntnis zu Sachfragen, aber die teilen die Kinder mit 90% der Erwachsenen, weswegen das kaum ein Hinderungsgrund sein kann. Die Kinder jedenfalls formulieren klar einen Anspruch auf Teilhabe, auf ein gefragt Werden und gehört Werden, das man ihnen durchaus zusprechen kann und sollte - als absolutes Minimum.

Eine theoretische Unterfütterung des Themas unternimmt Samia Kassid in ihrem Beitrag "Globale Kinderpolitik". Eingangs klärt sie, dass "Kinderpolitik" üblicherweise von Erwachsenen für Kinder unternommen wird, allerdings üblicherweise ohne Mitsprache der Kinder und generell immer ohne ihre Mitwirkung, worin sie zurecht ein schwerwiegendes Manko erkennt. Danach zeichnet sie den Weg der Kinderrechte von Rousseau über die US-Verfassung bis hin zur Menschenrechtsklärung und schließlich der UN-Kinderrechtserklärung von 1989 nach, um dann zu dem betrüblichen Fazit zu kommen, dass Kinderrechte auf dem Papier gut verankert sind, in der Realität aber meist sehr defizitär daherkommen. Kinder sind überdurchschnittlich Opfer von Krieg, Vertreibung, Flucht, Armut und Hunger und an ihrem Schicksal immer unschuldig. Zwar macht sie einige hoffnungsvolle erste Schritte etwa beim Sansibarischen Kindergesetz von 2011 aus, aber insgesamt bleibt das Bild hier betrüblich.

Auch in Deutschland sind die Kinderrechte immer noch defizitär; im Grundgesetz finden sie keinen spezifischen Niederschlag, obgleich bereits seit langer Zeit eine Debatte darum tobt. Claudia Kittel und Sophie Funke zeichen diese in "Angemessen oder vorrangig? - Zur Diskussion um "Kinderrechte ins Grundgesetz" aus kinderrechtlicher Perspektive" nach. Grundlage für die mittlerweile allgemein anerkannte Forderung sind die UN-Kinderrechtserklärungen und die Erkenntnis, dass "mitgemeint" zu sein den Kindern bei den bisherigen Grundrechten nicht ausreicht; ihre Interessen werden immer wieder verletzt.

Zwar hatten CDU und SPD 2018 vereinbart, eine entsprechende GG-Änderung auf den Weg zu bringen, diese scheiterte aber 2020. Grüne, FDP und LINKE brachten ebenso Vorschläge zu einer entsprechenden Änderung ein wie die Koalition; diese unterschieden sich nur in Details, die aber bei solchen Debatten natürlich immer bedeutungsgeladen sind. Der Regierungsentwurf war so schlecht - die Autor*innen sprechen von "eklatanten Leerstellen" - dass er eine Schlechterstellung von Kindern bedeutet hätte. Kinder erhielten immer noch wesentlich zu wenig Gehör. Die Autor*innen fordern für einen neuen Anlauf eine stärkere Orientierung an den UN-Richtlinien.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich scheint Leonhard Birnbachers und Judith Durands Thema "Demokratie mit Kindern in der Kita" zu sein. Bereits eingangs fußen die Autor*innen das Ganze auf entsprechenden juristischen Regelungen sowohl im GG als auch, wir erkennen ein Muster, den entsprechenden und von Deutschland ja ratifizierten UN-Richtlinien. In der Kita soll es vor allem darum gehen, Demokratie als Lebensform einzuüben und von Anfang an mit ihr aufzuwachsen. Angesichts des beklagenswerten Zustands, in dem Mitbestimmung bei Kindern generell ist - die SMV an der Schule sei hier nur als Stichwort genannt - eine sicherlich zu begrüßende Initiative.

Die Einübung soll dabei über Beschwerdeverfahren, Kita-Verfassungen und einen Kinderrat erfolgen, nur um einige Beispiele zu nennen. Sie kann etwa bei der gemeinsamen Gestaltung und Einhaltung von Essensregeln erfolgen, bei den Regeln für die Ruhephasen oder für bestimmte Spielbereiche. Auch sollen die Kinder eine Normenerziehung erhalten, sprich gemeinsam aushandeln, welche Werte sie eigentlich als gewünscht betrachten (etwa Fairness) und bei ihrer Durchsetzung beteiligt sein.

Deutlich theoretischer wird demgegenüber wieder Michael Klundt, der sich an "Kinderpolitik(-wissenschaft): eine Einführung" versucht. Er unterschiedet zentral zwei Dimensionen von Kinderpolitik: Politik, die dem Schutz von Kindern dient (Kinderschutzpolitik) und Politik, die der Befreiung von Kindern dient (Kinderbefreiungspolitik). Die Interessen der Kinder seien schwer zu definieren und befänden sich in einem ständigen Spannungsfeld von Paternalismus und Partizipation. Diese Unterscheidung wird dann mit der Definition des Bundesjugendkuratoriums (BJK) in vier Bereiche aufdifferenziert: Jugendschutzpolitik, Jugendbefähigungspolitik (etwa Bildung), Jugendpolitik als Teilhabepolitik (aktive Gestaltung der eigenen Lebensrealität), Jugendpolitik als Generationenpolitik (faire Lastenverteilung).

Klundt rügt im Folgenden die Tendenz der deutschen Politik, Kinderrechte stets als nachrangig zu betrachten und die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu opfern, was besonders in der Corona-Pandemie sichtbar geworden sei. Auch die UN rügte Deutschland für seinen schlechten Umgang mit Kinderrechten. Kindersozialpolitik macht Klundt als weiteres Defizit aus; ein wesentlich zu geringer Anteil der Sozialausgaben richte sich an Kinder und ihre Bedürfnisse. Er fordert daher eine stärkere Bekämpfung von Kinderarmut und eine größere Teilhabepolitik für Kinder.

Etwas empirisches Material gibt Lars Alberth zu der Frage: "Wie geht es den Kindern in Zeiten von Corona?". Die Antwort ist, wenig überraschend, "nicht besonders gut". Er vergleicht auf drei "Achsen": Leben vor der Pandemie, also etwa Lernverluste durch Homseschooling; Leben während der Pandemie, also etwa die stärkere Betroffenheit von Kindern aus ärmeren Schichten gegenüber reicheren; und Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen, da etwa letztere von der Schließung von Spielplätzen eher weniger betroffen waren.

Alberth stellt fest, dass es außer "warnenden Worten der Sozialverbände" keine empirischen Befunde für eine Zunahme an Kinderarmut während der Pandemie gäbe. Deutlich angestiegen sind dagegen die Fälle von Gewalt gegen Kinder, und zwar umso mehr, je beenggter die Verhältnisse zuhause sind und je länger die Erwachsenen mit den Kindern zusammen waren. Das ist zwar deprimierend, aber wenig überraschend. Auch die psychischen Auswirkungen der Lockdown-Politik auf die Kinder sind deutlich zu spüren. Alberth schließt mit dem Befund, dass auch der Druck auf die Eltern immens ist, weil das erfolgreiche Bestehen des Lockdowns direkt als "gute Elternschaft" betrachtet wird und ein "Versagen" der Kinder, etwa durch sich verschlechternde Schulleistungen, direkt auf die Eltern durchschlage. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

Mit einem verwandten Thema beschäftigt sich Tanja Betz, die über "Leitbilder "Gute Kindheit": Die Utopie der Changengleichheit" schreibt. Spannenderweise sieht sie einen Paradigmenwechsel in der Wohlfahrtspolitik, die sich einer Kindeszentrierung verschreibt und entsprechend in Kinder investiert. Die Kinder werden dabei vorrangig als zu entwickelndes Humankapital betrachtet: eine gute Kindheit ist demzufolge eine, die die größten (wirtschaftlichen) Chancen im Erwachsenenleben ermöglicht. Solche Vorstellungen bezeichnet Betz als "Leitbilder", also gesellschaftliche Vorstellungen.

Sie identiziert als aktuelle Leitbilder guter Kindheit neben der Schaffung von Chancen für das spätere Arbeitsleben eine kindgerechte Kindheit (zu der auch der Jugendschutz gehört) auch den Schutz vor physischen und psychischen Verletzungen sowie die Förderung zum Erwachsenendasein, also Erziehung. Auch die Befreiung aus "riskanten Familienverhältnissen" ist ein Leitbild guter Kindheit, sowie der Vollzug der Kindheit in geregelten und institutionalisierten Bahnen (wie Kita und Schule). Generell gehe es um die bestmögliche Förderung der Kinder. Spiegebildlich identifiziert Betz Leitbilder "guter Elternschaft". Ganz oben steht dabei die gute Bildung der Eltern und ihre Weitergabe an die Kinder sowie eine auf Bildung und Wissenschaft basierende Erziehung. Im Zentrum stehe generell die "Kompetenz" der Eltern, nach der diese bewertet würden - und damit auch ein hoher sozialer Druck.

Betz weist darauf hin, dass diese Anforderungen in ihrer Gesamtheit praktisch unmöglich zu realisieren sind und dass die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen eine entscheidende Rolle spielen, in der Gesellschaft aber geleugnet werden. Stattdessen würden Erfolg und Misserfolg beim Erreichen der Leitbilder individualisiert und faulen Kindern oder schlechten Eltern zugeschrieben. Auch das Betrachten der Kinder als "Partner auf Augenhöhe" bleibe meist unrealisiert, wie auch generell unbeachtet bleibe, das sozioökonomisch niedrigstehende Eltern wesentlich größere Hürden zu überwinden haben als wohlhabendere.

Ein letztes, wenngeich sehr unangenehmes Thema schneidet Sabine Andresen in ""Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit": Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen" an. Zu Beginn steht eine Begriffsklärung: Aufarbeitung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verdrängter oder ignorierter Tatbestände. Die vorherrschenden Erziehungsvorstellungen, die eben nicht von "Partnern auf Augenhöhe", sondern von asymmetrischen Machtverhältnissen ausgehen, konfrontieren die Kinder mit einer Ohnmacht und Unmöglichkeit, aus ihrem Opferstatus auszubrechen.

Die Aufarbeitung leidet grundsätzlich darunter, dass die Dunkelziffer der sexuellen Gewalt sehr hoch und die Aufarbeitung generell mangelhaft ist. Andresen fordert eine "kindesbezogene Justiz", die Bedürfnisse und Situation von Kindern wesentlich mehr berücksichtigt. Sie postuliert eine Tabuisierung der sexuellen Gewalt wegen des Leitbilds der "Privatheit der bürgerlichen Familie", die es sehr schwer mache, Fälle von Missbrauch zu identifizieren und tätig zu werden. Gleiches gilt für Institutionen wie Schulen oder Heime. Die Sprachlosigkeit bei dem Thema zu durchbrechen ist Andresens wichtigstes Anliegen; sie sieht es als unentbehrlich an, darüber zu sprechen und eine entsprechende Sprache zu etablieren, das Tabu zu brechen und so den Täter*innen zu verunmöglichen, sich zu verstecken.

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