Ich habe an dieser Stelle schon lange nicht mehr dezidiert über Corona geschrieben. Inzwischen aber habe ich das Gefühl, dass es notwendig ist; weniger weil ich irgendetwas rasend Neues zu sagen habe, sondern um eine Art innere Reinigung zu vollziehen und mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden. Genauso hat meine Schreibe zu dem Thema im letzten März begonnen, als ich erklärte, "Warum ich Angst vor Corona habe" - in jenen wilden Tagen, in denen Covid-19 innerhalb einer Woche von einem Thema der Nachrichten aus Asien auf Seite 3 zum beherrschenden Thema des Jahres wurde (zumindest, bis Donald Trump für einige atemlose Wochen das Thema auf den zweiten Platz vertrieb).
ich habe seither wenige Tage später über das Problem von Demokratie und Pandemiemaßnahmen geschrieben, kurz darauf den Blick auf die Reaktionen des Auslands geworfen (wo sich wenig an der substanziellen Dynamik geändert hat, weswegen ich darauf auch nicht eingehen werde) und zuletzt auf die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft geworfen. All das war im März. Im April schrieb ich einen der meist kommentierten Artikel aller Zeiten auf diesem Blog über gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit im Kontext der Pandemie, ein Thema, zu dem wir heute leider zurückkehren müssen. Ich warf, ebenfalls im April, die Idee eines Untersuchungsausschusses auf, um die Pandemie-Reaktion zu bewerten und Verbesserungen der Prozesse anzuregen. Und im Mai beklagte ich die zunehmende Polarisierung der Pandemie, die seither nur immer schlimmer geworden ist - auch hier in den Kommentaren, bedauerlicherweise. Seither habe ich mich nicht mehr spezifisch zur Pandemie geäußert.
Meine Überschrift macht bereits deutlich, dass sich meine pessimistischeren Gedanken vom Frühjahr nicht großartig geändert haben. Wir hatten, einerseits dank Glück, andererseits aber auch durch eine grundsätzlich ordentliche Infrastruktur und solide Krisenpolitik, einen milden Verlauf und konnten dessen Früchte im Sommer ernten, als die Pandemie weitgehend vergessen war. Es war jedoch von Anfang an klar war, dass die Krankheit im Sommer zurückkommen würde:
Immer wenn jemand sagt, dass der massive Anstieg der Corona-Infektionszahlen im Herbst überraschend war, muss ich an diesen Clip denken.
Christian Drosten in der ZIB2 am 24. April 2020: pic.twitter.com/2gEY7o09e3
— Patrick Swanson (@patrickswnsn) November 15, 2020
In ganz Europa und Nordamerika haben wir nun eine entweder bereits völlig jeder Kontrolle entglittenen Pandemie oder stehen kurz davor, die letzten Reste der Kontrolle zu verlieren. All der Schmerz, der im Frühjahr durch die Beschränkungen des Lockdowns sowohl wirtschaftlich als auch psychisch auferlegt worden ist, hatte Zeit gekauft - Zeit, die leider völlig verspielt wurde. Und es wäre eine Sache, wenn das nur ein "zurück auf Null" gewesen wäre. Aber stattdessen ist die Lage im Herbst nun wesentlich dramatischer als im Frühjahr. Es ist schlimmer geworden. Und das, während in Taiwan 120.000 Menschen die Gay Pride Parade und das Fakt, dass wochenlang keine Neuinfektionen verzeichnet wurden, feiern konnten.
Das liegt sicherlich nicht daran, dass die Krankheit in Asien nicht existierte, dass dort mehr "Herdenimmunität" bestünde oder dass die Regierungen dort noch effizienter die Bevölkerung gehirngewaschen hätten, damit sie an eine nicht existierende Infektion glaubten. Wir haben es stattdessen mit einem Versagen auf allen Ebenen zu tun: in der Gesellschaft, der Wirtschaft, den Medien, der Politik und im Bildungsbereich, der eine eigene Herausstellung verdient. Ich will mich diesen Bereichen der Reihe nach widmen.
Gesellschaft
Mit eines der größten Versagen muss vermutlich der deutschen Gesellschaft als Ganzem attestiert werden. Schließlich war sie es, die sich aus der Illusion des milden Sommers heraus offensichtlich nicht in der Lage fand, zu einem disziplinierteren Umgang mit sich selbst zurückzukehren. Es gehört zu Freiheit und Selbstverantwortung, Verantwortung auch für andere zu übernehmen. Es ist absolut vulgär, Liberalismus und Freiheit nur auf ein "Ich mach was ich will" zu reduzieren. Ulf Poschardt ist so ein Vulgärliberaler. Für ihn erschöpft sich Freiheit beim Tempolimit auf der Autobahn. Dass man mit der Flachheit des Denkens zum liberalen Vordenkerkreis Deutschlands gehören kann, lässt echt tief blicken. Glücklicherweise bekam er aus liberalen Kreisen Gegenwind.
Generell aber konnten wir in den letzten Monaten eine immer tiefgreifendere Radikalisierung in Teilen der Gesellschaft beobachten. Immer mehr Menschen hängen Verschwörungstheorien an (für die sie auch vor Stimmungsmache mit Kindern nicht zurückschrecken), lehnen offensiv jede Verantwortung für andere ab, machen sich zum Maßstab für alle. Wir haben sie auf den so genannten "Querdenker"-Demonstrationen gesehen und begegnen ihnen als überzeugten Maskenverächtern beim Einkaufen und auf der Straße und, wenn wir Pech haben, im Familien- und Bekanntenkreis. Diese Radikalisierung geht so weit, dass wir inzwischen auch Corona-Terrorismus haben, quasi eine Aluhut-Armee-Fraktion. Wenn man bedenkt, dass zwischen dem Auftachen der Pandemie in Deutschland und den ersten Terrorattentaten nur sechs Monate lagen, kann einem angesichts der Geschwindigkeit dieser Radikalisierung nur Angst und Bange werden.
Ein besonderes Schlaglicht bietet hier Sachsen. Das Land hat das Gedenken an die Reichspogromnacht abgesagt, aber die Anti-Masken-Demo genehmigt. Dabei spielen plötzlich auch Law&Order keine Rolle mehr, wie die CDU Sachsen freizügig zugibt. Das gilt immer nur, wenn auf Linke eingeprügelt wird. Natascha Strobl hatte den sächsischen Polizeichef auf diese Schieflage angesprochen. Seine Antwort? "Wer sich mit Hunden ins Bett legt, muss sich nicht wundern, wenn er Flöhe kriegt." Dazu kommt, dass ein Bundespolizist den Corona-Leugnern Tipps gegeben hat, wie sie die Polizeitaktik am besten unterlaufen. Extremistische Polizisten kooperiert nicht nur mit Neonazis, sondern auch mit Coronaleugnern. Das passt auf so vielen Ebenen. Diese Radikalisierungen überlappen sich und verstärken sich gegenseitig. Deswegen findet sich auch so viel Personal aus dem rechtsextremistischen Spektrum bei den "Querdenkern", finden sich die gleichen Leute, die 2015 bei Pegida marschierten, nun bei den Anti-Masken-Demos.
Ich glaube, dass viel von der mangelnden Verantwortung - neben dem Versagen anderer Bereiche, auf das wir noch kommen werden - einerseits mit fundamentalen Wissenslücken zusammenhängt. Mir fällt immer wieder auf, dass durchaus kluge und gebildete Menschen nach mittlerweile acht Monaten immer noch die absoluten Basics nicht verstanden haben. Warum man eine Maske überhaupt trägt. Welche Rolle der Abstand spielt. Was Aerosole sind. Und so weiter. Dieses Unwissen aber ist den Leuten nicht klar (ein "unknown unknown", in Rumsfeld Diktion). In einer prototypischen Ausprägung des Dunning-Kruger-Effekts sind diese Leute dann der Überzeugung, sämtliche Corona-Maßnahmen in Bausch und Bogen als Quatsch verwerfen zu können.
Andererseits sorgt gerade dieses weit verbreitete Unwissen für die Vorstellung, dass es sich bei den Maßnahmen um politische Theologie handle. Sie werden als ritualhaft empfunden. Mit genügend Vertrauen in die Politik wäre dies vermutlich kein so großes Problem. Ich gehe davon aus, dass dies in der Menschheitsgeschichte noch nie groß anders war. Nur haben wir in den letzten Dekaden einen massiven Vertrauensverlust in die klassischen Institutionen erleben können. Diese Erosion schafft nun Zweifel, und im Zweifel scheinen dann alle Informationen gleichwertig - ob von anerkannten VirologInnen oder vom veganen Koch auf der Demo. Dieses Problem steht auch nicht im Präteritum:
Sobald der Impfstoff zur Verfügung stehe, sollte die Regierung sich auf verschiedenste Szenarien vorbereiten, veranschaulicht @RangaYogeshwar mit einem Beispiel. #presseclub pic.twitter.com/bItsK7VPSt
— Presseclub (@ARD_Presseclub) November 15, 2020
Angesichts der Renaissance der ImpfgegnerInnen in den letzten zwei Jahrzehnten darf man mit dem Journalisten von 1875, der sich ratlos fragte, warum es immer noch ImpfgegnerInnen gibt, Mitleid haben. Uns steht die nächste Katastrophe bereits bevor, wenn der Impfstoff endlich kommt, weil dieselben SpinnerInnen, die jetzt die Pandemie leugnen, tausende von Unwahrheiten über die Impfungen verbreiten werden - die dann alle gleichberechtigt neben fundierten Fakten stehen und eine vernünftige Verteilung sehr erschweren oder sogar unmöglich machen werden. Es ist ein düsteres Bild, das sich gerade abzeichnet. Und es ist kein gutes Zeugnis für uns als Gesamtgesellschaft.
Medien
Leider geben die Medien in diesem Kontext auch kein sonderlich gutes Bild ab:
Voilà: Die Hufeisentheorie der #Corona-Pandemie. Überzeugender wird sie dadurch nicht. pic.twitter.com/WAFbkMFA56
— Johannes Hillje (@JHillje) October 16, 2020
Allzu leichtfertig werden Begrifflichkeiten verwendet, die der vorhin erwähnten Unwissenheit und Gleichstellung aller Zweifel mit Wissensquellen Vorschub leisten. Was etwa ist denn "übertriebene Virus-Angst"? Und wer hat die? Selten ist das instinktive Bedürfnis so vieler Beobachtender, sich in einer eingebildeten Mitte zu positionieren und so ganz besonders nachdenklich und clever zu wirken, so fatal wie hier. Wie auch beim Klimawandel ist das keine Mitte zwischen zwei gleichberechtigten Polen. Auf der einen Seite stehen wissenschaftliche Erkenntnisse, auf der anderen Seite Verschwörungstheorien. Da kann ich nicht auf Äquidistanz gehen.
Ich bin unsicher, in wie weit die Medien hätten zu einer besseren Aufklärung beitragen können. Wie auch die Politik sind sie seit langem in den Fängen einer Vertrauenskrise. Und das hier konstatierte Versagen ist bei weitem nicht universell. So hat wenig so sehr zur Aufklärung beigetragen wie das Corona-Virus-Update. Gerade die Podcasts der Öffentlich-Rechtlichen vermitteln auf ungeheuer hochwertigem Niveau wertvolle Informationen. Leider steht das Fernsehen da deutlich hinterher, und auch die gedruckte Presse bekleckert sich nicht unbedingt mit Ruhm.
Auf der anderen Seite ist der Kritikpunkt natürlich auch richtig, dass die Medien keine Bildungsanstalten und ihre Konsumenten keine zu belehrenden SchülerInnen sind. Hier eine Balance zu finden ist sicher schwierig. Nur ist der aktuelle Zustand wenig hilfreich.
Wirtschaft
Auf der einen Seite hat die Wirtschaft in der Krise soweit ein ganz gutes Bild abgegeben. Durch zwar teilweise zu zögerliche, aber im Großen und Ganzen dann doch breitflächig eingeführte Home-Office-Möglichkeiten wurde viel Druck aus der Arbeitswelt genommen. Die besonders betroffenen Sektoren der Gastronomie und Dienstleistungen wie Friseure haben sich große Mühe gegeben, unter den sich ständig ändernden Auflagen den Betrieb aufrecht zu erhalten.
Dazu sollte keinesfalls unerwähnt bleiben, wie die Suche nach einem Impfstoff die Fähigkeiten der ungeheuren Konzentration von privaten und staatlichen Stellen, wenn alle Beteiligten nur am selben Strang ziehen, zeigt. In diesem lesenswerten Twitter-Thread stellt Matthew Yglesias das erschreckende kontrafaktische Szenario auf, dass Facebook, Microsoft, Netflix und Valve ihre erheblichen Mittel dafür einsetzen würden, das Impfmittel zu behindern und die Lockdowns zu verlängern. So etwas ist nicht passiert, obwohl die Unternehmen davon profitieren würden.
Gleichzeitig sehen wir gerade die Pharmabranche alle Ressourcen mobilisieren, um einen Impfstoff zu entwickeln. Sie tun dies natürlich aus Profitgründen und einige werden den Reibach ihres Lebens machen. Aber so what? Das ist der Preis der Effizienz, den marktwirtschaftliche Initiativen in so einer Situation bringen können. Eine konzentrierte Anstrengung, im Bewusstsein der Kooperation mit den Staaten der Welt. Und ja, so etwas würde ich mir auch für den Klimawandel wünschen, aber ich schweife ab.
In anderen Bereichen aber muss von einer organisierten Verantwortungslosigkeit gesprochen werden, bei der der Imperativ, nur ja keine potenziellen Kunden zu verärgern, hinter der Verantwortung zurückstand, seinen Teil zur Pandemiebekämpfung zu leisten. Ich empfinde es etwa nach wie vor als ein Unding, dass in den Supermärkten nicht auf die Einhaltung der Maskenpflicht geachtet wird, weder bei den eigenen Beschäftigten noch bei den Kunden. Ich hatte deswegen nach einem besonders ärgerlichen Erlebnis dieser Art eine Beschwerdemail an Kaufland geschrieben. Folgende Antwort bekam ich zurück:
Kaufland hat die Kunden zu diesen Pflichten zu informieren, z.B. mittels Aushang und Durchsagen. Wenn unsere Kunden ohne Mund-Nasen-Bedeckung angetroffen werden, sind unsere Mitarbeiter angehalten, den betroffenen Kunden anzusprechen und sich den Ausnahmegrund mitteilen zu lassen. Darüber hinaus hat Kaufland jedoch leider wenig Möglichkeiten, die Verpflichtung der Kunden, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, einzufordern. Denn Kaufland darf keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen, wie beispielsweise die Ordnungsbehörden oder die Polizei, die die Pflicht zum Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung durchsetzen kann, z.B. mithilfe von Anordnungen und Bußgeldern. Entsprechend wurde unseren Mitarbeiten in den Märkten auch schon Amtsanmaßung vorgeworfen, wenn sie versucht haben, einen Kunden auf die Tragepflicht hinzuweisen. Von den Kunden kam der Vorwurf, dass es ihnen als Privatpersonen nicht zustehe, für den Durchsatz der Corona-Verordnungen zu sorgen. Damit wird deutlich, dass es für unsere Mitarbeiter vor Ort eine äußerst schwierige Situation ist.
Sicher ist das eine schwierige Situation. No shit. Für wen nicht? Aber dieses Verstecken hinter "keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen" ist Quatsch. Schließlich warnt der Laden deutlich davor, dass sie Diebe mit Bußgeld belegen und ihnen Hausverbot erteilen. Da besteht auch kein Achselzucken mit "hoheitlichen Aufgaben". Kaufland könnte problemlos von seinem Hausrecht Gebrauch machen, wenn Leute die Maske nicht tragen. Sie wollen das aber nicht, weil sie fürchten, dass es sie Kunden kosten könnte. Das ist natürlich eine wirtschaftlich rationale Interessenabwägung. Aber die Supermärkte bestehen halt nicht in einem keimfreien Vakuum; auch die Wirtschaft muss ihren Teil leisten. Und diese schwache Soße ist da mehr als ärgerlich.
Politik
Die Kommunikation seitens der Politik ist von sehr unterschiedlicher Qualität und Stoßrichtung, und dasselbe gilt für die Maßnahmen, die getroffen werden. So haben sich die Regierungsparteien (mit Ausnahme von Kristina Schröder) ebenso wie Teile der Opposition durch eine verantwortungsvolle Kommunikationspolitik ausgezeichnet, was auch immer man von ihrer Effektivität halten will (wie etwa die nicht zu beantwortende Frage, ob Angela Merkel nun bevormundend spricht oder nur Offensichtliches ausspricht, das hängt von der eigenen Haltung zu ihrer Person und dem subjektiven Empfinden ab). Ein gutes Beispiel für diese Art der Kommunikation ist etwa von Annegret Kramp-Karrenbauer:
Disziplin ist Ausdruck von Verantwortung. Und Freiheit ist nie grenzenlos. Sie ist immer Freiheit in Verantwortung. Je disziplinierter jeder von uns ist, desto weniger verordnete Einschränkungen brauchen wir. https://t.co/UAgBrR0Ol5
— A. Kramp-Karrenbauer (@akk) November 9, 2020
Das ist genau das, was ich bereits im Gesellschaftsteil des Artikels schrieb. Disziplin und Verantwortung gehören zueinander. Auch hier gilt, dass es eine Geschmacksfrage ist, ob man sich dadurch positiv angesprochen fühlt. Aber die Parteivorsitzende nimmt ihre Aufgabe hier wahr und versucht es zumindest.
Ein anderes Bild bietet da leider die FDP. Noch vor einem Monat warf sie der Regierung Panikmache vor. Im Sommer sah sie "keine Gefährdungslage". Jetzt kritisiert sie die Regierung dafür, nicht reagiert zu haben. Solches Hin und Her ist an und für sich natürlich normal im politischen Geschäft - was auch immer die Regierung macht wird kritisiert. Nur ist eine Pandemie keine normale Situation, und den ganzen Sommer und Frühherbst gebetsmühlenartig die Leier zu fahren, dass alles übertrieben sei, hat die Partei deutlich zum Lager der CoronaleugnerInnen positioniert - was angesichts der Haltung der Partei zu den #FFF-Klimaprotesten, die diverse Parallelen mit der Pandemie aufweist, und den Kommunikationsmustern während der Flüchtlingsdebatte kein gutes Bild zeichnet.
Nicht, dass es spezifischer Kritikanlässe bedürfte. Die Politik war im Frühjahr, in einer Phase der Unsicherheit und des Handlungsdrucks, noch zu entschuldigen, in Teilen sogar gutzuheißen. Doch für das aktuelle Volldesaster gibt es schlichtweg keine Entschuldigung. Dass große Teile der Bevölkerung die relative Ruhe der Sommerzeit als Ende der Pandemie interpretierten, mag man entschuldigen. Dass es die Politik auch tat, nicht. Die zweite Welle war nicht nur vorhersehbar, sie war garantiert. Dass die Schulen, die Gesundheitsämter und die Krankenhäuser als neuralgische Punkte des Systems nicht auch nur im Geringsten vorbereitet wurden, ist ein Skandal.
Der Großteil der Verantwortung für diesen Skandal liegt, wie bereits bei den Versäumnissen des Frühjahrs, bei den Länderregierungen. In großen Teilen dieser Punkte hat der Bund ja keine Zuständigkeit; Merkel konnte man die Frustration über ihre Versuche, die Bundesländer zu mehr Handlungsdruck zu bewegen, deutlich ansehen. Zu den Versäumnissen gehören brachliegende Ressourcen, etwa krisenbedingt unterbeschäftigter Verwaltungskräfte, die die Engpässe auf den Gesundheitsämtern beseitigen helfen hätten können, oder Veranstaltungsexperten, die vielleicht die Schulen hätten mit umgestalten können. Gerade vor den Erfahrungen des ersten Lockdowns war völlig absehbar, dass eine weitere Betreuungskrise auf uns zukommen würde (wir werden im Zusammenhang mit Bildung noch mehr darüber sprechen). Es wurde NICHTS getan, um sich auf diese vorzubereiten.
Manche Bundesländer haben sich natürlich mehr hervorgetan als andere, wenn es um katastrophale Entscheidungen geht. So hat Sachsen zwar das Gedenken an die Pogromnacht abgesagt, aber eine ungleich größere Anti-Masken-Demo genehmigt. Dabei spielen plötzlich auch Law&Order keine Rolle mehr, wie die CDU Sachsen freizügig zugibt. Das gilt immer nur, wenn auf Linke eingeprügelt wird. Natascha Strobl hatte den sächsischen Polizeichef auf diese Schieflage angesprochen. Seine Antwort? "Wer sich mit Hunden ins Bett legt, muss sich nicht wundern, wenn er Flöhe kriegt." Dazu kommt, dass ein Bundespolizist den Corona-Leugnern Tipps gegeben hat, wie sie die Polizeitaktik am besten unterlaufen. Extremistische Polizisten kooperiert nicht nur mit Neonazis, sondern auch mit Coronaleugnern. Das passt auf so vielen Ebenen. Ich sprach bereits von Überlappungen zwischen den Radikalisierungsmilieus. Hier sehen wir sie wie unter dem Brennglas.
Aber auch der Bund hat mehr als zweifelhafte Entscheidungen getroffen. Völlig zurecht wurde hier im Blog etwa immer wieder auf die völlige Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Selbstständigen hingewiesen. Während Kleinbetrieb um Kleinbetrieb pleite geht, hat die Bundesregierung für die lobbyistisch gut vernetzte Lufthansa 9 Milliarden Euro und für BMW ebenfalls ein erkleckliches Sümmchen übrig - natürlich ohne jegliches Konzept oder Bedingungen, wie man den Laden zukunftsfähig machen kann, und während BMW an die Aktionäre 1,64 Milliarden ausschüttet. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Schulen
Nirgendwo allerdings verdichtet sich das Versagen der Regierungsstellen so sehr wie im Schulbereich. Von Anfang an ignorierten die Kultusministerien für Schulen die Empfehlungen des RKI völlig. Obwohl völlig klar sein musste, dass das Zusammenpferchen von vielen Menschen auf engstem Raum (Klassenzimmer sind nicht eben für ihre Geräumigkeit bekannt, wie wir wissen) ohne vernünftige Lüftung für mehrere Stunden der Gesundheit in einer Pandemie sicherlich nicht sonderlich zuträglich sein dürfte. Dass das auch in der Politik bekannt sein könnte beweist etwa Karl Lauterbach, der vor dem Pandemiebetrieb der Schulen warnt.
Der Grund für dieses selektive Ausblenden aller Erkenntnisse wurde von Markus Söder ganz offen verkündet: Die Schulen bleiben nur offen, weil man nicht wisse, wie die Betreuungssituation anders zu lösen sei. Und das ist der absolute Offenbarungseid der Bundesländer, denn dieses Problem war bereits im Frühjahr evident geworden und den Sommer über nicht auch nur im geringsten angegangen worden. Augen zu und durch war die Devise. Erst hoffte man, mit einem entschlossenen Ausblenden aller Umstände bis zu den Herbstferien zu kommen, seither wird auf Biegen und Brechen versucht, die Schulen bis zu den Weihnachtsferien aufzuhalten. Dadurch wird Zeit gewonnen, aber Zeit wofür? Es finden keine Vorbereitungen statt, auf nichts.
Stattdessen wurden absurde Hoffnungen in die mittlerweile schlüssig widerlegte Idee gelegt, dass Kinder und Jugendliche irgendwie ungefährlicher wären - eine Theorie, die einerseits seit Monaten klar falsifiziert ist und die sich durch eine absolute Menschenverachtung auszeichnet. Die Lehrkräfte und Erziehenden in den Kindertagesstätten werden stattdessen wie im Frühjahr bereits das Pflegepersonal an die vorderste Front gestellt, nur dass man ihnen nicht mal Beifall klatscht. Stattdessen werden sie verheizt.
Die Haltung der Kultusministerien wird hier exemplarisch verdeutlicht:
Das konserviere ich hier einmal. Das ist eine inhaltliche Duftmarke. Und nach uns die Sintflut. pic.twitter.com/guWtQqnoOu
— Otmar S (@aloa5) November 10, 2020
Immerhin, ein Feld auf dem die Bildungspolitik nun aktiv wurde ist die Digitalisierung der Schulen. Nur zeigt sich, dass 20 Jahre lang verschlafener Digitalisierung nicht in drei Monaten aufgeholt werden können. Die Rechnung bezahlen jetzt Kinder, Eltern und Lehrkräfte, weil digitale Unterrichtsmodelle häufig mangels Infrastruktur nicht umsetzbar sind und damit der Präsenzunterricht - der unter Pandemiebedingungen in das Korsett des längst überwunden gehofften Frontalunterrichts gezwungen wird - alternativlos ist.
Fazit
Es heißt immer, der Erfolg habe viele Väter, während der Misserfolg ein Waisenkind ist. Die zweite Welle kann sich vor Eltern kaum retten. Das allerdings ist angesichts der Folge einer außer Kontrolle geratenden Pandemie, tausender unnötiger Toter und Hunderttausenden zerstörter Existenzen kein Trost.
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