Donnerstag, 26. November 2020

Is it the economy, stupid?

 

Ein Aspekt der US-Präsidentschaftswahl, der in meiner Serie zum Thema (hier, hier und hier) etwas unterentwickelt blieb, ist die Frage nach dem Einfluss der fundamentals. Mit diesem Begriff kennzeichnen Wahlforschende solche Faktoren, die durch den Wahlkampf nicht beeinflusst werden können und quasi den langfristigen Hintergrund bilden. Dazu gehören Faktoren wie Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Höhe der Gehälter, Konsumentenoptimismus und Ähnliches, also alles das, was Bill Clintons Wahlkampfteam 1992 in der eingängigen Phrase "It's the economy, stupid!" zusammengefasst hat. Obwohl diese Phrase gerne und viel zitiert wird, wird sie doch jede Wahl aufs Neue wieder vergessen, und die Berichterstattung konzentriert sich auf das horse race: Wer liegt in den Umfragen vorne? Wer hat was gesagt? Das hat Unterhaltungswert. Aber es trägt wenig zur Erkenntnis bei.

Die Wahlforschung stellt wieder und wieder fest, dass die Wirkung des eigentlichen Wahlkampfs auf das Ergebnis ziemlich überschaubar ist. Einige Forschende stellen grundsätzlich in Frage, ob der Wahlkampf überhaupt etwas ändert. Ich halte das für eine überspitzte These. Der grundsätzliche Konsens, der sich hier aber wohl finden lässt, lautet in etwa so: Wenn beide Seiten einen grundsätzlich kompetenten Wahlkampf betreiben, negiert sich der Effekt größtenteils. Anders ausgedrückt: TV-Spots, Reden, Auftritte, Plakate, Interviews, die TV-Debatten - sie alle bewegen das Ergebnis nur im Bereich von Prozentbruchteilen. Natürlich ist diese Feststellung wohlfeil, wo wie im amerikanischen System Wahlen allzu oft im Bereich von Prozentbruchteilen gewonnen und verloren werden können.

Aber es stellt trotzdem die Frage, worauf eigentlich die Wahlentscheidungen basieren, wenn sie sich nicht von den (extrem teuren und aufwändigen) Bemühungen der KandidatInnen entscheidend bewegen lassen. Wir haben viel über das Phänomen der Polarisierung gesprochen, das sicherlich eine große Rolle spielt. Die Mehrheit der Wählenden sieht sich als einer Partei zugehörig (oder wenigstens einer Parteienfamilie) und wählt bei jeder Wahl mehr oder minder zuverlässig für diese. Hier ist die Frage nur eine der Mobilisierung. Es ist die berühmt-berüchtigte Stammwählerschaft, und ihr Anteil ist weit größer, als das in der Diskussion oftmals den Anschein haben mag.

Aber das haben wir an anderer Stelle bereits ausführlich diskutiert. Hier soll es heute mit verstärktem Blick darum gehen, was Leute zum Wechsel der Wahlentscheidung oder der Stimmabgabe an sich motiviert. Und hier spielen die fundamentals eine große Rolle. Richtet man sich ausschließlich nach ihnen, so bekommt man insgesamt ziemlich zuverlässige Wahlprognosen, zuverlässiger jedenfalls als vieler anderer Bullshit, den man während den Wahlen so zu hören bekommt. Wenig überraschend spielen sie in den Prognosemodellen der Wahlforschenden, etwa bei Nate Cohn oder 538, auch eine große Rolle.

Economy

Dass die "economy, stupid" mittlerweile zum Klischee geworden ist ändert nichts daran, dass die Aussage zutreffend ist. Sie ist einer der entscheidenden, wenn nicht der entscheidende, Faktor für die Entscheidung vieler Menschen, überhaupt zur Wahl zu gehen und für wen sie ihre Stimme abgeben. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass der absolute Stand der Wirtschaft dabei fast keine Rolle spielt, sondern die wahrgenommene Richtung, in die alles geht.

Wenn eine Regierung vier Jahre Vollbeschäftigung bei steigenden Löhnen hat, dann aber im halben Jahr vor der Wahl die Löhne nur noch 1% statt vorher 2% steigen und zudem die Arbeitslosigkeit auf 1% hüpft, besteht eine gute Chance, dass diese Regierung abgewählt wird. Hat die Regierung vier Jahre hohe Arbeitslosigkeit und sinkende oder stagnierende Löhne, im halben Jahr vor der Wahl sinkt die Arbeitslosigkeit aber und die Löhne steigen, so hat sie gute Chancen auf eine Wiederwahl.

Beispiele dafür gibt es genug. In jüngerer Geschichte sehen wir etwa die Wiederwahl Barack Obamas im Jahr 2012, als die wirtschaftliche Situation objektiv schlechter war als bei seinem Amtsantritt, aber die grundsätzliche Richtung zwar nur leicht, aber stabil nach oben wies. Obama erklärte 2016 in einem Anflug von gesundem Selbstbewusstsein, er habe die Wahl gegen Trump gewinnen können. Das ist sicherlich richtig, aus Gründen auf die wir noch eingehen werden. Was er aber nicht sagte ist, dass er eine Wahl 2014 sicherlich verloren hätte. Denn da sahen die fundamentals viel schlechter aus.

Die Wahrnehmung der Wirtschaft ist etwas, das die wahlkämpfende Regierung zwar durch den Wahlkampf zu beeinflussen versuchen kann, wo sie allerdings keine allzu großen Chancen hat. Ist die Bevölkerung überzeugt, dass die Lage mies ist, so hilft noch so viel optimistisches Gerede nicht. In Deutschland wurde 15 Jahre lang gebetsmühlenartig wiederholt, wie toll und erfolgreich doch die Agenda2010 war. Bis heute wird dieses Narrativ nur sehr eingeschränkt geglaubt, nicht weil es zwingend falsch wäre (die Debatte brauchen wir an dieser Stelle nicht zu führen) sondern weil es sich für die meisten Leute nicht so anfühlt, als ginge es ihnen besonders gut oder gar besser als vorher. Inwieweit das tatsächlich stimmt, ist dafür irrelevant. Wenn das Gefühl da ist, ist es da. Mit Gefühlen lässt sich nicht streiten.

Incumbency

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor, und der lautet incumbency: Amtsinhaberschaft. Wer ein Amt nur verteidigt, hat wesentlich bessere Chancen als jemand, der es erobern will. Deswegen sind Wahlen zur Absetzung einer amtierenden Regierung immer schwieriger als solche, in denen beide Seiten "neu" sind. Obama hatte deswegen 2012 gegenüber Clinton 2016 einen gewaltigen Vorteil: Er war schon Präsident. Der gleiche Faktor kann bei Senatswahlen oder Wahlen zum Repräsentantenhaus auch beobachtet werden, und er wird in Deutschland 2021 mit Sicherheit auch eine Rolle spielen, wo der seltene Fall eintritt, dass zwei (oder mehr) neue KanzlerkandidatInnen um den Posten streiten werden.

Als Faustregel kann man annehmen, dass incumbency ungefähr zwei Prozentpunkte wert ist. Betrachtet man erneut die knappen Wahlergebnisse, die 2016 Trump den Sieg bescherten, erklärt sich Obamas Siegesgewissheit für eine hypothetische dritte Amtszeit leicht. Er hätte keinen Finger krümmen müssen, um nach Lage der fundamentals die Wahl für sich zu entscheiden.

Dieses Prinzip beschränkt sich nicht nur auf die Politik. Wir kennen es aus allen Lebensbereichen. Vorgesetzte behalten lieber die mittelmäßigen oder gar miesen Arbeitnehmenden, den sie kennen, als das Risiko des Entlassungsprozesses, der Einstellung dann Einarbeitung einer neuen Person auf sich zu nehmen. Arbeitnehmende verharren in einer ungeliebten Stelle, statt eine neue Beschäftigung zu suchen. Unglückliche Paare bleiben zusammen, statt die Beziehung zu beenden und neue PartnerInnen zu finden. Was, wenn der neue Arbeitnehmende keine besseren Ergebnisse bringt? Was, wenn der neue Job noch schlechter ist oder unsicherer? Was, wenn ich keine glücklichere Beziehung aufbauen kann, oder gar keine mehr? The devil you know, as they say.

Man mag diese Haltung kritisieren, aber sie ist zutiefst menschlich. Natürlich sind nicht alle so, es gibt die risikobereiten Typen, die sich gerne neu erfinden, die Herausforderung und den ständigen Wandel lieben. Aber eine Mehrheit sind sie mit Sicherheit nicht, und Wahlen werden nun mal mit Mehrheiten gewonnen.

Incumbency ist aber ein zweischneidiges Schwert, denn die Wählenden haben die Neigung, einer Partei oder einer Regierung nach einiger Zeit überdrüssig zu werden. In parlamentarischen Systemen führt dies dazu, dass irgendwann ein Wechsel stattfindet, entweder innerhalb der Partei (etwa Tony Blair zu Gordon Brown) oder zwischen Koalitionen (etwa Schwarz-Gelb zu Rot-Grün). Im amerikanischen System mit seinen begrenzten Amtszeiten führt dies dazu, dass die In-Party es schwerer hat als die Out-Party, offene Wahlen zu gewinnen. Auch das folgt keinem rationalen Muster; es sind Gefühle und Instinkte der Wählerschaft.

Ein kurzer Blick zurück

Versuchen wir mit diesem Wissen im Hinterkopf, die Präsidentschaftswahlen der letzten 30 Jahre zu analysieren.

1992, der berühmten "It's the economy, stupid!"-Wahl, war George H. W. Bush der Amtsinhaber. Das war ein Vorteil. Gleichzeitig aber hatte er das Pech, dass die Wirtschaft ausgerechnet im Wahljahr in eine Mini-Krise rutschte, was es Clinton ermöglichte, ihn auf dieser Grundlage zu attackieren. Das war Glück. Der DNC hatte Clinton von einer Kandidatur abzuhalten versucht, um ihn für 1996 ins Rennen zu bringen, da man sich für 1992 wenig Chancen ausrechnete. Es kam dann anders.

1996 präsidierte Clinton als Amtsinhaber über eine boomende Wirtschaft. Die Wahl war die vermutlich irrelevanteste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und Clinton gewann spielend über einen blassen Herausforderer Bob Dole, der sogar von der eigenen Partei im laufenden Wahlkampf weitgehend fallengelassen wurde.

2000 trat Al Gore gegen George W. Bush an. Die Wirtschaft war in einer sehr guten Lage (Vorteil Gore) aber das Rennen war offen (Vorteil Bush). Zudem war Clinton vergleichsweise beliebt. Der Wahlausgang war denn auch so knapp, wie man angesichts dieser Situation vermuten würde.

2004 hatte sich die Wirtschaft wieder von der Dot-Com-Blase erholt und George W. Bush war Amtsinhaber. Der Irakkrieg hatte sich noch nicht als das Desaster entpuppt, als das er bald ersichtlich werden würde, Katrina und Lehman Brothers waren noch in der Zukunft. Die fundamentals sprachen gegen Kerry, und tatsächlich gelang Bush das Kunststück, als einziger republikanischer Präsidentschaftsbewerber seit 1988 (!) eine Mehrheit der Stimmen zu gewinnen.

2008 war das Rennen offen (Vorteil Obama) und die Wirtschaft auf rasanter Talfahrt (Vorteil Obama). Allein diese fundamentals sprachen deutlich für einen demokratischen Sieg; auch Hillary Clinton hätte 2008 die Präsidentschaftswahlen gewonnen, noch bevor sich McCain mit der Wahl Palins als Vizepräsidentin unmöglich machte und Obamas überragendes Wahlkampftalent in die Waagschale fiel. Entsprechend deutlich fiel das Ergebnis hier auch aus.

2012 war Obama der Amtsinhaber und die Wirtschaftslage zwar schlecht (Vorteil Romney), aber auf Erholungskurs (Vorteil Obama). Unter anderem diese Faktoren sorgten dafür, dass Nate Silver seinerzeit mit großer Sicherheit einen Obama-Sieg vorhersagte, über viele Monate - und jeden Staat korrekt prognostizierte, ein einmaliges Ergebnis, von dem 538 bis heute seinen Ruhm zehrt.

2016 war ein offenes Rennen (Vorteil Trump) und die Wirtschaft war bestenfalls lala (Vorteil Trump), wenngleich auf dem Weg der Erholung (wovon Clinton als Nicht-Amtsinhaberin nicht profitieren konnte). Unter normalen Bedingungen war der republikanische Kandidat der klare Favorit; dass Trump trotzdem der Außenseiter war und nur durch ein perfektes Zusammenfallen von äußeren Faktoren gewann, spricht für seine wahnsinnige Schwäche als Kandidat.

Warum hat Trump verloren?

Betrachtet man nur die fundamentals, so sollte Trump als glasklarer Favorit ins Präsidentschaftsrennen 2020 gegangen sein. Die von Obama geerbte Erholung der Wirtschaft ging weitgehend unbeeinflusst voran. Trump war Amtsinhaber. Genau an dieser Stelle setzt die Argumentation von Matthew Yglesias in Slow Boring an:

After a whole year of steady job growth in 2016 and then another one in 2017, wages finally picked up in 2018 and were really chugging nicely in 2019.

This was the “good economy” of the Trump years. If you look at job growth or GDP growth, the Trump Economy and the Obama Economy look identical. But if you look at wages, there is a very real acceleration under Trump that became the basis for Trump’s strong polling on the economy as an issue. Labor force participation, meanwhile, was ticking up during these years despite the aging — exactly as us demand theorists had predicted.

The Trump years happen to be an unusually good case because we know he didn’t manage to repeal the ACA or the Dodd-Frank Act. So the stuff conservatives said was holding back participation can’t have been the reason. But he also didn’t overhaul job training or anything. Job growth just kept chugging along (and the budget deficit went up because Trump cut taxes while congress increased both military and domestic spending). And we could have had that full employment economy years earlier with better macroeconomic policy.

Und das ist faszinierend. Nicht nur nahm die Arbeitslosigkeit weiter stetig ab; unter Trump begann sogar endlich die Beschäftigungsquote zu steigen UND die Gehälter nahmen zu. Diese Wahl hätte eigentlich ein Slam Dunk sein sollen, ein Triumph des Amtsinhabenden. Stattdessen war Trump der Underdog, brachte es in seiner gesamten Amtszeit nicht auf positive Zustimmungsraten, hing in den Umfragen teils zehn Prozentpunkte hinterher und verlor die Wahl am Ende zwar nicht in einem Erdrutsch, aber deutlich.

Trump ist kein politisches Genie. Er ist kein brillanter Wahlkämpfer. Er ist tatsächlich ziemlich mies. In beiden Wahlen, zu denen er antrat, hat er zwar jeweils die Erwartungen übertroffen. Aber gerechnet an den fundamentals, an der Frage, wer die Wahl gewinnen SOLLTE, underperformte er deutlich.

Fazit

Was folgt daraus? Trumps Niederlage 2020 ist anhand der fundamentals nicht erklärbar. Das ist einerseits eine cautionary tale dafür, diese Metriken nicht absolut zu setzen. Sie sind eine gute Faustregel, aber kein zuverlässiges Prognoseinstrument. Der menschliche Faktor ist bei alledem nicht zu unterschätzen. Und Trump war einfach ein besonders mieses Exemplar Mensch, in so ziemlich jeder Hinsicht.

Die Macht der fundamentals zeigt sich aber auf der anderen Seite auch darin, dass Trump nur so knapp verlor. Das große Mysterium vieler Beobachtenden war ja, warum die Democrats nicht einen Erdrutschsieg hinlegten. Das ist aber die falsche Frage. Warum gelang das den Republicans nicht? Von der Ausgangslage her hätte diese Wahl eine Wiederholung von 1996 oder 2004 sein sollen. Stattdessen wurde sie eine Wiederholung von 1980 - das letzte Mal, dass ein Präsident nach nur einer Amtszeit abgewählt wurde, der einen Machtwechsel durchgeführt hatte! Vor Jimmy Carter muss man bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen, um dieses Phänomen zu finden. Incumbency ist ein ungemein mächtiger Faktor. Das allein zeigt die Schwäche Trumps deutlich.

Aber eine wichtige Lektion, die sich daraus ziehen lassen sollte, ist die Folgende: Wenn du Wahlen gewinnen willst, sollte es den Leuten gut gehen - oder doch zumindest ordentlich. Ohne seinen Nervenverlust 2005 hätte Gerhard Schröder vielleicht die Wahl 2006 gewonnen. Die fundamentals jedenfalls wären besser gewesen.

Eine Politik, die für hohe Beschäftigung UND hohe Gehälter sorgt, ist jedenfalls immer noch der beste Wahlkampfschlager. Die Democrats würden gut daran tun, all diejenigen zu ignorieren, die mit Grabesstimme die Gefahren der Staatsschulden oder der Inflationsrate betonen.

Einer der größten Faktoren, die zu Trumps überraschend knappen Abschneiden dieses Jahr geführt haben, war, dass die Krisenpolitik der USA den BürgerInnen half. Die 1200 Dollar, die einmalig im Frühjahr als Scheck auf Betreiben der Democrats ausgezahlt wurden, genauso wie die 600$ Arbeitslosenhilfe im Monat, die dank den Democrats in vielen Haushalten ankam, halfen Trump und der GOP massiv. Und da war absehbar. Gute Politik wäre gewesen, diese Hilfen zu verweigern und das Massenelend elektoral auszubeuten. Die Republicans hätten das sofort getan. Verdammt, der Konjunktiv ist nicht angebracht, sie HABEN das getan, ob an der Regierung oder nicht, was die Absurdität dieser ganzen Geschichte nur noch mehr unterstreicht.

Glücklicherweise sind die meisten Demokratien so gesund, dass nicht die eine Hälfte des politischen Spektrums derartig feindselig agiert. In Deutschland etwa besteht in Krisen wie dieser für keine demokratische Partei ein Zweifel daran, dass den Menschen geholfen werden muss. In einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat wie Deutschland wäre auch, anders als in den USA, eine Arbeitslosenhilfe von 600$ im Monat kein unerwarteter Geldsegen, der das sonstige Vollzeitarbeitsnettoeinkommen übersteigt. In den USA war und ist das aber der Fall. Und es hätte Trump beinahe den Sieg gebracht.

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