Dienstag, 23. Januar 2007

Das Elend des neurobiologischen Determinismus

Ein Gastbeitrag von Hans-Peter Büttner

Im Folgenden werde ich die besonders von dem Neurobiologen Gerhard Roth und dem Physiologen Wolfgang Singer vertretene und erfolgreich medial verbreitete Auffassung, es gäbe keinen „freien Willen“ weil das menschliche Bewußtsein durch rein naturwissenschaftlich beschreibbare „Verschaltungen“ der neuronalen Organisationsstruktur determiniert sei, einer kritischen Prüfung unterziehen. Vom Aufbau her werde ich zuerst die Position dieser zwei Hirnforscher darstellen und dann meine Kritik an den naturwissenschaftlichen, experimentellen, soziologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Theorien formulieren. Um meinen Text nicht zu lang werden zu lassen verlinke ich viele Detailaspekte, so daß sich der interessierte Leser dann dort genauer informieren kann.


1. Die Positionen des neurobiologischen Determinismus
Prinzipiell sind Positionen, welche den Menschen als durch objektive göttliche oder natürliche Gesetzmäßigkeiten bestimmt sehen nichts neues. Naturwissenschaftlich-deterministische Positionen haben schon Autoren wie Paul Thiry d’Holbach im 19. Jahrhundert formuliert. Ausgangspunkt dieses frühen, naturwissenschaftlich fundieren Determinismus war die Annahme, daß in letzter Instanz die universelle Geltung der Newtonschen Mechanik auch vor dem Menschen und seiner (in seinem physischen, den Naturgesetzen unterworfenen Leib verorteten) Willensfreiheit nicht halt macht. Mit der modernen Quantentheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation hat die Idee einer umfassend determinierten Natur allerdings ihre naturwissenschaftliche Grundlage verloren[1]. Eine Reihe von Hirnforschern, allen voran in Deutschland der Neurobiologe Gerhard Roth und der Physiologe Wolfgang Singer, vertreten nun die Auffassung, daß sich die Ergebnisse der neueren Hirnforschung nicht mit der Existenz eines „freien Willens“ vereinbaren lassen. Was „freier Wille“ eigentlich konkret bedeuten soll bleibt allerdings immer wieder unklar bei den Kritikern. Als sinnvolles Kriterium schlage ich deshalb die Definition des Physikers und Philosophen Wolfgang Pohl vor, der schreibt:

Einen freien Willen zu besitzen, würde bedeuten, daß man sich anders entscheiden könnte, als man sich tatsächlich entscheidet, d.h. daß es für unsere tatsächlichen Entscheidungen Alternativen gäbe“[2].

Aus neurodeterministischer Sicht freilich entscheidet nicht „man“ oder irgend ein „Ich“, sondern ein durch seine physische Struktur determiniertes Gehirn, das „durch biologische Vorgänge determiniert“ (Roth) ist. Wer glaubt, seine Entscheidungen selber zu treffen unterliegt nur der Täuschung, seine Entscheidung sei durch seinen freien Willen zustande gekommen. Vor jedem bewußten Wollen und Tun hat das Gehirn als durch seine neuronale Struktur determiniertes Zentrum dem Ich (als evolutionär erworbener „Illusion“) bereits den Handlungsbefehl geliefert. Das Ich kann dann bestenfalls noch Gründe anführen, weshalb die strukturell determinierte Entscheidung des Gehirns auch seine eigene ist bzw. in der „freien“ Tätigkeit des sich nicht materiell gebunden fühlenden Ichs wurzelt. Das Ich ist aber bereits „festgelegt durch Verschaltungen“, so Wolfgang Singer. Bereits in der Überschrift eines FAZ-Artikels vom 8. Januar 2004 gibt Wolfgang Singer die Stoßrichtung seiner Forschungen an: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden“.
Die logischen und wissenschaftstheoretischen Probleme von Roth/Singer, diese Thesen auch überzeugend zu begründen, sind allerdings gewaltig und führen bei genauer Prüfung m.E. zu der Erkenntnis, daß keine der Thesen von Roth/Singer haltbar ist. Es scheint, daß beide durch persönliche „Verschaltungen“ sehr determiniert sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit.


Wikipedia-Links zur Position der Neurodeterministen Roth und Singer:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Roth_(Biologe)
http://de.wikipedia.org/wiki/Wolf_Singer
Interviews mit Roth/Singer:
http://www.morgenwelt.de/wissenschaft/9902-roth.htm
http://www.comedweb.de/DE/page.php?pageID=119
http://www.sueddeutsche.de/wissen/artikel/113/74039/
http://www.zeit.de/2005/29/N-Singer_2fPrinz?page=all
Das „Manifest“ der 11 Neurodeterministen:
http://www.gehirnundgeist.de/blatt/det_gg_manifest

Eine sehr gute Linksammlung zum Thema gibt es hier:

http://sprache-werner.info/index.php?id=1955


2. Kritik der deterministischen Interpretation der Neuro-Experimente
1. Die wissenschaftlichen Experimente, mittels deren die Ideen des neurobiologischen Determinismus begründet werden sollen haben ihren Ursprung im berühmten „Libet-Experiment“. Hier ließ der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet bei Versuchspersonen, die angehalten waren zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt den Finger zuheben, Gehirnströme messen und verglich den zeitlichen Einsatz der neuronalen Aktivität mit dem Bewußtwerden der Entscheidung, die der Proband sich mit dem Blick auf eine Uhr merken sollte. Diese zu messenden Gehirnströme laufen unbewußt ab und bauen sog. „Bereitschaftspotentiale“ oder „außenkorrelierte Potentiale“ auf, die im Zusammenhang mit vorzunehmenden Handlungen stehen. Im Ergebnis fielen der Einsatz der neuronalen Aktivität (also der „Aufbau des Bereitschaftspotentials“) und das Bewußtwerden der Handlungsentscheidung auseinander: Zuerst wurde neuronale Aktivität gemessen und dann kam das Bewußtsein erst ins Spiel. Es wurde daraufhin von einigen Neurologen und Physiologen gefolgert, daß bewußte Entscheidungen nur neuronal determinierten, unbewußt verlaufenden Entscheidungsprozesses kausal nachgeordnet sind. Wolf Singer hat dies auf die Formel gebracht: „Wir tun nicht was wollen, sondern wir wollen was wir tun“.

Der Philosoph Herbert Schnädelbach hat die diese Aussage in all ihrer Absurdität in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau genüßlich zerpflückt:

„Was ist das für eine Alternative?
Wollen und Tun sind nicht zwei Handlungen, die in der einen oder anderen Ordnung des Vorher-Nachher stehen könnten, sondern was wir mit ‚Wollen’ meinen, ist eine Art und Weise etwas zu tun – nämlich willentlich, das heißt im Modus eines überlegten Strebens, und wenn wir etwas wollen, ohne es zu tun, dann haben wir es nicht wirklich gewollt, sondern etwas anderes, nämlich lieber nichts zu tun“[3].

Weil der bewußte Wille von bewußtlosen neuronalen „Verschaltungen“ abhängt und diese wiederum auch bei Tieren anzutreffen sind (wenn auch sehr viel weniger komplex), sind auch Analogieschlüsse vom Tier zum Menschen beliebt bei Neurodeterministen. Der Reduktionismus freilich endet hier noch nicht, denn Tiere wie Menschen sind ja allgemein den Naturgesetzen unterworfen, und da in der Natur (wir vergessen nun für einen Moment die Quantenphysik und die Chaostheorie) alles kausal-deterministisch abläuft, ist der menschliche „freie“ Wille in letzter Instanz unmöglich, denn er würde auf einen Bruch mit den Naturgesetzen hinauslaufen. Der Pappkamerad, den sich die Neurodeterministen beständig aufbauen ist also das Cartesianische „Ich“, das quasi immateriell von außen den Körper (der den Naturgesetzen unterworfen ist) steuert.
2. Die Libet-Experimente freilich wurden selbst schnell bemängelt, denn neben quantitativen Unschärfen war die Entscheidungssituation der Versuchspersonen viel zu eng und somit irrelevant für komplexe Entscheidungssituationen. Den Probanden konnte es vollkommen egal sein wann sie den Knopf drücken, die Entscheidungssituation selbst war also so konstruiert, daß bewußte Entscheidungen gar nicht nötig waren. Auch ist es fragwürdig, die Äußerung der Bewußtwerdung mit der Bewußtwerdung selbst gleichzusetzen. Benjamin Libet selbst hat sich interessanterweise gegen die deterministische Interpretation seiner Experimente gewandt, denn in einem Folgeexperiment ermittelte er eine „Veto-Funktion des Willens“, die trotz eines neuronalen Bereitschaftspotentials bis etwa 50ms vor der Muskelaktivierung noch intervenieren kann. Nach dieser Version kann man sich also das bewußte Ich nun im dauernden „Zweikampf“ mit dem neuronalen „Bereitschaftspotential“ vorstellen, und der Kampf ist dann 50 ms vor der Handlung zugunsten des einen oder des anderen entschieden.
3. Noch abstruser wurde die experimentelle Lage dann als Patrick Haggard und Martin Eimer 1999 die Libet-Experimente in abgewandelter Form wiederholten. Nun wurde als Handlungsalternative die Möglichkeit eingeführt, die linke oder die rechte Hand zu bewegen. Ferner wurde von Haggard und Eimer nicht das symmetrische Bereitschaftspotential gemessen wie bei Libet, sondern das lateralisierte Bereitschaftspotential. Das bedeutet, nun wurde das Bereitschaftspotential jeder Hirnhälfte gesondert gemessen - womit das Bereitschaftspotential zur Bewegung der linken Hand differenzierbar wird von dem Bereitschaftspotential, das die rechte Hand aktiviert. Das Ergebnis wurde nun noch seltsamer: Bei 25 Prozent der Versuchspersonen lag der bewußte Handlungswunsch vor dem neuronalen Bereitschaftspotential, bei den anderen danach. Im Durchschnitt aller Messungen lag deshalb wie bei Libets erstem Experiment noch die neuronale Aktivität vor der Äußerung der Bewußtwerdung – womit aber immer noch nicht erklärt ist, welche Naturgesetze für die abweichenden 25 Prozent gelten.
4. Die experimentelle Situation der Libetschen und anderer Experimente wie der von Haggard/Eimer oder Keller/Heckhausen ist also überhaupt nicht geeignet, irgend welche Aussagen zum „freien Willen“ zu ermöglichen, denn
a) die Situation ist vollkommen unterkomplex und mißt nicht bewußte Entscheidungen (diese werden im Vorfeld zur Teilnahme am Experiment getroffen), sondern indifferente Entscheidungen zur Handbewegung (zu allem Übel läßt sich das Bereitschaftspotential selbst auch noch durch kognitive Prozesse beeinflussen, wie Trevena und Miller 2002 herausgefunden haben[4]. H.-L. Kröber, Professor für Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der FU Berlin hat deshalb im Hinblick auf die Neuro-Experimente darauf verwiesen,
„dass es gar keine rationalen oder emotionalen Entscheidungsgründe“ gab für die Bewegung des einen Arms oder des anderen um den Knopf zu drücken.

„Menschen fungierten hier als Zufallsgenerator, und es ist gut vorstellbar, daß wir uns für die Seite entscheiden, die zuerst zuckt. Es gibt nicht die geringste Ähnlichkeit dieses Experiments und dieser Art von Entscheidung mit emotional und rational hochaufgeladenen Entscheidungen, wie sie vielfach Gegenstand der forensischen Psychiatrie sind“[5].

b) die Meßprobleme sind erheblich und führen zu vollkommen unsinnigen Ergebnissen. Besonders die neueren Untersuchungen führen im Einzelfall zu ausgesprochenen Abstrusitäten. Bei Haggard und Eimer lag bei 2 von 8 Personen der Handlungswille vor dem „Bereitschaftspotential“. Und es wird noch besser:

„Bei Keller und Heckhausen finden sich Werte zwischen 362 Millisekunden vor und 806 Millisekunden nach der Bewegung; ebenso gaben bei Trevena und Miller 40 % der Versuchspersonen einen Zeitpunkt an, der nach der Ausführung der Bewegung lag“[6].

Die Annahme eines Kausalzusammenhangs läßt sich also nicht aufrecht erhalten, außer für eine Reihe von Fällen wird diese Bedingung einfach fallen gelassen.
c) die Annahme, daß sich das „Bereitschaftspotential“ im Widerspruch zum bewußten „freien Willen“ befindet, ist nicht belegt. Ansgar Beckermann von der Universität Bielefeld hat beispielsweise darauf hin gewiesen, daß die Annahme einer Trennung von „Person“ und „Gehirn“ keineswegs zwingend ist. Wenn die „Person“ mit dem „Gehirn“ als dem Organ, über welches sich das „Ich“ der Person realisiert identisch ist, sind die neuronalen Prozesse der Gehirns ihre persönlichen Entscheidungsprozesse. Lediglich die naturalistische Perspektive, die zwischen Beobachter-Standpunkt (messen von Hirnaktivität) und Subjekt-Standpunkt (Aktivität der integren Person) keine Verbindung herstellen kann, führt zu diesem Dualismus.

„Die Hirnprozesse, die sich im symmetrischen Bereitschaftspotential zeigen, könnten also durchaus die (mentalen) Entscheidungsprozesse sein, die wir bei der Vorbereitung willentlicher Handlungen erwarten. Dieser Interpretation zufolge zeigen die Libet-Experimente bestenfalls, daß die Entscheidungsprozesse, die einer Handlung vorausgehen, nicht vollständig bewußt sind“[7].

Das Bereitschaftspotential wäre dann lediglich ein Element der Verlaufsform bewußter Entscheidungen und stünde nicht im Gegensatz oder in einem äußerlichen, kausalen Verhältnis zu ihnen. Es wäre lediglich ein Element des physisch meßbaren Entscheidungsverlaufes.
d) ist von Trevena und Miller (2002) aufgezeigt worden, daß auch die technisch-apparativen Umstände der Experimente höchst fragwürdig sind. So läßt sich bei EEG-Wellen ein Effekt beobachten, der als „Smearing-Artifact“ bekannt wurde. Hierbei geht es darum, „daß der Mittelwert, der sich über alle Durchgänge hinweg für das Bereitschaftspotential ergibt, im wesentlichen mit dem frühesten Wert zusammenfällt, der in einem der Durchgänge auftritt. Dadurch kann eine signifikante Vorverlegung zustande kommen“[8].
e) ist es ein Grundprinzip jeden Experimentierens, daß die Beobachtung den zu beobachtenden Vorgang selbst beeinflußt. „Dem Experiment ist immer die Beobachterposition eingeschrieben und somit ist ein experimenteller Beleg für Evolutionsbiologisches unzulässig“[9]. Wenn aber kulturelle Tatbestände in das Experiment hineinkommen und dann naturwissenschaftlich interpretiert werden, liegt ein methodischer Fehler vor.

„Naturwissenschaftliche Experimente gliedern ihr Beobachtungsfeld ab ovo aus der Lebenswelt des Beobachters aus, reduzieren ihren Gegenstand auf das Wiederholbare und Quantifizierbare und versachlichen den Experimentator selbst zur neutralen Beobachterinstanz. Die methodisch bewußte Herstellung derartig präparierter Weltausschnitte wird möglich erst aufgrund einer langen kulturellen Entwicklung […], so daß man sagen könnte, die ‚Natur’ der Naturwissenschaft ist ein Konstrukt und damit ein Kulturprodukt[10].


Dies deckt sich eigentlich mit der konstruktivistischen Philosophie, die zahlreiche Neurodeterministen vertreten, aber in Bezug auf sich selbst ausschließen (sh. Punkt 4 weiter unten zu den erkenntnistheoretischen Selbstwidersprüchen der Neurodeterministen). Bei Kulturphänomenen wie der experimentellen Situation der Neuroexperimente versagt der naturwissenschaftliche Anspruch vollends, denn „nur Naturphänomene (in der Quantenphysik gilt dies allerdings auch nicht!, d.A.), aber nicht Kulturphänomene lassen sich isolieren und abstrahieren“[11].

Zu den Neuro-Experimenten und ihrer Kritik:
http://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment
http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit/aktuell/libet.html
http://www.sgipt.org/gipt/allpsy/wollen/fw_tds04.htm
http://www.tapuak.de/tapuak.php?kat=3&seite=willensfreiheit
http://www.gkpn.de/mynarek_geist.pdf.


3. Kritik des neuro-physikalischen Reduktionismus
1. Für Roth/Singer muß eine „Wissenschaft vom Menschen“ genuin naturwissenschaftlich orientiert sein, denn „unsere Gehirne funktionieren nach deterministischen Naturgesetzen“[12] und auch Gerhard Roth zählt sich ausdrücklich „zu den Leuten, die Geist und Bewußtsein letztendlich als physikalische(!) Zustände verstehen“[13]. Wenn ein Mensch denkt, dann denkt für Wolf Singer „die Großhirnrinde“ bzw. „komplexe neuronale Netzwerke“. Dabei „rangeln“ die „neuronalen Erregungsmuster (...) um einen möglichst kohärenten (zusammenhängenden, in sich stimmigen) Zustand“[14]. Was hier „kohärent“ bedeutet und wer entscheidet, was „kohärent“ ist bleibt dabei völlig offen. Wichtig ist: „Der Umstand, daß sich dieser Prozeß an die Naturgesetze halten muß, bedingt, daß er selbst determiniert sein muß“[15]. Das menschliche Gehirn wird hier also in seiner subjektiven Dimension als „determiniert“ angesehen weil es den Naturgesetzen unterworfen ist. Was wir tun, ist durch das „Naturprodukt“ Gehirn stets bereits entschieden ohne daß wir uns dazu frei verhalten könnten:

„Alle diese Vorgaben legen fest, was von einem bestimmten Zustand aus als nächstes im Gehirn geschieht. Daß einige dieser Faktoren ins Bewußtsein dringen und wir unsere Entscheidungen als frei gewählt wahrnehmen, bedeutet nicht, daß die neuronalen Prozesse keinem deterministischen Mechanismus gehorchen“[16].

Für Singer ist deshalb ganz reduktionistisch klar: „Entweder sind Entscheidungen die Folge neuronaler Wechselwirkungen oder sie kommen auf naturwissenschaftlich nicht nachvollziehbare Weise zustande“[17]. Dabei ist auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht erheblich, er ist lediglich quantitativer Natur:

„Die Neuronen im Menschenhirn sind die gleichen wie in der Schnecke, die Kommunikationsmechanismen sind im Prinzip die gleichen und die evolutionäre Entwicklung hin zum Menschengehirn ist kontinuierlich. Es gibt keine ontologischen Sprünge“[18].

Somit ist das menschliche Gehirn lediglich ein etwas leistungsfähigeres tierisches(!) Gehirn, ein qualitativer Unterschied besteht nicht und Tierversuche sind nahezu uneingeschränkt aussagekräftig für menschliche Gehirne. Letztere haben sich für Singer „über Versuch, Irrtum und Auswahl an die Bedingungen, unter denen wir Menschen leben, angepaßt“[19], spielen also eine passive Rolle wie die Gehirne von Tieren. Daß Menschen die „Bedingungen, unter denen sie leben“ selbst herstellen und reflektieren (im Unterschied zum Tier) ist für den Neurodeterministen Singer nicht erheblich, denn aus physikalisch-deterministischer Sicht macht das auch keinen Unterschied.
2. Diese Argumentationsfigur ist nun voller fragwürdiger Prämissen und nicht beweisbarer Analogieschlüsse. Weil das menschliche Bewußtsein an die menschliche Physis und diese wiederum an die Naturgesetze gebunden ist heißt das keineswegs, daß Bewußtsein und „freier Wille“ determiniert seien durch (bewußtlose) Naturgesetze. Roth/Singer vertreten hier im Prinzip alte Vorstellungen eines mechanistischen Materialismus aus dem 19. Jahrhundert in neuem Gewand. Was sie dabei vollkommen übersehen ist erstens, daß die natürliche bzw. naturhafte („materielle“) Voraussetzung geistiger Tätigkeit selbstverständlich das Gehirn ist als das Organ geistiger Tätigkeit. Als Voraussetzung muß ihm aber keine kausal-deterministische Rolle im Verhältnis zum Bewußtsein zukommen, offensichtlich wird hier der alte, Cartesianische Dualismus nur neu aufgewärmt. Helmut Mayer bemerkt deshalb ganz richtig in der „Neuen Zürcher Zeitung“, daß für Gerhard Roth die Negation der Willensfreiheit

„zuletzt an der gar nicht selbstverständlichen Vorstellung hängt, ein für unser Handlungsverständnis relevanter freier Wille müßte gleichsam aus dem Gleis der vom Hirnforscher beobachtbaren Kausalitäten herausspringen, weil er andernfalls ja bereits von der Gehirnfunktion determiniert wäre“[20].

Der „freie Wille“ ist also bereits mit dieser Basisprämisse erledigt und könnte nur noch jenseits der „Naturgesetze“ (und damit auch aller meßbaren physikalischen Zustände) existieren. Weil die naturwissenschaftliche Methode solche Zustände aber gar nicht feststellen kann, gibt es den „freien Willen nicht. Im Gehirn nehmen die Naturgesetze aber zweitens eine bestimmte Organisationsform an, die gerade die materielle Basis für die Willensfreiheit zu liefern imstande ist. Das Verhältnis zwischen biologischem Organ und subjektivem Ich-Bewußtsein muß (und sollte) also nicht kausal verstanden werden (neuronale Aktivität determiniert Bewußtsein), sondern als Bedingungsverhältnis zwischen dem Bewußtsein und seiner organischen Verlaufsform. Mit Bezug auf Roth schreibt Feerk Huisken deshalb zurecht: „Roth verwechselt hier als Fan alles Meßbaren die Neuronenaktivität im Hirn, die die Voraussetzung für den geistigen Prozeß ist, mit seiner Ursache[21]. Roth/Singer übersehen also die alte philosophische Unterscheidung zwischen Form und Inhalt. Sie ignorieren auch drittens, daß das Gehirn in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst treten kann, daß ich also meinen eigenen Willen und meine „neuronalen Aktivitäten“ zum Gegenstand meines Denkens machen kann. Hier machen sich also über den mechanistischen Reduktionismus der Neurodeterministen hinaus Prinzipien der humanspezifischen Organisationsform geltend, die den klassischen, Descartschen Dualismus und Roth/Singers Neuauflage (die sich hier ins Verhältnis des „Ich“ als passivem, getäuschten Anhängsel zu seinem die Entscheidungen anhand seiner determinierten Struktur treffenden „Gehirn“ verlagert hat) transzendieren. Diese Ansätze sind auch gar nicht so neu wie die „Stufen des Organischen“ von Helmut Plessner oder Nicolai Hartmanns „Schichten“-Lehre. Bernd Ehlert hat diese Kritik in mehreren Publikationen zusammengefaßt und somit eine konsistente Alternative zum neuro-reduktionistischen Determinismus aufgezeigt. Ganz analog argumentieren die Kritiker des „Manifests zur Gehirnforschung“. Letztlich sind physikalische Zustände zwar auch Zustände, denen der menschliche Körper unterworfen ist, doch ist eine rein physikalische Beschreibung immer zu kurz gegriffen, denn die physikalischen Bestandteile des menschlichen Körpers bilden ein lebendiges System, dessen Dynamik und Potentialität nicht mit der Summe seiner physikalischen Bestandteile identisch ist. Das Ganze ist hier eben mehr als die Summe seiner Teile, denn die Teile bilden eine ganz eigene Organisationsstruktur mit neuen Eigenschaften. Für den Hirnforscher Christof Koch ist das menschliche Gehirn immerhin „das komplexeste Gebilde im bekannten Universum“[22]. Diese „Komplexität“ freilich zeigt sich nicht nur im materiellen Aufbau und dem „galaktischen Konzert“ der 500.000 Kilometer Nervenleitungen des Gehirns, sondern auch in dem, was dieses „Konzert“ erzeugt. Es muß nämlich viertens betont werden, daß der Versuch, subjektives Erleben in der objektivistischen Sprache der Naturwissenschaften zu beschreiben generell ein reduktionistisches Element enthält. Die von dem US-amerikanischen Philosophen Joseph Levine so genannte Theorie der „Erklärungslücke“ („Explanatory Gap“) zwischen objektiv beobachtbaren materiellen Prozessen und subjektiven Empfindungen thematisiert dieses erkenntnistheoretische Problem. Es zeigt sich darin, daß den neuronalen Aktivitäten zum einen kein Inhalt anzusehen ist und daß zum anderen Bewußtseinszustände eine eigene, subjektive Qualität besitzen, die an die subjektive Lebenstätigkeit des empfindenden Individuums (in seiner physischen Integrität) gebunden ist[23]. Die objektivierende Sprache der Neurowissenschaften verfehlt diese Ebene komplett, denn sie kennt nur die subjektlose Perspektive des „Beobachters“, nicht aber die subjektive Perspektive des „Beobachteten“. In der Philosophie ist diese Frage auch als „Qualia-Debatte“ Anlaß zu zahlreichen Kontroversen gewesen (sh zur „Qualia-Debatte“ die Links am Ende dieses Abschnitts).

3. Der neurobiologische Reduktionismus kann zu seinem eigentlichen Gegenstand, dem menschlichen Bewußtsein und Verhalten, das immer an die subjektive Erlebniswelt des lebendigen Organismus gebunden ist, kaum etwas mit Gewißheit aussagen. Die erkenntnistheoretische Außenperspektive des Neurodeterministen impliziert eine Reihe entsprechender epistemologischer Probleme, die der Reduktionismus stillschweigend unterschlägt. Reinhard Olivier, Hirnforscher der Universität Bonn, hat in seinem Aufsatz „Die Willensfreiheit aus der Sicht einer Theorie des Gehirns[24] die Erkenntnisprobleme des mechanistischen Reduktionismus erläutert:
a)Für Olivier ist klar, daß eine physiologische Messung am Gehirn bereits durch das Bewußtsein der Messung

eine nicht wirklich abzuschätzende Beeinflussung der Vorgänge impliziert, auch die Korrespondenz zwischen physiologischer und mentaler Aktivität ist zu wenig erforscht und greifbar, um auf diesem Umweg eine präzise und ‚objektive’ Beobachtung der mentalen Vorgänge zu erreichen“[25] .

Weil also die Beobachtung (und somit auch ein Neuro-Experiment) bereits in den Zustand des Gehirns eingreift „und ihn in einer nicht kontrollierbaren Weise verändert“, begründet Olivier eine erste Unschärferelation des Gehirns:


Der psychologische und der physiologische Zustand des Gehirns ist nicht gleichzeitig definierbar[26].


Diese Unschärfe ist erkenntnistheoretisch plausibel und ihre Konsequenzen auch:
Es ist nun klar, „daß eine Beschreibung auf der physiologischen Ebene sich nicht systematisch auf eine der psychischen übertragen läßt[27].
b)Anders als bei der Heisenbergschen Unschärferelation läßt sich zum Leidwesen der Neurodeterministen auch eine quantitative Formulierung der Unschärfe nicht leisten, bestenfalls eine nicht exakt spezifizierbare „Streuung in Bezug auf Ereignisfolgen“[28]. Da das Gehirn ein dynamisches und in Wechselwirkung mit der experimentellen Situation stehendes System ist (was auch eine Nichtwiederholbarkeit des Experiments impliziert!) ist die Erkenntnis zwingend, „daß eine strikte Kausalität nicht beobachtet werden kann[29]. Olivier folgert deshalb konsequent:
Es gibt keine strikte Kausalität in der Psyche[30].
Jede kausale Beobachtung ist (notwendigerweise) ungenau und greift bereits in den Zustand des Gehirns ein.
c)Als erkenntnistheoretisch versiertem Wissenschaftler ist für Olivier auch klar, daß das Gehirn aus zwei gänzlich unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen wird, nämlich aus der Endosicht (Erleben) und aus der Exosicht (Beobachten). Beide Perspektiven stellen „Zustände des Gehirns“ dar, allerdings aus unterschiedlicher und nie zur Deckung zu bringender Perspektive. Olivier formuliert deshalb eine zweite Unschärferelation des Gehirns:


Endo- und Exosicht eines Systems können nicht zugleich vollständig eingenommen werden[31].


In der Heisenbergschen Unschärferelation entspricht dieses Verhältnis dem von Impuls (Endosicht) zum Ort des Elementarteilchens (Exosicht).
Olivier erörtert auch weitere Probleme des Neurodeterminismus[32] wie das Ableseproblem („Welche im Gehirn ablaufenden Vorgänge dringen nach außen und finden so eine Übersetzung, und wie ist der Ableseprozeß zu beschreiben?“) und das Problem der Überlagerungen („die jeder für sich eine psychologische Bedeutung haben, nicht aber ihre theoretisch zu beschreibende Superposition“. Solche Zustände sind prinzipiell nicht ablesbar). Olivier leistet mit seiner Untersuchung m.E. insofern einen äußerst wichtigen Beitrag zur Debatte, als daß er die erkenntnistheoretischen Prämissen des neurobiologischen Determinismus strikt hinterfragt auf die Plausibilität ihres naturwissenschaftlich orientierten Forschungsprogramms hin.
4. Es ist nun offensichtlich, daß der mechanistische Reduktionismus zur Beschreibung des Gehirns als lebendigem Organ ungeeignet ist und selber nur reduktionistische Resultate hervorbringt, denen er dann vollkommen grundlos „Objektivität“ attestiert.
Das Gehirn als lebendiges Organ, das hier sowohl auf der Subjekt- wie auf der Objektseite auftaucht (als Subjekt sogar zwei mal, nämlich beim Beobachter und beim Beobachteten) fügt sich überhaupt nicht der „naturwissenschaftlichen Methode, und dies bereits selber aus naturwissenschaftlichen Gründen (sh. die Unschärferelationen Oliviers).
Eine wissenschaftlich seriöse Theorie bedarf deshalb neben neurologischer Forschung auch psychologischer Theorien, die das lebendige Subjekt in seiner subjektiven Lebenstätigkeit zum Gegenstand haben.

5. So sehr sich die Neurodeterministen auch abmühen, ihr Reduktionismus wird dann am offensichtlichsten, wenn sie „neuronale Korrelate“ und „menschliche Gattungstätigkeit“ (Karl Marx) doch wieder aufeinander beziehen müssen. Der Versuch, gesellschaftswissenschaftliche Reflexionen durch Allgemeinbegriffe wie „Umwelteinflüsse“ zu umgehen, führt zu Formulierungen wie diesen:


„Insbesondere wird eine vollständige Beschreibung des individuellen Gehirns und damit eine Vorhersage über das Verhalten einer bestimmten Person nur höchst eingeschränkt gelingen. Denn einzelne Gehirne organisieren sich aufgrund genetischer Unterschiede und nicht reproduzierbarer Prägungsvorgänge durch Umwelteinflüsse selbst“[33].


In den Sozialwissenschaften ist aber eben nicht einfach nur von „Umwelt“ die Rede, sondern von „Gesellschaft“, denn das menschliche Verhältnis zur Umwelt besteht weniger im „Anpassen“ – wie Wolf Singer reduktionistisch und indifferent schreibt – als vielmehr im „Aneignen“ und in der planmäßig-kooperativen Bearbeitung[34]. Wenn aber die neuronale Organisationsstruktur wesentlich durch die historisch-gesellschaftliche Interaktions- und Produktionstätigkeit sich vergesellschaftender Individuen getragen wird, wenn also der Begriff der „Umwelt“ bereits implizit einen (von den Neurodeterministen nicht reflektierten) Anteil bewußter und kooperativer Interaktion enthält, ist der Prägungsvorgang des menschlichen Gehirns ein vollkommen artspezifischer (nicht bei Tieren anzutreffender), der direkt auf die historischen Gesellschaftswissenschaften bzw. Arbeiten zur menschlichen Ontogenese (wie sie Beispielsweise Klaus Holzkamp verfaßt hat[35]) verweist. Diese Erkenntnis wird ohne die daraus folgenden Auswirkungen auf das theoretische Gebäude auch immer wieder ausgesprochen. So weiß auch Wolf Singer, daß die „Voraussetzungen für die kulturelle Evolution“ neuronal bedingt sind, aber „durch Erziehung und kulturelle Prägung wiederum zur Verfeinerung von Hirnfunktionen führte“[36]: Offenbar wird hier aber zwischen der neuronalen Struktur (in der sich Kultur „niederschlägt“) und der über Interaktion sich vergesellschaftender Individuen entstehenden „Kultur“ unterschieden, denn sonst macht Singers Formulierung keinen Sinn und würde nur aussagen, daß Gehirne Gehirne prägen. Das würde aber noch völlig offen lassen, wie und unter welchen wechselseitigen Voraussetzungen und Bedingungen dies geschieht. So weiß Singer auch, „daß unsere Erfahrungen die physischen Hirnstrukturen verändern, und zwar nachhaltig“[37]. Die spezifische Struktur der erfahrenen Welt, die beim Menschen eben eine über gesellschaftliche Arbeit und symbolisch vermittelte Kommunikation konstituierte Welt wird, ignoriert Singer. Ihm sind Natur- und Kulturgegenstände letztlich „Gegenstände“ oder „Umwelt“ gleicher Art.
Zur Kritik des „Manifests“ der 11 Neurodeterministen:
http://sprache-werner.info/index.php?id=2084

Bernd Ehlers Lösung des Leib-Seele-Determinismus:
http://www.aurora-magazin.at/wissenschaft/phil_ehlert_frm.htm
http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/aktuelles/schichtenlehre.htm
Andere Kritiker des deterministischen Reduktionismus:
http://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/wille2_v2.pdf
http://www.fhuisken.de/roth.htm
http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/14.11.2004/1477636.asp
http://www.sprache-werner.info/index.php?id=2045&PHPSESSID=3b4c64a22b1651ca7b615e85e85cbf3e

Zur „Qualia“-Debatte:

http://de.wikipedia.org/wiki/Qualia

http://www.information-philosophie.de/philosophie/qualia.html

http://www.hanjoheyer.de/Qualia.html

http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/philosophie/siebert-carsten/HTML/siebert.html



4. Kritik der logischen Selbstwidersprüche
Ein sehr interessanter Punkt sind nun die eklatanten Selbstwidersprüche, in die sich Roth, Singer und Co beständig verstricken und von denen jeder einzelne eigentlich reichen würde, diese Theorie ad absurdum zu führen. Ich werde jeden der 5 von mir identifizierten Selbstwidersprüche als eigenen Punkt abhandeln.
1) Andrea Reichenberger[38] weist darauf hin, daß die Singersche Rede, daß dem Begriff „Willensfreiheit“ in der objektivistischen Terminologie der Neurowissenschaften keine Bedeutung zukommen kann eigentlich implizieren müßte, daß Singer folglich das Thema anderen überläßt und sich dazu nicht (als Neurodeterminist bzw. „Naturwissenschaftler“) äußert. Sein Forschungsinteresse naturwissenschaftlicher Ablaufprozesse impliziert ja bereits vor jedem Forschungsergebnis, daß es keinen „freien Willen“ geben kann, ist also zirkulär, tautologisch und thematisiert, was im Rahmen seines Forschungsprogramms (nach seiner eigenen Aussage) gar nicht thematisiert werden kann (sh. dazu auch oben Punkt 3.2).
2) Den „freien Willen“ freilich müssen auch die Neurodeterministen selbst immer wieder in Anspruch nehmen bzw. voraussetzen. So wehrt sich Wolf Singer gegen die These, wenn alles Verhalten determiniert sei müßten wir uns fatalistisch mit allem abfinden, mit der Aussage: „Natürlich gibt es Entscheidungen, die wir nicht tolerieren können. Und wir wissen auch, wie wir diese beeinflussen können: Indem wir andere Attraktorräume aufspannen, indem wir belohnen, bestrafen, bedrohen, argumentieren“[39]. Diese Aussage mach definitiv keinen Sinn, wenn das „Aufspannen von Attraktorräumen“, das „Belohnen, Bestrafen, Bedrohen und Argumentieren“ nicht aus einer Situation (relativer) Willensfreiheit heraus geschieht. Wenn diese Willensäußerungen ebenfalls determiniert sind, können sie nicht kausal auf „Attraktorräume“ einwirken, sondern werden von diesen bereits kausal bestimmt. Sofern wir aber bewußt durch „Argumentieren“ oder „Belohnen“ usw. unsere „Attraktorräume“ zum Gegenstand unseres (nicht bereits von diesen determinierten) Willens machen können, ist das Konzept der Determination des Willens durch die „Attraktorräume“ bereits aufgehoben bzw. kausal umgekehrt. Der „Attraktorraum“ wird dann selbst zum Gegenstand einer freien Willensäußerung[40].
3) Freerk Huisken hat aufgezeigt, zu welch absurden Ergebnissen man kommt, wenn man die Ergebnisse des neurobiologischen Determinismus auf die Person des Deterministen selbst anwendet. Mit Bezug auf Gerhard Roth und seine innere Spaltung in ein (strukturell determiniertes) „Gehirn“ und eine (von der neuronalen Organisation des Gehirns determinierte) „Person“ sieht das Ergebnis dann so aus:

„Es war gar nicht G. Roth, der in seinem Studium auf theoretische Probleme und offene Fragen gestoßen ist, sondern sein Hirn hat ihn diese Gedanken denken lassen. Und es war und ist gleichfalls nicht G. Roth, der ein Institut aufgebaut hat, Bücher schreibt und Vorträge hält, etwa weil er meint, der Welt etwas Wichtiges mitteilen zu müssen, sondern auch hier hat das Gehirn ihn aus ‚innerem Antrieb’ dazu gebracht, all dies zu tun und zu denken. Und Roths Bewußtsein von seinem Tun, seine Gründe für es, jede seiner Begründungen für ein neues Forschungsprojekt stellen nur die Einbildung von autonom begründetem Tun dar. In Wirklichkeit, weiß Roth, treibt ihn irgendeine Synapsenverbindung. Das macht dem Forscher Roth merkwürdigerweise keine Kopfzerbrechen. Müßte ein Mensch nicht an sich selbst irre werden, wenn es sich ständig sagen muß, das, was ich tue, ist nie das, was ich tue. Ich mag mir zwar einbilden, bestimmte Gründe für mein Tun zu besitzen, doch in Wirklichkeit treibt mich ein mir fremdes, ‚unzugängliches Konstruktionsprinzip’ meines Gehirns“[41].

Der Neurodeterminist ist also laut seiner eigenen Theorie bereits durch seine neuronale Struktur determiniert, kann also nicht „frei“ oder „unbefangen“ forschen, sondern erkennt nur, was seine Synapsenverbindungen ihm deterministisch vorschreiben. Jedes seiner Argumente ist also nur eine nachträgliche Rechtfertigung für seinen neurologisch determinieren Drang, seine deterministische Theorie zu behaupten. Das Ergebnis ist folglich für Gerhard Roth bzw. sein Gehirn niederschmetternd:

„Besteht Roth darauf, daß seine Behauptung stimmt, also Wissen, Erkenntnis ist, dann hätte er sie gar nicht ermitteln können, weil die Behauptung die theoretische Unzugänglichkeit ihres eigenen Gegenstands einschließt. Wendet man dagegen den Inhalt von Roths Behauptung auf sie selber an, dann handelt es sich bei ihr schlicht um bloß eingebildete Geistesleistungen, die in Wirklichkeit irgend etwas ganz anderes sind, was man aber nicht weiß. Dann aber kann sind die ‚geistigen Leistungen’ nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind“[42].

Bei Anwendung seiner Theorie auf sich selbst verstrickt sich der Neurodeterminist also in unauflösbare Selbstwidersprüche, denn dann ist seine Theorie selbst das Ergebnis seines determinierten Gehirns und nicht freier, wissenschaftlich objektiver Forschung (die er allerdings in Anspruch nehmen muß, damit sein Ergebnis plausibel ist).
4) Gerhard Roth ist als „Radikaler Konstruktivist“ ein Spezialist für eklatante Selbstwidersprüche, er lebt sie sozusagen wo es nur geht und kostet sie voll aus. „Grundlegend geht der radikale Konstruktivismus davon aus, daß all unser Wissen über die Welt durch unser Gehirn aus Sinneswahrnehmungen konstruiert und daß eine objektive Erkenntnis nicht möglich sei“, so die kurze Zusammenfassung des „Radikalen Konstruktivismus“ auf „wikipedia“[43]. Dies ist auch Roths Position. So antwortet er in einem Interview auf die Frage: „Die Schlußfolgerung lautet dann, daß es keine real-existierende Wirklichkeit?“ mit „Richtig“[44]. Andererseits wußte Gerhard Roth noch 5 Sätze vorher, daß „das Gehirn ständig mit seiner Umwelt in Kontakt ist“. Offenbar ist die „Umwelt“ etwas anders als die „real-existierende Wirklichkeit“ und „das Gehirn“ (nicht der Mensch!) mit einer „nicht-realen“ Umwelt in Kontakt. Was das bedeuten soll, weiß allein Gerhard Roths Gehirn. Das Problem ist auch hier, daß Roth zur Untermauerung seines radikal-konstruktivistischen Solipsismus (der eine objektiv existierende Außenwelt leugnet und nur von Gehirnen „konstruierte“ Wirklichkeiten kennt) mit diesem erkenntnistheoretisch total unvereinbare, objektive „Beweise“ anführen muß (nämlich die Ergebnisse seiner Hirnforschung, denen er ja eine „reale Existenz“ bzw. einen objektiven Wahrheitsgehalt in Bezug auf ihre Forschungsergebnisse und ihre Forschungsgegenstände unterstellen muß). Stimmt das Beweisverfahren, dann stimmt das Ergebnis nicht, stimmt aber das radikal-konstruktivistische Ergebnis, ist das (naturwissenschaftliche) Beweisverfahren falsch und unzulässig. Roths Versuche, diese unauflösbaren Selbstwidersprüche zu lösen sind eine unerschöpfliche Quelle an Heiterkeit und Realsatire, man lese den wikipedia-Artikel zu Gerhard Roth[45], die Punkte 2 und 3 zur Lehre Roths, seiner Aufspaltung des Gehirns in „wirkliches“ und „reales“ Gehirn und die Kritik an diesem logischen Selbstwiderspruch. Auch Wolf Singer vertritt übrigens implizit radikal-konstruktivistische Stanspunkt wenn er z.B. sagt:

„Unser Gehirn ist doch gar nicht daraufhin ausgelegt, das Absolute zu erfassen, sondern sich ganz pragmatisch mit Signalen auseinander zu setzen, die zum Überleben wichtig sind. So ein System ist sicher nicht dazu angetan, die Welt so zu erfassen, wie sie möglicherweise wirklich(!!!) ist[46].

Offenbar sind die Gehirne der Neurodeterministen hier die einzige Ausnahme, denn deren Aussagen sind nicht „zum Überleben wichtig“ (die Menschheit könnte auch ohne Roth und Singer überleben und Roth und Singer auch ohne ihre Theorien) und stellen gerade den Versuch dar, „die Welt“ (von der das Gehirn ja ein Bestanteil ist) „so zu erfassen wie wirklich ist“. Würde Singer seine eigene Aussage ernst nehmen könnte er sich seine Theorie schenken, denn dann wäre sein Gehirn nicht dazu in der Lage zu leisten, was es laut seiner Theorie nicht zu leisten imstande ist.
5) Die Neurodeterministen müssen in ihren Versuchen stets den Geistesinhalt, den sie dann neuronalen Aktivitäten zuordnen, vorher abfragen. In der Praxis wird die These, daß neuronale Aktivitäten die kausale Ursache für Bewußtseinzustände sind also stets umgedreht. Der „neuronale Code“ ist nämlich stumm und sagt nichts über seinen Inhalt – letzterer muß immer von der bewußt sich äußernden Person erfragt werden. Auch hier ist der Selbstwiderspruch Standard:


„Den Neuronenaktivitäten ist nämlich der Inhalt der Geistestätigkeit nicht anzusehen. Ohne eine derartige Rückversicherung ist ihnen nichts als der biologische Vorgang zu entnehmen. Doch wenn man nur dann weiß, welcher Gedanke oder welches Gefühl sich als eine bestimmte Neuronenfiguration ereignet, wenn man vorher und getrennt vom Meßvorgang die geistige Aktivität zur Kenntnis genommen hat, dann ist sie eben weder auf das Natürliche zu reduzieren noch ergibt sie sich aus ihm. Kein Neurobiologe weiß, welche geistige Aktivität sich als welche Neuronentätigkeit ereignet, wenn er nicht die geistige Aktivität für sich und vorher zur Kenntnis genommen hat. Und zur Kenntnis nehmen muß er sie als die Wirklichkeit des Geistes, wüßte er doch sonst gar nicht, wofür der Neuronenkomplex steht. Um seine Theorie zu beweisen, muß Roth also voraussetzen, das sie nicht stimmt: Er muß das bewußte geistige Handeln zunächst für sich registrieren, wenn er anschließend dessen neuronales Abbild als die Wirklichkeit des Geistes messen will“[47].


Links zu den Selbstwidersprüchen der Neurodeterministen:
http://www.fhuisken.de/roth.htm
http://www.fhuisken.de/rthesen.htm

http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Roth_(Biologe)
http://www.gkpn.de/mynarek_geist.pdf

http://www.gkpn.de/pohl_wf.pdf



[1] Zur Frage der Relevanz der Quantenmechanik und der Chaostheorie für die Hirnforsch sh. Peter Kügler (2002): Quantentheorie, Bewußtsein und Willensfreiheit. Im Internet verlinkt unter: http://www.aurora-magazin.at/wissenschaft/phil_kuegler.htm.

[2] Wolf Pohl (2006): Zum Problem der Willensfreiheit. Aus: Aufklärung und Kritik Nr. 2/2006, S. 63. Im Internet verlinkt unter: http://www.gkpn.de/pohl_wf.pdf.

[3] Herbert Schnädelbach: Drei Gehirne und die Willensfreiheit. Pseudoerklärungen im Gewand der Wissenschaft. Aus: Frankfurter Rundschau vom 25.05.2004: Forum Humanwissenschaft.

[4] "Cortical Movement Preparation before and after a Conscious Decision to Move." Aus: Consciousness and Cognition 11, S. 162-190.

[5] H.-L- Kröber (2003): Limbisches System – ein moralischer Limbus? Aus: FAZ vom 11.11.2003.

[6] Michael Pauen (2005): Die Libet-Experimente. Im Internet verlinkt unter: http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit/aktuell/libet.html

[7] Ebd.

[8] Ebd.

[9] Andreas Below (2006): Hirnforschung und persönliche Freiheit . Im Internet verlinkt unter: http://www.tapuak.de/tapuak.php?kat=3&seite=willensfreiheit)

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Interview mit Wolf Singer (2006) in der Süddeutschen Zeitung vom 25.04.2006. Im Internet verlinkt unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/artikel/113/74039/.

[13] Interview mit Gerhard Roth in der „Morgenwelt“ Nr. 2/1999: http://www.morgenwelt.de/wissenschaft/9902-roth.htm.

[14] Wolf Singer (2006).

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Streitgespräch mit Julian Nida-Rümelin in der Frankfurt Rundschau vom 3. April 2004. Im Internet verlinkt unter: Dies ist die HTML- http://www.nida-ruemelin.de/docs/fr_singer.pdf.

[18] Wolf Singer (2006).

[19] Ebd.

[20] Hemut Mayer (2001): Marionetten unserer selbst. Aus: Neue Zürcher Zeitung vom 09.10.2001. Im Internet verlinkt unter: http://www-x.nzz.ch/format/articles/440.html.

[21] Freerk Huisken (1997): Thesen zu Gerhard Roth. Im Internet verlinkt unter: http://www.fhuisken.de/rthesen.htm.

[22] FAZ vom 20.02.04, S. 37.

[23] Der Philosoph Peter Kügler (2002) formuliert diesen Umstand so: „Da die Subjektivität, der phänomenale Gehalt des Bewußtseins, also immer mehr Informationen enthält als eine rein physikalische Beschreibung des Gehirns enthalten könnte, kann diese physikalische Beschreibung allein die Existenz und Beschaffenheit des Bewußtseins nicht erklären“.

[24] Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 5/2005.

[25] Ebd., S. 723.

[26] Ebd., S. 724.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 725.

[30] Ebd.

[31] Ebd., S. 726.

[32] Ebd., S. 728 ff.

[33] „Das Manifest“ der 11 Neurowissenschaftler. Im Internet verlinkt unter: http://www.gehirnundgeist.de/blatt/det_gg_manifest.

[34] Zur Differenz zwischen „Anpassung“ und „Aneignung“ sh. beispielsweise Klaus Holzkamp (1973): Sinnliche Erkenntnis, S. 188 ff. oder die „Deutsche Ideologie“ von Karl Marx und Friedrich Engels in MEW 3, S. 67 ff.

[35] Klaus Holzkamp (1983): Grundlegung der Psychologie.

[36] Wolf Singer (2006).

[37] Wolf Singer im Streitgespräch mit dem Philosophen Thomas Metzinger. Im Internet verlinkt unter: http://www.wissenschaft-online.de/artikel/605362

[38] Andera Reichenberger (2003): Neurophysiologen dem Willen auf der Spur?“, aus: Aufklärung und Kritik Nr. 1/2003, S. 180.

[39] Sh. Fußnote 17.

[40] Wolf Pohl (2006, S. 64) hat diesen Sachverhalt auf die Formel gebracht, daß „nicht nur das Unbewußte in unsere bewußten mentalen Prozesse hineinwirkt, sondern umgekehrt programmiert auch das Bewußtsein das Unbewußte“.

[41] Freerk Huisken (2006): Zur Kritik Bremer "Hirnforschung". Im Internet verlinkt unter: http://www.fhuisken.de/roth.htm.

[42] Ebd.

[44] Interview mit Gerhard Roth auf: http://www.comedweb.de/DE/page.php?pageID=119.

[46] Wolf Singer (2006).

[47] Freerk Huisken (2006).


Hans-Peter Büttner, geboren 1968 und wohnhaft am Bodensee, beschäftigt sich, wenn er nicht gerade liest, Softball oder Gitarre spielt gerne mit der politischen Ökonomie, der Erkenntnistheorie und der kritischen Gesellschaftstheorie. Sein Motto: "Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." (Theodor W. Adorno). Er schreibt im Politikforum unter dem Nick Van Morrison.

2 Kommentare:

  1. Wer hat denn bitte die Zeit das alles zu lesen? Irre?

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  2. Einen absolut unbeeinflussten freien Willen gibt es prinzipiell wegen der (selbst oder fremd-) Manipulierbarkeit des Gehirns nicht, er ist nur eine nützliche Fiktion. Milliarden werden offensichtlich damit verdient und Millionen Menschen zu absurden Handlungen verführt, diese Argumente "erschlagen" alle anderen Argumente.
    Die Pohlsche Definition bedeutet nur dass sich einige Menschen willkürliches Handeln „leisten" können und manche aus strategischen Gründen absichtlich gegensätzlich handeln um weniger „berechenbar" und weniger ausbeutbar zu sein. Dieser „Algorithmus“ dürfte Frauen ins Hirn „eingebrannt" sein und macht sie gelegentlich unberechenbar.

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