Mittwoch, 31. Januar 2007

Was ist falsch am Neoliberalismus?

Was ist falsch am Neoliberalismus?

Inhalt und Ergebnisse der „Cambridge-Cambridge-Kontroverse“


Ein Gastbeitrag von Hans-Peter Büttner

Die herrschende neoklassische Wirtschaftstheorie – als theoretisches Paradigma wird sie „Neoklassik“ genannt, in der politischen Praxis einfach „Neoliberalismus“ - arbeitet im Bereich der Verteilungstheorie wesentlich mit Grenzproduktivitäten, z.B. im Gegensatz zur Marxschen Werttheorie oder Sraffas Neoricardianismus. Jedem Produktionsfaktor (das sind in der Regel „Kapital“ und „Arbeit“) wird also ein marginaler Beitrag zur Produktion des Endproduktes zugeordnet. Laut Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung wird im Wettbewerbsgleichgewicht jeder „Produktionsfaktor“ gemäß seinem Grenzprodukt entlohnt. Der Arbeitslohn entspricht so dem „Grenzprodukt der Arbeit“ und der Kapitalprofit dem „Grenzprodukt des Kapitals“. Das Problem hierbei ist, daß die Grenzproduktivitäts-Theorie rein produktionstechnisch angelegt ist, daß aber bei ihrer Überführung auf die monetäre Preisebene unauflösbare Anomalien auftreten, die das ganze Konzept zum Zusammenbruch bringen. In der „Cambridge-Cambridge-Kontroverse“ der sechziger Jahre wurde dieser schwere Defekt der neoklassischen Preis- und Verteilungstheorie von einer Gruppe angelsächsischer Ökonomen, die der Schule des Cambridge-Ökonomen Piero Sraffa zuzurechnen sind, ins Zentrum ihrer Kritik gestellt. In der Folge dieser Debatte wurden im Prinzip alle bis heute relevanten Argumente vorgebracht und die Niederlage selbst von Seiten der Verteidiger der Neoklassik eingestanden. Praktisch durchgesetzt hat sich die Erkenntnis der logischen Widerlegung der Neoklassik bis heute freilich nicht, auch wenn die gängigen Verteidigungsstrategien zwischen Ignoranz und offenem Irrationalismus anzusiedeln sind.

1. In der neoklassischen Standardtheorie (welche für die neoliberalen Konzepte zentral ist) wird der Arbeitsmarkt wie jeder andere Markt behandelt. Das Angebot von Arbeit (durch die Haushalte) steigt mit dem Lohnsatz in der bekannten Kurvenform an (sh. Abb. 1), während die Nachfrage nach Arbeit (durch die Unternehmen) mit steigendem Lohnsatz abnimmt. Die Haushalte haben als Alternative zur Arbeit Freizeit (welche mit sinkendem Lohnsatz natürlich attraktiver wird), die Unternehmen haben „Kapital“ als produktionstechnische Alternative (deshalb steigt die „Kapitalintensität“ mit sinkendem Zinssatz und steigenden Löhnen). Betrachten wir kurz die graphische Darstellung des neoklassischen Arbeitsmarktes in Abbildung 1:

Die Arbeits-Angebotskurve (AA) trifft sich mit der Arbeits-Nachfragekurve (AN) im Gleichgewichtspunkt Ag, dem das Lohnniveau wr0 entspricht. Der Arbeitsmarkt funktioniert in der Neoklassik also vollkommen analog zum Bohnen- oder Schweinemarkt oder jedem anderen[1]. Wird nun der Preis der Ware Arbeitskraft z.B. durch einen Mindestlohn auf wr1 erhöht, ergibt sich nach neoklassischer Vorstellung Arbeitslosigkeit durch die Differenz zwischen wr1 und wr0, denn es entsteht eine Angebots-Nachfrage-Schere zwischen A1 und A3. Die Differenz zwischen beiden markiert dann die Arbeitslosigkeit. Zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit müsste hingegen der Lohnsatz auf w0 sinken, so daß im Idealpunkt A2 ein markträumender Gleichgewichtslohn allen arbeitswilligen Menschen Arbeit garantiert.

2. Wenn wir nun die Arbeits-Angebotsfunktion betrachten können wir leicht feststellen, daß die neoklassische Idealkurve einige sehr restriktive Annahmen erhält. So wird im Prinzip unterstellt, daß die Arbeiter-Haushalte Arbeit nicht anbieten, weil sie notwendig darauf angewiesen sind, sondern weil sie die Arbeit ab einem bestimmten Lohnniveau einfach der Freizeit vorziehen. Ein Arbeitnehmer im unteren Lohnbereich wird aber sein Arbeits-Angebot ausweiten statt einschränken ab einem bestimmten Punkt, denn sonst gerät er in offene Existentnot. „Freizeit“ ist für „working poor“ eben ein delikates Gut, denn wer sehr wenig Geld für seine Arbeit bekommt, muß mehr Freizeit opfern um nicht in existentielle Nöte zu kommen. Umgekehrt kann ab einem bestimmten Lohn im obersten Bereich die Lust, noch mehr Freizeit für noch mehr Geld zu opfern, rapide abnehmen. Dies alles kann übrigens ganz einfach im Rahmen der neoklassischen Theorie formuliert werden, z.B. im Falle der oberen Lohngruppen mit der Abnahme der Grenznutzens des weiteren Lohnzuwachses. Im Falle der unteren Lohngruppen nimmt das „Grenzleid“ mit sinkendem Lohn zu und somit besteht Anreiz zur Ausweitung des Arbeitseinsatzes. Betrachten wir nun zur graphischen Darstellung dieser alternativen und realistischeren Arbeits-Angebotskurve Abbildung 2:


Die Arbeits-Nachfragekurve ist gleich wie in Abb. 1. Allerdings nimmt das Arbeits-Angebot nun aufgrund des Armutseffektes im unteren Lohnbereich zu. Im oberen Lohnbereich nimmt der Grenznutzen weiterer Einkommenszuwächse ab und der Grenznutzen der Freizeit zu, so daß hier das Arbeits-Angebot wieder reduziert wird. Bei gegebener Arbeits-Nachragekurve ergeben sich nun vier Berührungspunkte von Angebots- und Nachfragekurve und folglich vier Gleichgewichte. Beim Gleichgewicht mit maximaler Beschäftigung, Punkt A4, arbeiten sich die Arbeitnehmer für Hungerlöhne „zu Tode“, deshalb ist aus ihrer Sicht dieser Punkt sicherlich nicht sehr attraktiv. Der Mindestlohn verhindert allerdings ein solches Absinken, das sich bei umfassender Flexibilisierung vermutlich dem Punkt A4 annähern würde. Bei geringerer Arbeitszeit und Existenz eines Mindestlohnes in Höhe von wr2 könnte sich das Gleichgewicht z.B. in Punkt A3 einstellen. Um eine solche Gleichgewichtslösung zu erreichen muß allerdings in den Marktmechanismus interveniert und ein entsprechender Mindestlohn (einschl. entsprechender Arbeitszeitregelungen) vorgeschrieben werden.

3. Die Arbeits-Nachfragefunktion der Neoklassik ist nun ganz besonders ins Visier der Kritik geraten. Entsprechend der neoklassischen Modell-Annahmen muß eigentlich der Preis der Arbeit fallen, damit neue Anreize für Unternehmen bestehen, Arbeitsplätze zu schaffen (also den Produktionsfaktor „Kapital“ durch „Arbeit“ zu ersetzen). Deshalb gerät ja das allgemeine Lohnniveau beständig unter Druck und es werden niedrigere Löhne gefordert. Um eine solche Aussage treffen zu können, müssen Neoklassiker eine „aggregierte Produktionsfunktion“ konstruieren, denn die Arbeits-Nachfragefunktion muß mit der Kapital-Nachfragefunktion ins Verhältnis gesetzt werden. Hierzu muß man wissen, daß „Produktionsfunktionen“ normalerweise technische (also nicht preisförmige!) Beziehungen mikroökonomischer Natur darstellen, nämlich den Einsatz von Input-Gütern („Produktionsmitteln“) zur stofflich möglichst effizienten Produktion des Output. Die Input-Güter werden hierbei nicht monetär bewertet, es handelt sich um rein technisch-gebrauchswertförmige Relationen, z.B. den Einsatz von Mehl, Salz, Wasser und Hefe zur Produktion von Brot. Zur Behandlung makroökonomischer Fragen konstruiert die Neoklassik nun eine aggregierte Produktionsfunktion, welche das Nettoinlandsprodukt aus der Kombination der Inputfaktoren Kapital und Arbeit ausdrückt. Sie formuliert somit das Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit der gesamten Wirtschaft, das Produktionsvolumen sowie die Verteilung (zwischen Kapital und Arbeit). Sie funktioniert vollkommen analog zu mikroökonomischen Produktionsfunktionen, obwohl sie nun vor der Schwierigkeit steht, die heterogenen Güter auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (sonst müßten Mehl, Werkbänke, Rohöl etc. addiert werden zu einem physisch homogenen „Brei“). Dieser naive Schluß von der mikroökonomischen (produktionstechnischen, disaggregierten) Ebene auf die makroökonomische (preisförmig-aggregierte) sollte sich als fatal erweisen.
Es hat sich in Folge der „Cambridge-Cambridge-Debatte“ der sechziger Jahre gezeigt, daß die neoklassische Theorie für den Fall unhaltbar ist, daß mehrere Kapitalgüter berücksichtigt werden und somit der „Ein-Gut-Fall“ (Weizenökonomie) erweitert wird auf verschiedene Kapitalgüter. Der englische Cambridge-Ökonom Piero Sraffa hat mit seinem Buch „Warenproduktion mittels Waren“[2] die Grundlage für diese weitreichende Kritik der Neoklassik geschaffen. Ausformuliert haben diese Kritik direkt im Anschluß an seine Veröffentlichung seine Schüler - die sich nicht zweimal bitten ließen der Neoklassik das Fell über die Ohren zu ziehen. Allerdings war der entscheidende Punkt bereits sechs Jahre vor Sraffas Veröffentlichung seiner englischen Cambridge-Kollegin Joan Robinson aufgefallen[3] und 40 Jahre vor Robinson hat es bereits der Neoklassiker Wicksell entdeckt. Ihren Namen hat die Debatte nun dadurch erhalten, daß die Opponenten der englischen Cambridge-Ökonomen aus dem US-amerikanischen Cambridge/Massachusetts kamen, insbesondere Paul A. Samuelson.

Die Kritik fokussierte sich also auf folgenden Punkt: Um die Profitrate bzw. Kapitalverzinsung zu bestimmen müssen die heterogenen Güter, die den „Produktionsfaktor Kapital“ in seiner Gänze bilden aggregiert werden, denn sonst ist ein einheitlicher Maßstab zur Bewertung der Kapitalgüter nicht konstruierbar. Das Kapital muß also preisförmig bewertet werden und dies unabhängig vom Zins, da das preisförmig bewertete Kapital ja die Grundlage zur Bestimmung des Zinses liefern soll. Hier nun beißt sich die Katze in den Schwanz und das Problem wird unlösbar, denn der Wert des Kapitalstocks hängt von der Höhe des Zinssatzes ab und umgekehrt. Die technische Grenzproduktivität kann also in der Welt der Preise keine Aussagen mehr treffen, denn hier treten Wechselwirkungen auf, die der Natur der Preisform (die hier in Anspruch genommen werden muß) selbst entspringen. Zins und Kapitalstock sind aber bei preisförmiger Bewertung keine kausal aufeinander beziehbare Größen wie in der Weizenwelt, sondern sich wechselseitig bedingende und voraussetzende Größen. Rein praktisch bedeutet dies, daß z.B. eine Veränderung des Lohnniveaus nicht mehr der simplen, neoklassischen Kurvenform folgen muß, sondern ganz andere Effekte eintreten können. Da die unterschiedlichen Branchen nämlich unterschiedlich kapitalintensiv arbeiten, hat ein veränderter Lohn unterschiedliche Auswirkungen auf die unterschiedlichen Produktionsbereiche. Arbeitsintensive Bereiche sind anders betroffen als kapitalintensive. Es bildet sich bei er Lohnänderung also ein neues, relatives Preissystem heraus und somit ein neues Gleichgewicht. Dieses neue Gleichgewicht impliziert dann auch eine neue Bewertung der Kapitalgüter, eine neue Technikwahl und ein neues Beschäftigungsniveau. Diese neue Situation bedingt aber im Fortgang des Produktionsprozesses eine erneute Veränderung des Preissystems, die ein neues Gleichgewicht mit neuen Preisen, neuem Beschäftigungsvolumen, neuer Technikwahl impliziert etc. Folglich tritt in einer verflochtenen Volkswirtschaft, in der unterschiedliche Kapitalintensitäten und Möglichkeiten der Technikwahl bestehen ein gänzlich neues Gleichgewicht ein, das ein höheres oder niedrigeres Beschäftigungsniveau als das Ausgangs-Gleichgewicht haben kann. Der simple neoklassische Determinismus (Löhne runter, Beschäftigung rauf und umgekehrt) erweist sich als absolut abstruser Sonderfall, der nur in einer geldlosen Ein-Gut-Welt der Regelfall ist. Letztlich lief auch Samuelsons Rettungsversuch der neoklassischen Kapitaltheorie auf diese Lösung unter anderen Voraussetzungen hinaus: Er konstruierte eine „Surrogat-Produktionsfunktion“ mit einheitlicher Kapitalintensität in allen Branchen. Unter dieser Voraussetzung gilt natürlich die neoklassische Kapitaltheorie, denn dann sind gerade die Effekte, welche eine Verflechtung unterschiedlich kapitalintensiver Branchen nach sich zieht, per definitionem ausgeschlossen[4]. Plausibler wird die neoklassische Kapitaltheorie so freilich nicht, denn „die Annahme gleicher Kapitalintensität in allen Branchen läuft auf die gleiche Unterstellung hinaus wie die Annahme, daß in der gesamten Ökonomie nur ein Gut produziert wird“[5]. Das Desaster der Neoklassiker wurde noch größer, als Samuelsons Schüler Levhari versuchte, die Effekte der Technikwahl im Sinne der Neoklassik zu „entschärfen“, denn hier erwuchs ein weiteres Problem für den neoklassische Lohn-Zins-Zusammenhang. Levharis „Beweis“ erwies sich als komplett falsch und wurde von diesem dann frustriert zurückgezogen[6]. Mittels einer ganz immanenten, die Neoklassik an ihren eigenen Maßstäben und Ansprüchen messenden Kritik wurde also zweifelsfrei erwiesen:

Werden Kapitalgüter und Endprodukte in Preisen berechnet, kann die beschäftigungsintensive Zielrichtung einer Lohnveränderung in einer Welt mit beliebig vielen Kapitalgütern, unterschiedlicher Kapitalintensität der Branchen und intersektoreller Verflechtung nicht angegeben werden.

4. Wie bereits erwähnt hat die Debatte um die neoklassische Kapitaltheorie auch neue Erkenntnisse zur Frage der Technikwahl der Unternehmen zutage gefördert. Das hierbei erkannte Phänomen einer „Wiederkehr der Technik“ („Reswitching“) drückt die Möglichkeit aus, daß es zu einem im neoklassischen Idealmodell nicht vorgesehenem Technikwechsel kommen kann, „d.h. zu einer mit steigendem Zins-Lohn-Verhältnis steigenden Kapitalintensität. Es ist des weiteren möglich, daß ein und dieselbe Technik zur Erzeugung der verschiedenen Güter sich bei verschiedenen Zinsniveaus als kostenminimierend erweist, während bei einem dazwischen liegenden Niveau des Zinssatzes eine andere Technik optimal ist“[7]. Eine arbeitsintensive Technik kann also sowohl bei hohem als auch bei niedrigem Zinssatz auftauchen, womit der neoklassische Lohn-Zinssatz-Zusammenhang gründlich destruiert ist. Abbildung 3 zeigt den Zusammenhang graphisch auf:


Technik 1 beschreibt eine konkave Lohn-Zinssatz-Kurve, die sich in den Punkten w
r1/q’2 und wr2/q’1 mit der konvexen Lohn-Zinssatz-Kurve von Technik 2 schneidet. Technik 2 markiert dabei die einzige mit der Neoklassik vereinbare Kurvenform. Da aber eine konvexe Lohn-Zinssatz-Kurve (wie Technik 2) und somit lediglich ein Typus von Technik mit einer Kurvenform keineswegs zwingend vorausgesetzt werden muß, ist ein Wechsel zwischen zwei unterschiedlichen Techniken bei Veränderung des Preisniveaus keineswegs unplausibel. Technik 2 wird nun angewandt bei einem oberen Reallohnsatz bis wr2 (dem der Zinssatz q’1 entspricht). Liegt der Reallohn zwischen wr2 und wr1, dann wird die beschäftigungsintensivere Technik 1 eingesetzt. Unterhalb von Reallohnsatz wr1 (dem der Zinssatz q’2 entspricht) findet erneut ein Technikwechsel hin zu Technik 2 statt. Im Ergebnis bedeutet dies, daß der neoklassische Lohn-Zins-Zusammenhang keineswegs allgemeingültig sein muß. Bei einer „Wiederkehr der Technik“ bricht er zusammen. Empirisch konnte das „Reswitching“-Phänomen mittlerweile nachgewiesen werden, z.B. von dem Ökonomen Zonghie Han[8].

5. Somit bilanziert beispielsweise auch der Neoklassiker Fritz Söllner in seinem Standardwerk „Geschichte des ökonomischen Denkens“:


„Das zentrale Postulat der neoklassischen Produktionstheorie, daß nämlich eine Änderung der Faktorpreise auf eine eindeutige Weise mit einer Änderung des Faktoreinsatzverhältnisses verbunden ist, war damit widerlegt“. Schließlich kann es nach Söllner „selbst unter idealen neoklassischen Bedingungen zum ‚reswitching‘ kommen“[9] (ebd.).


Die eindeutigen Befunde Sraffas und seiner Schüler laufen nun zwangsläufig darauf hinaus, „daß sie die traditionelle neoklassische Bestimmung aller Preise und Mengen, einschließlich der Preise der ‚Produktionsfaktoren‘ und deren Beschäftigungsmengen, durch Angebot und Nachfrage in Frage stellen. Tatsächlich ist nicht sichergestellt, daß die Nachfragefunktionen nach ‚Kapital‘ bzw. ‚Arbeit‘ die üblicherweise unterstellen Eigenschaften aufweisen: eine mit steigendem Faktorpreis sinkende Nachfrage“[10].
Die unangenehmen Folgen der „Cambridge-Kontroverse“ sind für die Neoklassik also sehr tief gehend und vielfältig. Eberhard Feess-Dörr weist in seinem Lehrbuch „Mikroökonomie“ (1992) darauf hin, daß es in Folge der kapitaltheoretischen Kritik „nicht möglich ist, den Zinssatz als Grenzprodukt ‚des Kapitals‘ und den Lohnsatz als Grenzprodukt ‚der Arbeit‘ zu interpretieren[11], denn durch das „reswitching“ ist das inverse Verhältnis von Faktorpreisverhältnis zum Verhältnis der Grenzproduktivitäten der Faktoren hinfällig.
Auch die neoklassische Zinstheorie (der Zins als Knappheitspreis des „Produktionsfaktor Kapital“) ist erledigt, denn eine aggregierte Produktionsfunktion, welche die Ableitung des Grenzproduktes des Kapitals gestattet, ist nicht konstruierbar (sh. ebd.). Somit ist auch eine zentrale wohlfahrtstheoretische Aussage der Neoklassik zerstört, nämlich die, daß der Ausgleich der Faktorpreise mit den Grenzproduktivitäten eine Voraussetzung für eine pareto-optimale Verteilung der Ressourcen ist[12].
Was bleibt ist eine neoklassische Theorie in Trümmern, die von Herr und Heine in ihrem Lehrbuch „Volkswirtschaftslehre“ als „längst widerlegter Theoriestrang“[13] bezeichnet wird. Die Kritik der Sraffa-Schüler[14] war durchschlagend und mußte von den Vertretern der Neoklassik zähneknirschend und frustriert akzeptiert werden:
Nicht umsonst gestand Paul Anthony Samuelson für die Neoklassik die Niederlage ein[15] und schrieb:


"If all this causes headaches for those nostalgic for the old time parables of neoclassical writing, we must remind ourselves that scholars are not born to live an easy existence. We must respect, and appraise, the facts of life."

Versuche von Neoklassikern, das Desaster der Cambridge-Kontroverse herunterzuspielen gab es viele, doch sind die Ausbruchs-Versuche bisher ziemlich kläglich gescheitert oder muten sehr esoterisch an[16]. Wissenssoziologisch interessant ist hierbei die Tatsache, daß Samuelson bis heute aus der Widerlegung der neoklassischen Kapitaltheorie keine Konsequenzen gezogen hat und die Debatte in seinem renommierten Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre hartnäckig totschweigt[17]. Studenten der Volkswirtschaftslehre jedenfalls sollen mit so brisanten Informationen nicht unnötig „belastet“ werden auf ihrem Weg in den herrschenden Wissenschaftsbetrieb. Das Problem der Aggregation heterogener Kapitalgüter bleibt bestehen für die neoklassische Theorie, weshalb der US-Ökonom Edwin Burmeister sich veranlaßt sieht, der Ökonomenzunft ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis auszustellen:

“However, the damage had been done, and Cambridge, UK, 'declared victory': Levhari was wrong, Samuelson was wrong, Solow was wrong, MIT was wrong and therefore neoclassical economics was wrong. As a result there are some groups of economists who have abandoned neoclassical economics for their own refinements of classical economics. In the United States, on the other hand, mainstream economics goes on as if the controversy had never occurred. Macroeconomics textbooks discuss 'capital' as if it were a well-defined concept - which it is not, except in a very special one-capital-good world (or under other unrealistically restrictive conditions). The problems of heterogeneous capital goods have also been ignored in the 'rational expectations revolution' and in virtually all econometric work"[18].

Offenbar ist das Bedürfnis nach einer Rechtfertigungslehre des Kapitalismus so groß, daß wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur Kenntnis genommen werden dürfen – mit der Neoklassik wäre ja die Rechtfertigungslehre par excellence betroffen. So verwundert es auch nicht, wenn der „Sachverständigenrat“ in seinen Gutachten regelmäßig Grenzproduktivitäten berechnet und neoklassische Produktionsfunktionen unterstellt[19]. Wenn die Prognosen dann mal wieder an der Realität scheitern, kann sich die Verwunderung über das Desaster wenigstens in Grenzen halten.

Literatur: --Hans-Peter Büttner (2006): Marx versus Sraffa. Das „Transformationsproblem“ und die Widersprüche simultaner Wert-Preis-Rechnungen seit Bortkiewicz. In: Trend Online-Zeitschrift, Nr. 7-8/2006. Online einzusehen unter: http://www.trend.infopartisan.net/trd7806/t237806.html
--
Edwin Burmeister (2000): The Capital Theory Controversy. In: Critical Essays on Piero Sraffa's Legacy in Economics (edited by Heinz D. Kurz), Cambridge: Cambridge University Press. --Eberhard Feess-Dörr (1992): Mikroökonomie, v.a. S. 418 ff. (Feess stellt Sraffas Produktionspreismodell in dieser Schrift sehr gut allgemeinverständlich dar). --Zonghie Han (2003): "Paradoxa" in der Kapitaltheorie. Eine empirische Untersuchung der reverse-capital deepening- und Reswitching-Phänomene anhand der linearen Programmierung im Rahmen der Kapitalkontroverse. --Michael Heine/Hansjörg Herr (1999): Volkswirtschaftslehre, v.a. S. 234 ff. Paul A. Samuelson (1966): A summing p, in: Quarterly Journal of Economics, Band 80. --Heinz D. Kurz (2000): Stichwort „Cambridge-Kontroverse“, in: Lexikon Volkswirtschaft, Hg. Friedrich Geigant, 2000. –Camille Logeay (2002): Mit welchem Maßstab sind die jüngsten Lohnabschlüsse zu beurteilen? In: Wochenbericht des DIW Berlin 20/2002. Im Internet einzusehen unter: http://www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/wochenberichte/docs/02-30-1.html#FN5 --Karl Marx zit. nach MEW. --Bertram Schefold (1976): Nachworte. In: Piero Sraffa (1976).
--Fritz Söllner (2001): Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 102 ff. (der Autor ist selber Neoklassiker und widerspricht sich bei diesem delikaten Thema gründlich selber). --Piero Sraffa (1976): Warenproduktion mittels Waren Die Abbildungen 1 und 2 sind dem Lehrbuch von Herr/Heine direkt entnommen.

Internet-Links zur kapitaltheoretischen kontroverse:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalkontroverse

http://de.wikipedia.org/wiki/Reswitching

http://en.wikipedia.org/wiki/Cambridge_capital_controversy

http://www.hgdoe.de/pol/herr_03_03.htm

http://www.jungewelt.de/frameit.php?/2000/02-11/016.shtml

http://www.jungewelt.de/frameit.php?/2000/03-10/020.shtml


[1] Bereits in diesem Punkt ist die Neoklassik nicht mehr „klassisch“, denn in der klassischen Nationalökonomie Ricardos und Marxens wurde der Lohn noch als eine externe Variable behandelt, die der Preisbildung prinzipiell vorausgesetzt wird. Dies wird logisch damit begründet, daß der Lohn als Preis der „Ware Arbeitskraft“ an die lebendige Person des Lohnarbeiters gebunden ist, also eine „mit Bewußtsein ausgestattete Ware“. Daß die Preisbildung einer solchen „Ware“ ganz spezifische Bestimmungselemente beinhaltet im Unterschied zu jeder anderen Ware war der klassischen Nationalökonomie also wenigstens im Ansatz noch präsent. Bei Marx ist deshalb nicht umsonst von einem „historischen und moralischen Element“ (MEW 23, S. 185) der Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft die Rede.

[2] 1960 im engl. Orig. erschienen, 1968 in der DDR und 1976 bei Suhrkamp mit einem längeren Nachwort von Bertram Schefold.

[3] Joan Robinson (1953/54).

[4] Ganz besonders erstaunlich ist hierbei, daß unter dieser produktionstechnischen Voraussetzung auch die Marxsche Arbeitswerttheorie des ersten Bandes des „Kapital“ umfassend gilt, da bei gleicher organischer Zusammensetzung aller Kapitalien die Marxsche Wert-Preis-Rechnung (die sich aus der Existenz unterschiedlicher Kapitalintensitäten ergibt) überflüssig ist.

[5] Herr/Heine (1999), S. 241.

[6] Zu Levharis falschem Beweis sh. Bertram Schefold (1976), S. 174.

[7] Heinz D. Kurz (2000), S. 148.

[8] Zonghie Han (2003).

[9] Fritz Söllner (2001), S. 104.

[10] H.D. Kurz (2000), S. 148.

[11] Eberhard Feess-Dörr (1992), S. 427

[12] Sh. ebd.

[13] Herr/Heine (1999), S. 220.

[14] Diese Kritik hat sich in der Folge auch gegen die Marxsche Arbeitswerttheorie gerichtet und hier eine bis heute andauernde Debatte ausgelöst. Eine Gegenkritik aus Sicht der Marxschen Theorie habe ich kürzlich in meinem Aufsatz „Mars versus Sraffa“ (Büttner 2006) formuliert.

[15] Paul A. Samuelson (1966), S. 250.

[16] Sh. dazu H.D. Kurz (2000), S. 148.

[17] Sh. dazu Herr/Heine (1999), S. 252, Fußnote 15.

[18] Burmeister (2000), S. 310.

[19] Sh. z.B. das Jahresgutachten 1998/99. Im Wochenbericht des DIW Berlin (Camille Logeay 2002) löste dies Kopfschütteln aus: „Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 1998/99 eine Berechnung der Grenzproduktivität vorgelegt. Danach ergibt sich, dass der durchschnittliche Zuwachs der Grenzproduktivität in den 90er Jahren höher war als der der Durchschnittsproduktivität. Die vom Sachverständigenrat verwendete Methode ist jedoch fragwürdig. Sie gründet sich (…) auf eine sehr spezielle Produktionsfunktion, die in ihrer Schlichtheit kaum die komplexe Realität der Produktionsprozesse widerspiegelt“. Die Produktionsfunktion, welche der „Sachverständigenrat“ verwendete war selbstverständlich die neoklassisch-orthodoxe.

Hans-Peter Büttner, geboren 1968 und wohnhaft am Bodensee, beschäftigt sich, wenn er nicht gerade liest, Softball oder Gitarre spielt gerne mit der politischen Ökonomie, der Erkenntnistheorie und der kritischen Gesellschaftstheorie. Sein Motto: "Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." (Theodor W. Adorno). Er schreibt im Politikforum unter dem Nick Van Morrison.

3 Kommentare:

  1. Hallo Herr Büttner!

    Vielen Dank für die gute und prägnante Darstellung der Cambridge-Kontroverse. Ich hatte davon gehört, weil ich mich mal oberflächlich mit Joan Robinson beschäftigt habe. Besonders aus der Abbildung mit den 4 Arbeitsmarktgleichgewichten lassen sich interessante sozialpolitische Forderungen - z.B. nach geeigneten Rahmenbedingungen ableiten (also Mindestlöhne, Bildung).
    Über die wissensoziologische Seite habe ich mal ein paar Seiten verfaßt und bin so wie Sie der Meinung, dass die Neoklassik eine Rechtfertigungslehre ist (Vielleicht war das auch nie anders...). Interessant sind übrigens die Ideen von McArthur zur Pfadabhängigkeit. Es wäre interessant die Cambridge-Ergebnisse damit zu verknüpfen. (Siehe http://sozialliberal.wordpress.com/2007/01/20/vermachtung-pfadabhangigkeit-und-verwirklichungschancen/)

    Herzliche Grüße,

    Peter Schaefer

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  2. Vielleicht sollten die Ökonomen ihr Denken mal in eine andere Richtung lenken: http://www.meudalismus.dr-wo.de/

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