Wie hat sich ein Künstler in der deutschen Gesellschaft zu benehmen?
Czollek: Ganz offensichtlich nimmt man dem Künstler übel, dass er sich nicht nur zur Kunst äußert. Man muss allerdings im Falle Levit zwei Dinge unterscheiden. Der eine Aspekt ist die sehr deutsche, Post-1945er-Erfindung einer Kultur, die frei ist von jeglicher Bezugnahme auf die Gesellschaft und die auf diese Weise freigehalten werden soll von Gesellschaftskritik. So etwas finde ich hochgradig irreal: die Erfindung einer „guten Kultur“ als Orientierungsmaßstab für eine deutsche Gesellschaft als Gegensatz zur „bösen Politik“, die man für überwunden hält. Und darum gilt ein politisch engagierter Künstler wie Levit als verdächtig. [...]
Die Vokabel „Opferanspruchsideologie“ in der „Süddeutschen Zeitung“ oder einige Wochen zuvor die Klage im „Mannheimer Morgen“, man dürfe nicht mal mehr einen „Judenwitz“ machen und davon nicht „jüdische Witze“ unterschied: Sind das Äußerungen, die den Autoren passieren? Ein Versehen? Oder wie bewusst ist dies?
Czollek: Das Interessante ist doch, dass man in Deutschland nach 1945 einen Konsens gefunden hat, dem alle zustimmen können: Wir sind keine Nazis mehr! Dieser Konsens ist so sehr zum Teil des eigenen Selbstbildes geworden, dass selbst die Antisemiten glauben, dass sie mit dem Nazitum nichts mehr zu tun haben. In so einer Situation ist die ritualhafte Versicherung, man habe es doch nicht so gemeint wie von der „SZ“-Redaktion im Falle Levit, nicht hilfreich. Niemand hat es je so gemeint – was soll dann also die Entschuldigung, wenn sie nicht bedeutet, dass man endlich an die Strukturen geht, die dahinter liegen und so ein Denken überhaupt erst möglich machen? (Markus Thiel, Merkur)
Ich würde am liebsten das gesamte Interview zitieren, so gut und lesenswert ist es. Daher die dringende Bitte, dem Link zu folgen und es in Gänze zu lesen. Ich will hier vor allem auf Czolleks These eingehen, dass gerade der Konsens, die Nazis überwunden zu haben, zu deren Renaissance führt, oder wenigstens zu einer solchen von Teilen ihres Gedankenguts. Es ist ein bisschen wie beim Rassismus; da wir alle den Konsens haben, dass Rassismus schlecht ist (da stimmt ja selbst die AfD zu!), kann auch nichts rassistisch sein. Schließlich ist es für niemanden möglich, dieses Label jemals zu akzeptieren. Daher dreht sich die Debatte dann ständig so fruchtlos um nervige Definitonsfragen, während der Rassismus sich tiefer in der Gesellschaft verankert, aber als solcher nicht benannt werden darf. Das Wort erstarrt und wird unbenutzbar, weswegen es dann Alternativen braucht - die zuverlässig als "politisch korrekte Sprachpanscherei" oder was der Invektiven nicht mehr sind bezeichnet werden.
7) „Ich sehe partielle Blindheit bis hin zu Staatsversagen“ (Interview mit Wilhelm Heitmeyer)
Herr Heitmeyer, nach Krach in der Großen Koalition hat Innenminister Horst Seehofer (CSU) diese Woche noch einmal klargestellt, dass es „keine Rassismusstudie in der Polizei“ geben wird, wohl aber eine Untersuchung des Polizeialltags. Was halten Sie davon?
Entscheidend wird sein, ob ein seriöses Forschungsdesign allein nach wissenschaftlichen Standards entwickelt und extern begutachtet wird. [...]
Wie schlägt sich der Rechtsstaat im Kampf gegen Rechtsextremismus außerhalb der eigenen Reihen?
Ich sehe dort partielle Blindheit bis hin zu Staatsversagen. Letzteres betrifft etwa den Verfassungsschutz, jedenfalls bis zur Ablösung von Hans-Georg Maaßen. [...]
Der Fokus Ihrer Arbeit liegt seit vielen Jahren auf der Beschäftigung mit Rechtsextremismus. Was ist denn bitte mit dem Linksextremismus?
Die sogenannte Hufeisentheorie, wonach sich Links- und Rechtsextremismus im Grunde nicht unterscheiden, teile ich überhaupt nicht. Gewalt bleibt natürlich Gewalt, sie ist immer zerstörerisch. Aber sowohl die Ziele als auch die Quantität von Links- und Rechtsextremismus haben ganz andere Dimensionen, auch was das Eindringen in die Sicherheitsinstitutionen angeht. Ich habe noch nie davon gehört, dass es linksextreme Kameradschaften oder Chatgruppen bei Polizei und Bundeswehr gibt. Das sind dramatische Unterschiede. (Sebastian Leber, Tagesspiegel)
Machen wir uns mal eines klar: Man wird keine Lehrerchatgruppen finden, in denen zur Unterstützung der Antifa aufgerufen wird. Es wird auch keine Linksextremistenchatgruppen bei Polizei oder Bundeswehr geben. Das liegt nicht daran, dass Linksextremismus nicht existiert oder harmlos wäre (far from it), sondern daran, dass er institutionell nicht verankert ist. Das ist es, was den Rechtsextremismus gefährlicher macht (im Moment), und was ihn besonders gefährlich macht, wenn er in Polizei und Bundeswehr auftritt, völlig unabhängig davon, ob er das in gesellschaftlich repräsentativem Umfang tut.
Ich habe aber kein grundsätzliches Problem damit, wenn jetzt eine grundlegende Studie zum "Polizeialltag" kommt, gerne auch mit Gewalt gegen PolizistInnen. Es sollte schließlich unzweifelhaft sein, dass die BeamtInnen gerade von LinksextremistInnen durchaus angegriffen werden. Wenn das der Kuhhandel ist, der Seehofer die Gesichtswahrung erlaubt, von mir aus. Ich verstehe zwar diesen bürgerlichen Impuls nicht, Nazis schützen zu wollen, aber man muss wohl damit leben. Die LINKE schützt ja auch ständig die LinksextremistInnen im Autonomen Block. Also Augen zu und durch, gescheite Studie gemacht, ein paar mal rituell "beide Seiten" gesagt und hoffentlich um einige Erkenntnisse reicher.
8) Republicans are thrilled to lose
As far as I can tell the mood is more or less the same this year. Faced with the possibility of losing both the White House and possibly even the Senate in a year in which Democrats are also expected to consolidate control of the House as well, Republicans have resigned themselves to a half decade or so of opposition. Many of them are relieved at the thought of not even having to pretend to govern as members of a minority party — better yet, in the case of those who expect to lose their seats, at the not very remote possibility of a well-remunerated position with a lobbying or consulting firm. This seems to me the only possible explanation for the GOP's refusal to pass a second relief bill before the election. Some refreshingly honest liberal observers have called Nancy Pelosi a fool for even entertaining the possibility of such a deal. But she is a wily old fox. She understands that even at the best of times the GOP is reluctant to allow such uninviting prospects as winning elections to interfere with their libertarian economic principles. When things look hopeless and it appears that they have nothing to gain except the gratitude of millions of Americans, they will shrug, like that guy in the Ayn Rand book. You have to admire their dedication here. Giving people four-figure checks on the eve of an election? This is a wheeze so obviously beneficial to the candidate who is able to take credit for it that I find myself wondering why every incumbent president in modern American history has not attempted something like it. The fact that Republicans would rather sit back under the pretense that they are holding out for — let me check my notes — COVID liability protection for businesses, tells you everything you need to know. They want to lose. (Matthew Walter, The Week)
Nein, sie wollen nicht verlieren, die These ist Quatsch. "Opposition ist Mist", der wohl berühmteste Satz von Franz Müntefering, hat auch die für die Neo-Faschisten in der GOP Gültigkeit. Es ist nur, dass ihnen bestimmte Dinge wichtiger sind als zu gewinnen, und dazu gehört die Umsetzung ihrer unglaublich unpopulären Politik - denn die ist es, die den wahren Preis öffnet, die einträchtigen Jobs nach der eigenen Karriere.
Ebenfalls noch einmal unterstreichen sei Walters Lob von Nancy Pelosi. Man kann über diese Grande Dame der Demokratischen Politik sagen was man will, aber sie ist unbestreitbar extrem kompetent in dem, was sie tut. Ist sie eine moderate Verhinderin allzu progressiven Wandels? Sicherlich. Ist sie in der Wählerschaft ungefähr so beliebt wie der Fußpilz von Hillary Clinton? Unzweifelhaft. Aber dasselbe gilt für Mitch McConnell, und dessen Effektivität sollte auch außer Zweifel stehen. KritikerInnen des demokratischen Establishments sollten sich lieber an Chuck Schumer abarbeiten als an Nancy Pelosi. Die Frau hat's drauf.
9) Tweet
Mir ist unbegreiflich, wie studierte und offensichtlich intelligente Menschen es regelmäßig schaffen, sich selbst zu radikalisieren und solchen kompletten Bockmist von sich zu geben. Politische Äußerungen von WissenschaftlerInnen sind immer problematisch, weil sie qua Fach - mit Ausnahme einiger Geisteswissenschaften - praktisch keine Kenntnis von den Mechanismen von Politik mitbringen. Ich bewundere deshalb Christian Drosten auch so sehr; er weiß um seine Grenzen und zieht eine klare Trennlinie zur Politik, in die er sich nicht einmischt. Es wäre wünschenswert, wenn andere dieselbe Selbsterkenntnis und Selbstbescheidung besäßen wie er.
10) Macht Schluss mit dem Menschenversuch!
"Die Menschen wollen das - wir machen das", kommentierte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Er kündigte an, dass im Jahr 2019 die Uhren letztmalig umgestellt würden; es blieb ein Wunschtraum. Nun gibt es gewiss wichtigere Themen, um die sich die EU kümmern soll, von der Corona-Abwehr über den Klimaschutz bis zur europäischen Marsmission. Doch wo soll die Kraft für solche Jahrhundertaufgaben herkommen, wenn es nicht mal fürs Verlegen der Uhrzeit reicht? [...] Wer in Brüssel danach fragt, woran es scheitert, bekommt im Prinzip dieselbe Antwort wie in der Flüchtlings-, Agrar- oder Außenpolitik: Alle Staaten müssten mitmachen, sonst gehe nichts. Man müsse "Zeitinseln und Friktionen im Binnenmarkt vermeiden", schrieb die Bundesregierung, was schon insofern Quatsch ist, als es in der EU von den Azoren bis Estland vier Zeitzonen gibt, ohne dass der Binnenmarkt zusammengebrochen wäre. Ich glaube, dass sich am Uhrknall der EU zeigt, woran sie im Großen leidet: an Selbstlähmung, Bürgerferne und der Arroganz von Sozialingenieuren, die nicht einsehen, wann ihre Menschenversuche gescheitert sind. (Alexander Neubacher, SpiegelOnline)
Wo wir, siehe Fundstück 9, gerade beim Nicht-Verstehen von politischen Mechanismen sind: Nein, "Sozialingenieure" sind nicht das Problem. Das Problem sind schlicht politische Mechanismen. Es sind ja nicht die Erfinder der Sommerzeit, die unbedingt ihre Beibehaltung fordern. Die leben auch alle nicht mehr; der Mist wurde als Kriegsmaßnahme 1916 eingeführt! Nein, es ist schlichtweg der natürliche Konservatismus aller Politik. Wie ich nicht müde werde, meinen SchülerInnen zu erklären: Der natürliche Zustand jedes politischen Systems ist die Stasis. Jede Veränderung innerhalb eines politischen Systems ist anstrengend. Wer auch immer den Status Quo behalten will hat es immer leichter als der, der ihn ändern möchte. Und die Zeitumstellung ist einfach kein Thema, das Leute dazu bringt, politisches Kapital zu investieren. Das ist das Ganze Hexenwerk. Dazu brauche ich keine hinter den Kulissen Einfluss ausübenden "Sozialingenieure".
11) Wer radikalisiert, verliert
Die Grünen sind auf dem Weg, mit der Bundestagswahl 2021 offiziell eine von zwei führenden politischen Kräften der liberaldemokratischen Mitte in Deutschland zu werden. [...] Was uns zu den 31 Kilometern der Autobahn 49 im schwarz-grün regierten Hessen bringt, die eine Bundesregierung vor Jahren beschlossen hat. Es ist der Job von Aktivistinnen, symbolpolitisch zu dramatisieren. Es ist auch richtig, dass diese Transformation von wertvollem Mischwald in Straße symbolisch dafür steht, dass wir im Moment alles tun, um das Pariser Klimaabkommen auf keinen Fall einzuhalten. Es ist nicht richtig, dass sich hier die Mobilitätswende entscheidet oder gar die Zukunft. Strategisch gesehen besteht die Idee von Fridays for Future und ihren Spindoktoren darin, die Grünen für den Straßenbau verantwortlich zu machen und dadurch zu „radikalerer“ Klimapolitik zu bringen. Das gipfelt häufig in dem 08/15-Ressentiment, es sei inhaltlich egal, ob die CDU oder die Grünen regierten. Siehe Hessen. Siehe Kretschmann. [...] Mir erschließt sich die Logik nicht, durch exklusiven Druck auf die klimapolitisch noch ambitionierteste Partei alle dazu zu bringen, 1,5 Grad-Politik anzubieten, wie es ja das Ziel von Fridays ist. Warum sollte das Vorführen der Grünen die CDU oder SPD läutern oder deren Wähler umdenken lassen? Wie sollten sich verlorene Stimmen für „Klimalisten“ nach der Wahl positiv auf einen ökologisch geprägten Koalitionsvertrag auswirken? [...] Falls die Klimapolitikbewegung aber nur sich selbst radikalisiert, wird auch sie im elitären Nirvana routinierter Berufsbesserwisser enden. Dann verlieren alle. (Peter Unfried, taz)
Einmal mehr im Interesse der ideologischen Nachbarschaft: Ja, Unfried hat völlig Recht. Radikalisierung ist, trotz der Dringlichkeit der Lage, nicht hilfreich. Fridays For Future kann mit seinen Anliegen nur mit, nicht gegen die Grünen erfolgreich sein. Noch jede Aktivistenbewegung war mit der Zögerlichkeit und Moderierung des ihr nächstliegenden parlamentarischen Arms frustriert, ob das die BürgerrechtlerInnen der 1960er Jahre mit den progressiven Parteien waren oder die Reaktionären mit den konservativen Parteien. Jedes Mal, wenn sie diese als ihre Hauptgegner ausmachen, verlieren sie. Es profitiert IMMER der jeweilige Gegner. Wenden sich die KlimaaktivistInnen vorrangig gegen die Grünen, werden Parteien siegen, deren Politik mit Sicherheit noch schlimmer ist als die grüne Konsenssoße.
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