Donnerstag, 5. November 2020

Alliierte Krisenmanager geben antike Subventionen an das terrorisierte Hogwarts - Vermischtes 05.11.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Allies Aren’t Friends And Clients Aren’t Allies

Many partnerships are of even more questionable value, but they are frequently described as alliances when they are not and there is tremendous political pressure to treat them as if they deserved U.S. protection. The U.S. needs to reassess which relationships are worth preserving, and it needs to remember the reason why we have these relationships. That will mean reducing some commitments and ending others when they have outlived their usefulness. In modern Washington, D.C., limited security relationships are transmuted into alliances, and alliances are made into sacred cows that must not be threatened no matter what. When Washington and Jefferson warned us against permanent and entangling alliances, these were some of the pitfalls that they hoped the U.S. would avoid, but instead we have spent the last eighty years adding more commitments than we can possibly uphold and conflating our interests with the interests of dozens of other countries all over the world. It has reached a point where many Americans no longer recognize where American interests end and those of other states start, and our leaders tend to treat local and regional threats to minor clients as if they were endangering America’s vital interests. This leads our government into a series of corrupting arrangements with authoritarian governments in the name of a never-ending “war on terror,” and it commits the U.S. to risk major wars over small rocks in the ocean and indefensible countries on the European frontier. Alliances are supposed to make both the U.S. and our allies safer, but in practice they have sometimes become the excuse for unnecessary interventions that have nothing to do with collective defense. Partnerships that were once considered temporary expedients are absurdly elevated into “crucial” relationships that have to be indulged despite the harm they are doing to U.S. interests. (Daniel Larison, American Conservative) 

Die amerikanischen Konservativen kommen echt bei gar keinem Artikel ohne das Spielen von Founder-Ouija aus. Diese Obsession, aus dem Text die Kongruenz der eigenen Position mit "The Founders" zu belegen (was aus so unglaublich vielen Gründen Blödsinn ist, dass es hier den Rahmen sprengen würde), schwächt dabei die eigene Argumentation, weil weniger intellektueller Raum darauf verwandt wird, die Basis der eigenen Argumente zu stärken, dass sie von sich aus stehen können. Als ob Washingtons Meinung zu Allianzen für die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts relevant wäre!

Davon abgesehen liegt der Artikel in meinen Augen aber auch in einer Sache falsch. Mich wundert nicht, dass Larison kein Konstruktivist ist, aber der Neorealismus hat immer wieder starke Grenzen und würde gelegentlich gut tun, konstruktivistischen Ansätzen mehr Raum zu geben. Allianzen schaffen Sicherheit, und wir sind Freunde. Klar können die USA gelegentlich auch mal punktuell mit China zusammenarbeiten, oder mit Saudi-Arabien. Aber das ist nicht dasselbe wie das Verhältnis mit Europa. Das hat zwar seit Bush einen ziemlich üblen Knacks, aber ist nichtsdestotrotz eine wesentlich stärkere Bindung, als Larison hier zugestehen will.

Vollkommen Recht geben will ich ihm aber damit, dass das außenpolitische Establishment permanent den Fehler macht, Klientelbeziehungen und Allianzen zu verwechseln. Das ist ironischerweise auch ein Fehler, der hierzulande gerne gemacht wird. Wir sind ein Verbündeter der USA, kein Klient. Wie Larison dagegen richtig feststellt, sind sowohl Saudi-Arabien als auch Israel amerikanische Klientelstaaten. Besonders im Falle Israels geht das US-Engagement weit über das hinaus, was mit den Interessen des Landes erklärbar wäre. Das könnte Larison auch ein Hinweis sein, aber er stellt diesen Widerspruch zwar fest, kann ihn aber nicht auflösen. Vermutlich hat er in den Federalist Papers nichts zu Israel gefunden.

2) Warum die konservativen Krisenmanager fehlen

Eigentlich sind dies Zeiten für gemäßigte Konservative. Der Konservatismus, wie er über viele Jahrzehnte in westlichen Ländern die Politik geprägt hat, ist dezidiert unideologisch. Die bürgerlich konservative Tradition ist problemlösungsorientiert, auf der Suche nach der Balance zwischen Fortschritt und Fortschrittsskepsis. Anders als fortschrittseuphorische Liberale und im Marxismus verwurzelte Sozialisten, die das Flair des Revolutionären verströmen, beharren echte Konservative auf pragmatischem Gradualismus: immer auf der Suche nach dem Machbaren, nach dem Kompromiss, nach gebremstem Fortschritt. Das wirkt mäßigend und versachlichend. Dem so verstandenen Konservatismus geht es zuvörderst darum, die Verhältnisse zu stabilisieren, Gesellschaften zu befrieden, die Integrität der Institutionen zu wahren. In vielen westlichen Ländern stellten konservative Parteien seit dem Zweiten Weltkrieg die meiste Zeit die Regierung. Seit ihrer Gründung führten beispielsweise in der Bundesrepublik in mehr als zwei Dritteln der Jahre CDU-Kanzler die Staatsgeschäfte. [...] Konservative lassen von so etwas die Finger. Angela Merkels beharrliche Weigerung, in ihrer langen Regierungszeit irgendeinen großen Wurf zu versuchen, ist typisch für diesen Politikansatz - keine große Steuer- oder Rentenreform, kein Ausbau der EU und der Eurozone zu Vereinigten Staaten von Europa. Auf Dauer genügt der Wille zum Bewahren eben doch nicht. Doch aktuell ist die Unsicherheit so groß und so umfassend, dass es vor allem darum geht, den Laden zusammenzuhalten - also irgendwie für Stabilität zu sorgen. Im Zeichen der Covid-Krise und einer zerfallenden internationalen Ordnung sind wir permanent mit so vielen Unwägbarkeiten konfrontiert, dass schon viel erreicht wäre, wenn es gelänge, ein Abgleiten in chaotische Zustände zu verhindern. Der pragmatische Konservatismus kann die politische Software dazu liefern. (Henrik Müller, SpiegelOnline)

Ich weiß nicht, hierzulande haben wir von diesem Typus nach meinem Dafürhalten eigentlich ziemlich viele Leute. Die sind geradezu die dominante Strömung innerhalb der CDU, deswegen haben wir doch gerade den Basisaufstand mit Merz als Galionsfigur. Der Mann war Anfang der 2000er ein harter Ideologe und ist es heute. Würden er und seine Anhänger an die Macht kommen, dann wäre der konservativ-pragmatische Krisenmanagertypus passé. Aber aktuell?

Das Gleiche gilt ja für die SPD: Auch dort herrscht der konservativ-pragmatische Krisenmanagertypus vor. Gradualismus könnte ja geradezu auf dem Titelblatt des Parteiprogramms stehen. Und auch hier gibt es einen Basisaufstand dagegen, der sich in der Wahl des neuen Vorsitzendenpaars ausgedrückt hat - mit bislang sehr wenig konkreten Folgen, nebenbei bemerkt.

Von den Grünen brauchen wir ja gar nicht zu reden, Kretschmann ist ja quasi konservativ-pragmatischer als die CDU. Nicht ohne Grund mag (wer erkennt ein Muster?) die Basis seine Regierung nicht sonderlich. Selbst die LINKE erfüllt, wo sie an der Regierung ist, dieses Leitbild. Was ist denn Bodo Ramelow, wenn nicht ein konservativ-pragmatischer Gradualist? In Deutschland sehe ich hier daher eher weniger ein Defizit. Das haben die konservativen Parteien in vielen anderen Ländern - und je nachdem, wie sich die Führungskrise der CDU entwickelt, auch bald wir.

3) Ist die Krise ein Wendepunkt ? Wie Sprachbilder unseren Umgang mit der Pandemie prägen

Anders als in Frankreich, Großbritannien und den USA wird Kriegsmetaphorik in Deutschland – wohl aus historischen Gründen – nur zögerlich verwendet. Auch im Zuge der COVID-19-Pandemie finden sich nur selten explizite Bezüge auf dieses Sprachbild. Stattdessen dominiert im politischen Diskurs das Sprachbild der »Krise«. Der allgegenwärtige Begriff der »Corona-Krise« setzt eine sprachliche Tradition fort, mit der in Deutschland bereits lange auf jede Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen reagiert wird: von der »Finanzkrise« und der »Eurokrise« über die »Flüchtlingskrise« bis hin zur »Klimakrise«. Dass es sich dabei um ein Sprachbild handelt, ist auf den ersten Blick weniger offensichtlich als bei der Kriegsmetaphorik. Aber auch der Begriff der „Krise“ bringt eine sprachliche Logik mit sich, die uns eine auf diese Weise versprachlichte Situation auf eine bestimmte Weise sehen lässt. Wenn wir etwas als »Krise« bezeichnen, stellen wir es als unvorhersehbar und unverschuldet dar: In eine Krise wird man unvermittelt »gestürzt« oder man »schlittert« hinein. Dann »steckt man in der Krise« wie in einer Falle und muss nach einem »Ausweg« oder einer »Lösung« suchen. Die Krise wird dabei grundsätzlich als zeitlich begrenzt betrachtet: Wir sprechen oft von einer »aktuellen« oder »derzeitigen« Krise. Natürlich kann sich die Krise »verschärfen« oder »sich zuspitzen«. Aber mit den richtigen Entscheidungen kann man ihr »trotzen«, sie »überwinden« oder wie ein Hindernis »bewältigen«, sie »meistern« oder wenigstens »überstehen« – auf jeden Fall aber aus ihr »herauskommen«. Und im Geiste des oft zitierten (falschen) Mythos, das chinesische Wort für »Krise« bestehe aus den Wörtern für »Gefahr« und »Chance«, reicht es nicht, zum Zustand vor der Krise zurückzufinden – nein, wir wollen »aus der Krise lernen« und »gestärkt aus ihr hervorgehen«. (Anatol Stefanowitsch, Friedrich Ebert Stiftung)

Es ist immer wieder gut zu sehen, dass ein Sprachwissenschaftler wie Stefanowitsch Framings analysiert. Die Abwesenheit von Kriegsrhetorik in der deutschen Reaktion auf die Corona-Pandemie dürfte nicht sonderlich überraschen. In einem fundamental anti-militaristischem Land wie diesem dürfte das kaum die erhoffte Entschlossenheit bringen, sondern eher ein Gefühl des Unbehagens. Ich bin sehr froh, dass mit Kriegsrhetorik hierzulande wenig ausgerichtet werden kann.

Bezüglich der Krisenverwendung bekenne ich mich schuldig; ich verwende den Begriff ja genauso inflationär und eher unreflektiert. Ich bin unsicher, ob das in der Vergangenheit auch schon so war. Die Wahrnehmung der eigene Zeit als besonders im Umbruch befindlich oder gefährdet wahrzunehmen ist sicherlich nicht neu; möglich, dass man früher auf andere Begriffe zurückgegriffen hat. Aber letztlich ist der "Reformstau" der 1990er Jahre auch nur etwas, das wir heute als Reformkrise bezeichnen würden. Die Debattenmechanismen, die sich darum herum drehten, sind jedenfalls die gleichen. Ich bin deswegen eher unsicher, ob Stefanowitsch hier nicht etwas übers Ziel hinausschießt.

4) Fireside Friday, October 30, 2020

One thing that emerges quite clearly from a study of Greek and Roman antiquity is the intense fragility of self-government. That fragility is easy to miss in a modern context (to the point that it is occasionally argued that so-called ‘consolidated‘ democracies are self-sustaining) in part because the sample size is so small and recent, relatively speaking. [...] And it is in observing that sample that it becomes clear that these systems of government can be very fragile internally. Patterns also emerge as to how such systems break down. The cycle of breakdown was sufficiently common that the Greeks had a nice, compact word for it: stasis  [...] Of course, such negotiations of power are the basis of politics and were nothing new. What changes as a community lurched towards stasis was the steady erosion of the norms, traditions and simple restraint that made self-government possible. This process was obvious enough – with so many examples – that it is explained and discussed in a number of the ancient sources [... ] That escalation damaged the essential social trust that allowed the society to function (and violence damaged the prosperity which made competition even fiercer). The decline of trust makes the ‘trap’ of stasis self-reinforcing: as trust declines and more decisions are made as cynical calculations (Thuc. 3.82.1-3) it becomes harder and harder to broker a deal to end the strife that all sides will trust and respect, particularly because stasis tended first to cannibalize any moderate figures or factions. The endpoint, of course, was self-destructive violence as the last limits and norms broke under the weight of escalating competition. The most common result of that violence was the emergence of tyranny – one man strongman rule, although sometimes (typically with foreign support) one faction would ‘win’ and massacre their opponents – their usual reward was becoming an exploited puppet government to a self-interested outside power; they had merely exchanged a domestic tyrant for a foreign one. (Bret Deveraux, A Collection of Unmitigated Pedantries)

Die historische Perspektive von Bret Deveraux, den ich im Rahmen meines Podcasts zweimal als Gast zu haben die Ehre hatte (hier und hier), ist sehr willkommen. Zwar sind die modernen Demokratien tatsächlich ziemlich stabil - vor allem die amerikanische, die allen Unkenrufen zum Trotz seit 1787 besteht - aber das bedeutet nicht, dass sie es bleiben müssen. Die Warnung, dass Demokratien IMMER instabil sind, und dass die Gefahr ihres Zusammenbruchs jederzeit droht, ist sicherlich angemessen. Es ist wie grundsätzlich mit dem Firnis der Zivilisation: sie ist dünn und kann jederzeit reißen. Wir müssen die Demokratie immer verteidigen, stets wachsam.

5) 220 Millionen Euro für Zeitungsverlage

Zur "Förderung der digitalen Transformation des Verlagswesens, zur Förderung des Absatzes und der Verbreitung von Abonnementzeitungen, -zeitschriften und Anzeigenblättern" stellt der Bund maximal 220 Millionen Euro bereit, davon 20 Millionen Euro in diesem Jahr, die restlichen 200 Millionen Euro in künftigen Haushaltsjahren. Mit dem Geld solle die "Medienvielfalt und -verbreitung" gefördert, der Journalismus gestärkt und der "dringend gebotene Transformationsprozess im Bereich der Abonnementzeitungen" befördert werden. Konkret heißt das, dass nicht nur Zeitungszusteller staatlich gestützt werden sollen, was die große Koalition schon im Herbst 2019 beschlossen hatte. Sondern auch Verlage selbst. Fragt man nach im Haushaltsausschuss, wer den Antrag auf die Förderung eingebracht hat, kommt nur Schulterzucken. Plötzlich habe er da drin gestanden im Plan, "eine Hauruckaktion", der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) habe Druck gemacht. [...] Die 40 Millionen Euro aus dem Etat des Arbeitsministeriums sind nun vom Tisch. Stattdessen sollen 220 Millionen Euro aus dem Etat des Wirtschaftsministeriums kommen, deklariert als Branchenhilfe. Die Informationen zu der neu geplanten Verlagsförderung sind allerdings spärlich; auch Peter Altmaier habe offenbar von nichts gewusst, sagt Deligöz. "Der Bundeswirtschaftsminister war leider nicht in der Lage, die Förderung zu skizzieren, da er erst heute davon Kenntnis erhalten habe." Der Bundestag hat die Förderung am Donnerstag beschlossen - ohne Sperrvermerk. (Cerstin Gammelin, Süddeutsche Zeitung)

Das ist das Leistungsschutzrecht reloaded. Die Lobbymacht der Zeitungsverlage ist echt beachtlich. Diese Redaktionen sind extrem gut vernetzt. Ich glaube Altmaier sogar, dass das mehr oder weniger an ihm vorbei ging. Sehr gut vorstellbar, dass da die entsprechenden Kanäle die Förderung reingeschmuggelt haben. Und die Heimlichkeit hat ihren Grund: diese Subvention ist eine volkswirtschaftliche Katastrophe. Denn wer bekommt diese enorme Summe? 59% die Abo-Zeitungen, 11% die Abo-Zeitschriften und 30% Anzeigenblätter. Und zwar für die “digitale Transformation des Verlagswesens”. Die Steuerzahler finanzieren mit 66 Millionen Euro die "digitale Transformation" dieser unsäglichen Postwurfsendungen, die einen riesigen Teil des Altpapieraufkommens verursachen - Woche für Woche.

Wer bekommt dagegen nichts? Auf der einen Seite die unabhängigen Medien. Deliberation Daily jedenfalls sieht davon keinen müden Cent. Und auf der anderen Seite auch diejenigen nicht, deren Transformation in den digitalen Bereich bereits geglückt ist. Wie in der Autoindustrie auch wird das eklatante Marktversagen der großen Player mit großzügigen Steuergeldern zugekleistert. Wen die Details interessieren liest hier die Story, wie das zustande kam.

6) Ist es radikal, ein Schuljahr ausfallen zu lassen?

Der Unterschied zu Kindern und Jugendlichen ist: Als Erwachsene haben wir deutlich mehr Spielraum, über ein »Nach der Pandemie« nachzudenken, und häufiger erlebt, dass sich das Leben ordnen wird, gute Wendungen kommen und trübe Phasen irgendwann enden. Für junge Menschen steht die Zeit auf andere Weise still. Ihr Leben formt sich noch, die Zukunft ist offener und der Bezug zu ihr verletzlicher, da junge Menschen weniger Zeit hinter sich liegen haben, auf die sie zurückschauen und deren abgeschlossene Erfahrungen auch nach vorn Sicherheit geben. Zudem sind Kinder und Jugendliche deutlich stärker abhängig davon, auf welche Art unsere Gesellschaft ihr Leben für sie vorstrukturiert hat. Für die meisten sehr jungen Menschen ist das ihre Schullaufbahn, die ihnen lange Zeit vorschreibt, wie sie ihre Tage, Wochen und Jahre verbringen. So eine Struktur kann einengen, aber sie gibt, selbst wenn sie nicht angenehm ist, auch immer Halt. Wenn junge Menschen denken, dieses Jahr sollte für sie ein entscheidendes sein, zum Beispiel weil sie sich beruflich orientieren sollen, dann reicht es nicht, dass Erwachsene, so wie ich, schreiben oder ihnen sagen, dass nach diesem Jahr noch viele kommen werden, die wichtig sind, und das Sich-Orientieren eine fortlaufende Aufgabe bleibt. Ein Gefühl für die Zeit zu entwickeln, so ein Jahr in Relation zu setzen, braucht ebenfalls das: Zeit. [...] Daher ist eine Enttäuschung darüber angemessen, dass etwas lang Geplantes, Gewünschtes sich in diesem ersten Jahr der Corona-Pandemie nicht erfüllen wird. Dafür ist nicht entscheidend, was letztlich passiert wäre, oder ob die Vorfreude sich auf ein Privileg wie die Chance auf ein Auslandsjahr bezieht, einen Abschlussball oder ein Praktikum. Wollen wir uns in dieser blöden Pandemie wirklich unsere Gefühle absprechen? Gerade weil sich so viele Menschen gerade beschränken und an neue Regeln halten, brauchen wir mit Sicherheit keine Regeln dafür, welche zerplatzten Pläne es waren, über die jemand traurig sein darf. Es sind Erinnerungen, Erfahrungen, die fehlen werden, auch wenn es andere Erinnerungen und Erfahrungen geben wird, deren Bedeutung und ob und wie sie uns prägen wir erst später verstehen können. (Teresa Bücker, Süddeutsche Zeitung)

Um mal die rhetorische Frage aus der Überschrift zu beantworten: Selbstverständlich ist es das. Ich wüsste wenig, das un-radikaler wäre als ein Schuljahr ausfallen zu lassen. Aber lassen wir das mal beiseite, die Überschriften kommen ja nicht von den AutorInnen der Artikel, sondern werden nur auf Klickträchtigkeit in den Redaktionen geschrieben. Der Artikel von Teresa Bücker ist insgesamt sehr ausführlich und lesenswert, ich konnte hier nur Teile herausgreifen und möchte auf zwei Aspekte eingehen.

Punkt eins ist der Rückfall in die Familien. Ein großer Teil der Schulbelastung wird in der Pandemie in die ohnehin schon überbeanspruchten Familien abgewälzt. Das war bereits im ersten Lockdown im Frühjahr so, und das wird auch mit den anstehenden Quarantänen und Schließungen jetzt so sein. Für eine gut situierte Mittelschichtenfamilie ist das einfach nur eine Mehrbelastung, aber für Haushalte, die eher bildungsfern sind und/oder wo die Eltern nicht HomeOffice machen können wird das verheerende Auswirkungen haben, auf die das Schulsystem weiterhin völlig ungenügend vorbereitet ist.

Ich finde es auch wichtig, dass Bücker - Punkt zwei - die Belastung für junge Menschen anspricht. Das Herumreiten auf Jugendlichen und jungen Erwachsenen war ja besonders im Feuilleton zur Modeerscheinung geworden. Aber auch hier gilt es, etwas Perspektive zu bekommen. Für Menschen wie die LeserInnen dieses Blogs, die bereits in der Mitte des Lebens stehen oder darüber hinaus sind, ist die Pandemie eine Unterbrechung des Alltags. Wir kommen damit halbwegs zu Rande. Aber für junge Menschen bedeutet es massenhaft verpasste Chancen und Erlebnisse. Das darf man ruhig thematisieren.

7) The Media Has Not Ignored the Hunter Biden Story // The Press Is Giving Trump a Free Pass, Again

Ihre Argu­men­ta­tion ist ebenso wirr wie ideo­lo­gisch und scho­ckie­rend – etwa, wenn sie Toiletten, zu denen Trans­frauen Zugang haben, zu Gefah­ren­zonen hoch­sti­li­siert, oder wenn sie Trumps sexis­ti­sche Über­griffe sowie die Hate­speech frau­en­feind­li­cher Incels in einem Atemzug mit den Angriffen von Transaktivist:innen auf ihre Haltung nennt. Erneut besteht sie darauf, die Mensch­heit in zwei Gruppen aufzu­teilen: Männer aus dem gesamten poli­ti­schen Spek­trum, folgert sie, seien sich einig, dass Frauen zu viel Ärger machen. “Ever­y­where, women are being told to shut up and sit down, or else.” Das Verstö­rendste an ihrem Blog­bei­trag ist jedoch die Anmas­sung, mit der sie zu wissen glaubt, was für andere gut ist. [...] In Rowlings und Galbraiths Romanen drückt sich die Sehn­sucht nach einer heilen Welt darin aus, dass die Figuren, die ja keine Abbilder realer Menschen, sondern diskur­sive Figu­ra­tionen sind,  klar Kate­go­rien zuge­ordnet sind und bleiben, welche die Leser:innen kennen und einordnen können; sie sind Schnitt­stellen popu­lärer Erzäh­lungen. Harry ist Messias, Aben­teu­er­held, Aschen­puttel, und Strike ist ein Hard Boiled-Detektiv und ein kriegs­t­rau­ma­ti­sierter Mann à la Watson, der seine privaten Über­zeu­gungen mutig hinter sich lässt, wenn es darum geht, die Wahr­heit zu finden. Poli­tisch sind Rowlings Romane auf eine naive Weise konser­vativ: Sie konstru­ieren einen nost­al­gi­schen Raum, der vor verstö­renden (ästhe­ti­schen) Erfah­rungen und epis­te­mo­lo­gi­scher Erschüt­te­rung schützen will. Solange sie als Star der Lite­ra­tur­szene gefeiert wurde, dessen Bücher Millionen von Kindern zum Lesen verführten, störte sich niemand gross daran. Wenn es etwas aus dem Fall Rowling zu lernen gibt, dann viel­leicht dies: Dass wir Kinder­li­te­ratur als Lite­ratur ernst­nehmen. Und uns für die Politik ihrer Poetiken inter­es­sieren. (Christine Lötscher, Geschichte der Gegenwart)

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