Montag, 2. November 2020

Polnische Islamisten diskutieren wissenschaftliche Prophezeiungen am Klavierspiel der Bundesärztekammer - Vermischtes 02.11.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ein Bildungsminister mit gepflegten Feindbildern

Der neue Minister, 42 Jahre jung und habilitierter Juradozent, hat keinerlei Ausbildung oder Erfahrung in Bildungsbereich - aber dafür feste moralische Ansichten. Frauen hätten "die Funktion der Schaffung des heimischen Kaminfeuers" und die Aufgabe, viele Kinder zu gebären. Neomarxisten und Feministen versuchten polnischen Frauen zu erzählen, dass sie arbeiten und studieren und erst später Kinder bekommen könnten. Die würden dann das erste Kind, wenn überhaupt, nicht mit 20, sondern erst mit 30 gebären. "Das sind die Konsequenzen, wenn der Frau erklärt wird, dass sie nicht das tun muss, wozu sie der Herrgott bestimmt hat", klagte Czarnek in der Katholischen Universität Lublin. Zehntausende jetzt gegen das Abtreibungsverbot protestierende Polinnen tat der Minister als "linksradikale Revolutionärinnen" ab, für die es in Polen "keinen Platz geben kann". Auch von der Aufnahme muslimischer Flüchtlinge in Europa, von Rechten Schwuler und Lesben oder Diskussionen über dunkle Kapitel der polnischen Geschichte hält Czarnek nichts, wie er regelmäßig verlautbaren lässt: Moslems wollten die "Dechristianisierung Europas" betreiben. Bürgermeistern der Region Lublin, die ihre Städte zur LGBT-freien Zone erklärten, gratulierte er ausdrücklich. Im Fernsehen TVP Info erklärte Czarnek Mitte Juni, Polen müsse sich "vor der Ideologie LGBT verteidigen und aufhören, diesen Idiotien über gewisse Menschenrechte oder Gleichheiten zuzuhören. Diese Leute sind nicht gleichrangig mit normalen Menschen". [...] Den Kampf soll nun Czarnek führen. Nötig sei, auch mithilfe neuer Gesetze, ein Abschied von der "Diktatur linksliberaler Inhalte" und von politischer Korrektheit, die Polens Schülern und Studenten schadeten, sagte der neue Minister. Stattdessen sollen junge Polen lernen, "was die Polen sind, und worauf sie stolz sein können". Als Erstes sollen "alle Lehrbücher, vor allem in Polnisch, Geschichte und Gesellschaftskunde" geprüft und notfalls polnisch-patriotisch umgeschrieben werden. (Florian Hassel, Süddeutsche Zeitung)

Es ist so unglaublich beschämend, dass die EU im Umgang mit Polens zunehmend extremistischer Regierung nicht zu Potte kommt. Dass Leute wie Czarnek eine Regierung ein einer Föderation liberaldemokratischer Staaten mit leiten können, ohne dass das ein offizieller Widerspruch gegen die Verfassung jener Föderation ist, ist grotesk. Mir sind natürlich die politischen Hürden hier ebenso geläufig wie den meisten anderen, aber die Kommission ist derart zögerlich, gerade im Vergleich mit dem einmal mehr als Leuchtfeuer von Liberalismus und Demokratie erscheinenden Parlament, dass man echt weinen möchte.

Übrigens, als Wort an meine eher liberalkonservativen Freunde, was wir hier in Polen sehen können, das ist Cancel Culture. Hier werden Inhalte zensiert, werden Existenzen aus politisch-ideologischen Gründen von Staats wegen vernichtet. Nicht, weil mal wieder ein Shitstorm durch Twitter fegt. This is the real deal. Aber stattdessen werden offene Briefe unterzeichnet, weil jemand einen transphoben Kommentar kritisiert hat.

2) Der Islamismus hasst alles, was Linken heilig ist

Hat Kevin Kühnert recht? Ist der Islamismus der blinde Fleck der Linken? Gibt es "in linken Weltbildern 'richtige' und 'falsche' Opfer und Täter", wie er nach dem islamistischen Mord an Samuel Paty schrieb? Viele Linke würden diese Unterstellung empört von sich weisen. Gerade deshalb ist es dem Juso-Chef hoch anzurechnen, dass er dieses unpopuläre Thema anreißt. Nach dem islamistischen Terroranschlag von Nizza gewinnt sein Text noch mal an Aktualität. Und damit es klar ist: Nicht nur Linke haben mit dem Islamismus ein Problem. Sondern auch Liberale wie ich: Globalisten, die Einwanderung und Multikulturalismus befürworten, Nationalismus und Rassismus ablehnen. Internationalistische Linke und Liberale sind natürliche Verbündete, wenn es um die Abwehr nativistischer oder identitärer Positionen geht. Und beide haben ein Problem, weil der Islamismus – eine ebenfalls globalistische, aber reaktionäre Ideologie – den Nativisten und Identitären scheinbar recht gibt. Um es auf die emotionale Ebene herunterzubrechen: Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle atmete ich auf, als klar wurde, dass der Täter ein Rechtsextremer war und kein Moslem. Eine beschämende Reaktion, aber ich müsste mich sehr irren, stünde ich mit dieser Erleichterung allein da. [...] Die europäische Linke muss ihren naiven Antiimperialismus ebenso ablegen wie den naiven Glauben, der benachteiligte sei automatisch der bessere Mensch. Beide Haltungen wurzeln übrigens in einem romantischen Paternalismus, der mit dem europäischen Kolonialismus mehr gemein hat als Linken – und Liberalen – lieb sein dürfte. (Alan Posener, ZEIT)

Gut, dass sich auch Liberale zu Wort melden. Nachdem ich meine eigene Reflexion zu Kühnert und Lobo gegeben habe, ist es schön zu sehen dass nicht nur lauter Zustimmung zu dieser Selbstkritik kommt - leider allzu oft mit sehr viel Häme und dem Versuch, politisches Heu damit zu dreschen - sondern diese Kritik auch als Anlass genommen wird, selbst zu reflektieren, auch wenn man weder links noch Islamist ist. Und hier hat Alan Posener als Welt-Kolumnist (der bezeichnenderweise das hier in der ZEIT veröffentlicht) eine Schlüsselrolle inne. 

Seine Feststellung, dass in dieser Frage Liberale und Linke Seite an Seite stehen und Grundwerte teilen, die es zu verteidigen gilt, ist nämlich absolut korrekt. Ohne gleich den nächsten selbstgeißelnden Kommentar zu schreiben, aber ein weiterer blinder Fleck vieler Linker ist es, über all die Konflikte, die wir mit den Liberalen über ihre Haltungen zu vielen bestimmenden Themen unserer Zeit - Stichworte Soziale Gerechtigkeit, Klimawandel, etc. - haben, die Gemeinsamkeiten zu vergessen. Ein Bekenntnis zu Pluralismus, zu Offenheit, zu Demokratie und Internationalismus verbindet diese beiden Richtungen eigentlich. Leider gerät das allzu oft in Vergessenheit, was in den Strukturen der parlamentarischen Vertretungen beider Richtungen begründet sein dürfte. 

3) Democracy Is Alive and Well in America—Without Court Packing or New States

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